Im Krieg gegen unser Wesen

Alles am Menschen wäre eigentlich so angelegt, dass er im Einklang mit unserer Umgebung leben könnte. Leider ist unsere Spezies gerade daran, sich diesen Natur­bezug komplett abzugewöhnen.

Von Alan Lightman (Text), Stephan Pörtner (Übersetzung) und Nico Krijno (Bilder), 19.02.2022

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Vor kurzem traf ich den Astronomen Pascal Oesch, der Assistenz­professor an der Universität Genf ist. Professor Oesch und seine Kolleginnen gelten als die Entdecker des Objekts, das von der Erde am weitesten entfernt ist: einer kleinen Galaxie namens GN-z11. Diese Galaxie ist so weit weg von der Erde, dass ihr Licht 13 Milliarden Jahre gebraucht hat, um uns zu erreichen. Ich fragte Professor Oesch, ob er sich diesem winzigen Fleck auf seinem Computer­bildschirm persönlich verbunden fühlt. Empfindet er diesen blassen Klecks als Teil der Natur, wie Dichter wie Keats, Goethe und Emerson sie beschreiben?

Oesch erwiderte, er schaue sich jeden Tag solche weit entfernten Flecken an. Klar seien sie Teil des Universums. Doch man beachte die Abstraktion. Ein paar erschöpfte Licht­photonen von GN-z11, die auf einen photo­elektrischen Detektor an Bord eines Satelliten in der Erd­umlaufbahn fielen, erzeugten einen winzigen elektrischen Strom, der in Nullen und Einsen umgewandelt und mittels Radio­welle zur Erde gesendet wurde. Diese Information wurde dann in Daten­zentren in den US-Bundes­staaten New Mexico und Maryland verarbeitet und landete schliesslich auf dem Computer­bildschirm von Professor Oesch in Genf.

Heutzutage betrachten Astronomen den Himmel nur noch selten durch die Linse eines Teleskops. Sie sitzen am Bildschirm.

Das gilt nicht nur für Astronominnen. Viele von uns starren jeden Tag stunden­lang auf die Bildschirme unserer Fernseher, Computer und Smartphones. Wir gehen nur selten in einer klaren Nacht nach draussen, entfernen uns von den Lichtern der Stadt und betrachten den dunklen Sternen­himmel oder machen einen Spaziergang im Wald ohne unsere digitalen Geräte. Die meisten Minuten und Stunden des Tages verbringen wir in wohl­temperierten Strukturen aus Holz, Beton und Stahl. Die Technologie hat, bei all ihrem Erfolg, unsere unmittelbare Beziehung zur Natur stark beeinträchtigt.

Wir leben vermittelte Leben. Wir haben eine naturlose Welt geschaffen.

Das war nicht immer so. Während mehr als 99 Prozent der Menschheits­geschichte waren wir eng mit der Natur verbunden. Wir lebten im Freien. Das erste Haus mit Dach wurde erst vor etwa 5000 Jahren gebaut. Fernseher gibt es seit weniger als einem Jahr­hundert. Internet­fähige Mobil­telefone seit etwa 30 Jahren. Während fast der gesamten 2 Millionen Jahre der Evolutions­geschichte der Gattung Homo haben darwinistische Kräfte unser Gehirn so geformt, dass es die Verwandtschaft mit der Natur sucht, was der Biologe E. O. Wilson Biophilie nannte.

Diese Verwandtschaft hatte einen Überlebens­vorteil. Die Wahl des Lebens­raums, die Suche nach Nahrung, das Lesen der Anzeichen eines aufkommenden Sturms – all das hat eine tiefe Verbundenheit mit der Natur begünstigt. Sozial­psychologinnen haben dokumentiert, dass solche Sensibilitäten bis heute in unserer Psyche vorhanden sind.

Weitere psychologische und physiologische Studien haben gezeigt, dass sich das Glücks­gefühl und das Wohl­befinden verstärken, wenn man mehr Zeit in der Natur verbringt. Bleibt man der Natur hingegen fern, kann dies zu Stress und Ängsten führen. Es besteht also eine tiefe Diskrepanz zwischen der naturfernen Umgebung, die wir geschaffen haben, und den «natürlichen» Neigungen unseres Gehirns.

Wir basteln uns eine eigene Umwelt

Tatsächlich leben wir in zwei Welten: einer natur­verbundenen, die tief in den Gehirnen unserer Vorfahren verankert ist, und einer natur­fernen der digitalen Bildschirme – einer konstruierten Umwelt, die sich durch unsere Technologie und intellektuellen Errungenschaften gebildet hat. Wir sind im Krieg gegen unser ursprüngliches Wesen. Und die Kosten dieses Krieges werden erst jetzt spürbar.

Im Jahr 2004 entwickelten die Sozial­psychologen Stephan Mayer und Cynthia McPherson Frantz am Oberlin College im US-Bundesstaat Ohio die sogenannte Natur­verbundenheits­skala (Connectedness to Nature Scale). Dabei kann anhand von einer Reihe von Aussagen der Grad der Natur­verbundenheit einer Person ermittelt werden. Aufgrund der Bewertung von Aussagen mit «stimme überhaupt nicht zu», «stimme nicht zu», «neutral», «stimme zu» oder «stimme voll und ganz zu» wurde für alle Teilnehmerinnen eine Gesamt­punktzahl berechnet. Probanden müssen dabei Aussagen wie diese bewerten:

  • Ich habe oft das Gefühl, mit der natürlichen Welt um mich herum eins zu sein.

  • Ich betrachte die natürliche Welt als eine Gemeinschaft, zu der ich gehöre.

  • Wenn ich an mein Leben denke, stelle ich mir vor, dass ich Teil eines grösseren zyklischen Lebens­prozesses bin.

  • Ich habe das Gefühl, dass ich zur Erde gehöre, genauso wie sie zu mir gehört.

  • Ich glaube, dass alle Lebewesen auf der Erde – menschliche und nicht menschliche – eine gemeinsame «Lebens­kraft» besitzen.

In den vergangenen Jahren haben Psychologinnen eine Reihe von Studien durchgeführt, um die Zusammen­hänge zwischen den Ergebnissen dieses Tests und bewährten Methoden zur Messung von Glück und Wohl­befinden zu untersuchen. Der Psychologe Colin A. Capaldi und seine Kolleginnen von der kanadischen Gesundheits­behörde haben im Jahr 2014 dreissig solcher Studien zusammen­geführt, an denen insgesamt mehr als 8500 Personen teilgenommen haben. Die Psychologinnen stellten dabei einen signifikanten Zusammen­hang zwischen Natur­verbundenheit, Lebens­zufriedenheit und Glücks­empfinden fest.

Capaldi und sein Team kamen zum Schluss, dass «Personen mit einem höheren Mass an Natur­verbundenheit dazu neigen, gewissen­hafter, extrovertierter, angenehmer und offener zu sein … Natur­verbundenheit wurde ausserdem mit emotionalem und psychischem Wohl­befinden in Verbindung gebracht».

Es gibt zahlreiche Beispiele für solche Zusammen­hänge in spezifischen Situationen. Patientinnen, die in Krankenhaus­zimmern mit Grün­pflanzen oder Fenstern mit Blick auf Gärten und Bäume liegen, geht es nach einer Operation besser. Menschen, die in Büros mit schöner Aussicht arbeiten, sind weniger angespannt, haben eine positivere Arbeits­einstellung und sind zufriedener mit ihrer Arbeit.

Man muss nicht lange suchen, um literarische Aussagen über das «Wohl­befinden» zu entdecken, das durch ein Eintauchen in die Natur entsteht. Der amerikanische Philosoph und Schriftsteller Ralph Waldo Emerson beispielsweise schrieb in seinem berühmten Essay «Nature» aus dem Jahr 1836: «Es gibt in diesem Klima zu fast jeder Jahreszeit Tage, an denen die Welt zu ihrer Vollkommenheit gelangt, an denen die Luft, die Himmels­körper und die Erde eine Harmonie bilden, als wolle die Natur ihre Geschöpfe verwöhnen … Wir sind aus unseren engen und überfüllten Häusern in die Nacht und den Morgen gekrochen, und wir sehen, welch majestätische Schönheiten uns täglich in ihre Brust hüllen.»

Es ist klar: In unserer hektischen und technik­lastigen Zeit erfordert es mehr Aufwand, aus unseren engen und überfüllten Häusern zu kriechen. Der amerikanischen Dichterin Mary Oliver zumindest ist es gelungen. In ihrem Gedicht «Schlafen im Wald» von 1972 schreibt sie, dass sie «schlief wie nie zuvor, ein Stein / auf dem Flussbett, nichts zwischen mir und dem weissen Feuer der Sterne / ausser meinen Gedanken, und sie schwebten / leicht wie Motten zwischen den Zweigen / der perfekten Bäume … Bis zum Morgen / war ich mindestens ein Dutzend Mal / in etwas Besseres entschwunden».

Es beruhiget der Wald – er ladet zum Bade

Wälder haben eine besonders regenerierende Wirkung. Japanische Ärzte und Psychologinnen haben eine Therapie­form namens Wald­baden entwickelt, die sich auf Japanisch shinrin-yoku nennt. Sie basiert auf der Vorstellung, dass ein Aufenthalt in der Natur – insbesondere ein Spazier­gang im Wald – die geistige Gesundheit verbessern kann. Und genau das tut es.

Die Forschung mit Hunderten von gesunden Freiwilligen, bei denen psychologische Standard­tests zu Stimmung und Ängsten durchgeführt wurden, hat gezeigt, dass Feindseligkeit, Depressionen und Stress deutlich zurück­gehen, wenn die Personen einen Tag lang in einem Wald «gebadet» haben.

Diese Effekte zeigen sich nicht nur bei psychologischen Tests. Auch anhand chemischer Verbindungen im Körper lässt sich messen, wie viel Angst und Stress uns belasten. Zahlreiche Studien, die zusammen­gefasst im «International Journal of Biometeorology» veröffentlicht wurden, haben gezeigt, dass Wald­baden den Cortisol­spiegel deutlich senkt – Cortisol ist das wichtigste Stress­hormon des Körpers. Kein Wunder: Hormone sind die Boten­stoffe zwischen dem Gehirn und dem restlichen Körper. Unser Gehirn hat sich über die Millionen von Jahren entwickelt, in denen wir in den Savannen und Steppen lebten und nicht in den überdachten Gebäuden der letzten paar tausend Jahre.

Mein intensivstes Natur­erlebnis hatte ich vor einigen Jahren auf einer kleinen Insel im Atlantik vor dem US-Bundes­staat Maine. In der Nähe unseres Hauses auf der Insel lebte eine Fischadler­familie, deren Verhalten meine Frau und ich Jahr um Jahr beobachteten. Nachdem die Vögel den Winter in Südamerika verbracht hatten, kehrten sie Mitte April zum Nest zurück, um die Eier zu legen. Ende Mai oder Anfang Juni schlüpften die Jungen. Der Vater brachte jeden Tag pflicht­bewusst Fische zum Nest, die Jungen wuchsen heran, und Mitte August waren sie gross genug, um ihre ersten Flug­versuche zu wagen.

Über die gesamte Zeit hinweg haben meine Frau und ich all dieses Kommen und Gehen aufgezeichnet. Jedes Jahr haben wir die Anzahl Küken notiert. Wir beobachteten, wann die heran­wachsenden Fisch­adler Anfang August erstmals mit den Flügeln schlugen, ein paar Wochen bevor sie kräftig genug waren, das Nest zum ersten Mal zu verlassen und sich in die Luft zu schwingen.

Eines späten Nachmittags im August unternahmen die beiden Jungadler dieses Jahrgangs zum ersten Mal einen Flug, während ich sie von meinem Runddeck im zweiten Stock aus observierte. Den ganzen Sommer über hatten sie mich auf diesem Deck beobachtet, während ich sie beobachtete. Das Runddeck war etwa auf gleicher Höhe wie ihr Nest, sodass es für die jungen Vögel so aussah, als hätte ich mein eigenes Nest.

An diesem Nachmittag flogen sie also zum allerersten Mal in einem weiten Bogen von einer halben Meile über das Meer und steuerten auf dem Rückweg mit enormer Geschwindigkeit direkt auf mich zu. Ein junger Fischadler ist zwar etwas kleiner als ein ausgewachsener, aber immer noch ein mächtiger Raubvogel mit scharfen Krallen. Mein erster Impuls war, in Deckung zu gehen. Die Vögel hätten mir das Gesicht zerfetzen können. Doch irgend­etwas liess mich verharren. Als sie nur noch etwa fünf Meter von mir entfernt waren, zogen die beiden Adler plötzlich nach oben und flogen davon.

Vor diesem atem­beraubenden und furcht­erregenden Steigflug hielten wir etwa eine Sekunde lang Blick­kontakt. Worte können nicht beschreiben, was sich in diesem Augen­blick zwischen uns abspielte. Ein Blick der Verbundenheit, des gegenseitigen Respekts, der Erkenntnis, dass wir dasselbe Territorium teilen. Ein Blick, der so deutlich wie ein gesprochenes Wort ausdrückte: «Hier sind wir ebenbürtig.»

Als die beiden jungen Fischadler weg waren, merkte ich, dass ich zitterte und in Tränen ausgebrochen war. Bis heute weiss ich nicht genau, was in jener Sekunde passiert ist. Doch es war eine tiefe Verbundenheit mit der Natur. Ein Gefühl von Ganzheit.

Waldhyazinthe, Rotkehlchen – und Schlafzimmer

In einer bemerkenswerten Studie stellten die beiden Psychologinnen (und Zwillings­schwestern) Selin Kesebir (London Business School) und Pelin Kesebir (University of Wisconsin in Madison) vor einigen Jahren fest, dass die Erwähnung der Natur in Romanen, Songtexten und Filmen seit den 1950er-Jahren zurück­gegangen war – nicht aber Bezüge auf die vom Menschen geschaffene Umwelt. Zunächst stellten die Forscherinnen eine Liste von 186 Wörtern zusammen, welche die Natur und die Verbindung des Menschen zur Natur widerspiegeln, wobei wissenschaftliche Begriffe ausgeschlossen wurden.

Beispiele für Begriffe aus dem Bereich Natur in der allgemeinen Kategorie waren: Tier, Schnee, Erde, Herbst, Fluss, Himmel, Stern und Jahreszeit. Beispiele in der Kategorie Vögel waren: Habicht, Reiher und Rotkehlchen. Beispiele in der Baum­kategorie waren: Ulme, Mammut­baum und Zeder. In der Blumen­kategorie: Wald­hyazinthe, Flieder, Rose. Zum Vergleich wählten die Wissenschaftlerinnen Begriffe, die die vom Menschen geschaffene Umwelt widerspiegeln, wie zum Beispiel Schlaf­zimmer, Strasse und Lampe.

Die beiden Forscherinnen nutzten dann Online-Daten­banken wie Google Ngram, Songlyrics.com und IMDb, um die Häufigkeit festzustellen, mit der Begriffe aus dem Bereich der Natur und die «naturlosen» Vergleichs­begriffe in verschiedenen kulturellen Werken seit 1900 vorkamen. (Ich kann es mir nicht verkneifen, auf die Ironie hinzuweisen, die darin liegt, mittels moderner Technologie die unerfreulicheren Aspekte der Technologie zu dokumentieren.)

Natürlich werden dem Lexikon ständig neue Wörter hinzugefügt, die ältere Wörter ersetzen. Allerdings stellten die Wissenschaftlerinnen keine Abnahme der Häufigkeit älterer Wörter fest, die sich auf die vom Menschen geschaffene Umwelt beziehen. Ein weiterer möglicher Effekt wurde ebenfalls ausgeschlossen: die Tatsache, dass die Menschen im Laufe der Zeit von ländlichen in städtische Gebiete umgezogen sind. Obwohl dieser Trend real ist, hat sich die Wachstums­rate der städtischen Bevölkerung in den 1950er-Jahren nicht plötzlich beschleunigt, im Gegensatz zur rückläufigen Verwendung von Begriffen aus der Natur in diesem Zeitraum.

Die Forscherinnen kommen zum Schluss, dass der Rückgang kultureller Referenzen auf die Natur und die damit schwindende Bedeutung der Natur in der Vorstellungs­welt der Bevölkerung mit den technologischen Veränderungen ab etwa 1950 in Verbindung gebracht werden muss, insbesondere mit drinnen stattfindenden und virtuellen Aktivitäten wie dem Fernsehen (1950er-Jahre), Video­spielen (1970er-Jahre), internet­fähigen Computern (1980er-Jahre) und Smart­phones (1990er- bis 2000er-Jahre). Mit anderen Worten: mit der auf Bildschirmen erzeugten Welt. Eine Markt­forschungs­studie von 2018 hat denn auch gezeigt, dass eine durch­schnittliche erwachsene Person in den USA mehr als 9 Stunden pro Tag vor einem Bildschirm verbringt. Das ist mehr als die Hälfte unserer im Wach­zustand verbrachten Stunden.

Was aber haben wir in dieser natur­fernen, digitalisierten Welt, die wir geschaffen haben, verloren, abgesehen von der psychischen Dissonanz mit unserem angestammten Selbst?

Zunächst einmal die mentale Gesundheit, die ein natur­nahes Leben bietet, im Gegensatz zum erhöhten Stress, den ein Leben ohne sie mit sich bringt. Hinzu kommen die seelischen Schäden, die junge Menschen durch die Entfremdung von der Natur in Verbindung mit übermässiger Bildschirm­nutzung erleiden. In seinem bedeutenden Buch «Last Child in the Woods» prägte der Journalist Richard Louv den Begriff Natur-Defizit-Syndrom, um den Anstieg von psychischen Erkrankungen und Depressionen bei Kindern mit fehlendem Zugang zur Natur zu beschreiben.

Vor kurzem im «Journal of Pediatric Nursing» zusammen­gefasste Studien zeigen, dass die psychischen Probleme von Kindern zunehmen, wenn sie mehr Zeit in geschlossenen Räumen verbringen. Im Gegensatz dazu zeigen die Studien auch, dass mehr Zeit im Grünen die Aufmerksamkeit der Kinder erhöht, Stress mildert und sogar mit besseren Ergebnissen in standardisierten Tests korreliert.

Dann ist da noch die künstliche Bildschirm­welt selbst. Jean Twenge, Psychologie­professorin an der San Diego State University, und ihr Kollege stellten in einer Umfrage bei mehr als 40’000 Betreuungs­personen von Kindern und Jugendlichen in den USA fest, dass eine Erhöhung der Bildschirm­zeit auf mehr als eine Stunde pro Tag mit weniger und schlechterem psychischem Wohlbefinden einherging, einschliesslich abnehmender Neugier, weniger Selbst­kontrolle, stärkerer Unkonzentriertheit, grösseren Schwierigkeiten, Freundschaften zu schliessen, geringerer emotionaler Stabilität und eingeschränkter Fähigkeit, Aufgaben zu erledigen. Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren verbringen durchschnittlich 4,6 Stunden pro Tag vor dem Bildschirm.

Fehlende Verbindung zum spirituellen Grossen

Das alles ist alarmierend und ruft nach Massnahmen. Ich vermute jedoch, dass wir durch die Entfremdung von der Natur noch etwas anderes verloren haben, etwas, das subtiler und schwieriger zu messen ist: eine Boden­ständigkeit, ein Gefühl der Verbundenheit mit etwas, das grösser ist als wir selbst, eine Ruhe mitten im hektischen Tempo unserer vernetzten Welt, eine Quelle der Kreativität und jene Ganzheit, die ich spürte, als ich dem Fischadler in die Augen sah.

Die Natur nährt unser spirituelles Wesen. Damit meine ich das Gefühl, Teil von etwas zu sein, das grösser ist als wir selbst; eine Verbindung zu etwas Ursprünglichem und Wahrhaftigem in dieser schnell­lebigen Welt; eine Wert­schätzung der Schönheit und eine Ehrfurcht vor dem seltsamen und wunderbaren Kosmos, in dem wir uns befinden. Wir alle kennen dieses unbestimmbare Gefühl, wenn wir im Wald spazieren, am Meer sitzen oder in einer sternen­klaren Nacht in den Himmel schauen. In gewisser Weise verbinden wir uns wieder mit unserem ursprünglichen Selbst und der langen Lebens­kette, die bis zu urzeitlichen Ozeanen und unberührtem Land zurückreicht.

Diese Verschiebungen wurden durch Technologie im weitesten Sinne verursacht. Natürlich gibt es viele verschiedene Formen von Wissenschaft und Technologie, und die meisten davon haben unsere Lebens­qualität verbessert: die Drucker­presse, die Dampf­maschine, Antibiotika, das Automobil, die Vakuum­röhre, Silizium­chips, Elektrizität, die Antibaby­pille, Anästhesie, der Kühlschrank. Auch Fernseher, Computer und Smartphones haben die Lebens­qualität verbessert, sofern sie massvoll genutzt werden und uns nicht daran hindern, Wind, Flüsse, Himmel, Meteoriten­schauer, Bäume, Erde und Wildtiere zu bewundern. Technologie an sich hat keinen Verstand. Technologie an sich hat keine Werte. Wir Menschen sind es, die Verstand und Werte haben und die Technologie zum Guten oder zum Schlechten nutzen können.

Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass die rasante Technologisierung der modernen Welt aufgehalten oder auch nur verlangsamt werden kann. Doch ich bin überzeugt, dass wir verstärkt darauf achten müssen, was uns diese Technologie gekostet hat und wie wichtig unmittelbare Erfahrungen in der Natur sind. Mit «Kosten» meine ich das, was Henry David Thoreau in «Walden» schrieb: «Der Preis einer Sache ist die Menge dessen, was ich Leben nennen möchte, die unmittelbar oder langfristig für sie aufgewendet werden muss.» Zu Thoreaus Zeiten war die Eisenbahn die neue Technologie, von der er befürchtete, dass sie das Leben überrollen würde.

Thoreaus Bedenken wurden vom Literatur­kritiker und Technik­historiker Leo Marx in seinem 1964 erschienenen Buch «The Machine in the Garden» aufgegriffen. Das Buch beschreibt, wie das ländliche Leben in den USA durch die Technologie und die Industrialisierung des 19. und 20. Jahr­hunderts umgekrempelt wurde. Dabei konnte sich Marx Internet und Smart­phones, die nur wenige Jahrzehnte später aufkommen sollten, noch gar nicht vorstellen.

Heute beängstigt mich die Aussicht auf eine allumfassende, virtuelle Welt, das sogenannte Metaverse und das Wettrüsten im Silicon Valley, diese Welt aufzubauen. Wie gesagt, es ist nicht die Technologie selbst, um die wir uns Sorgen machen sollten. Es kommt darauf an, wie wir diese Technologie ins Gleich­gewicht mit dem Rest unseres Lebens bringen.

Vor vielen Jahren nahm ich meine damals zweijährige Tochter zum ersten Mal mit ans Meer. So wie ich mich erinnere, mussten wir vom Parkplatz bis zu der Stelle, an der wir das Meer sehen konnten, ein ganzes Stück zu Fuss gehen. Unterwegs kamen wir an verschiedenen Vorboten des Meeres vorbei: Sanddünen, Muscheln, sonnen­gebleichte Krabben­scheren, zierliche Kiebitze, die pickend hin und her rannten, Büschel von Strand­flieder, die zwischen den Felsen wuchsen, sowie ab und zu eine leere Getränke­dose.

Die Luft roch salzig und frisch. Meine Tochter lief im Zickzack, hockte sich immer wieder hin, um einen interessanten Stein oder eine Muschel zu untersuchen. Dann kletterten wir über den Kamm einer letzten Sanddüne. Der Ozean tauchte vor uns auf, still und riesig, eine türkis­farbene Fläche, die sich immer weiter ausbreitete, bis sie mit dem Himmel verschmolz. Ich war gespannt auf die Reaktion meiner Tochter auf diesen riesigen, urzeitlichen Teil der Natur, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Würde sie sich fürchten, sich freuen oder gleichgültig sein? Einen Moment lang war sie wie erstarrt. Dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Zum Autor

Alan Lightman lehrt am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Seine neusten Bücher sind «Probable Impossibilities» und «Ada and the Galaxies». Dieser Beitrag erschien am 15. Januar 2022 unter dem Titel «This Is No Way To Be Human» im «Atlantic».

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