Zwei Jahre konnte sich Anne Frank hier verbergen: Amsterdam, Prinsengracht 263 (eine Aufnahme aus dem Jahr 1947). Carel Blazer/MAI

Wer trägt Verantwortung für Anne Frank?

Die Autorin Rosemary Sullivan behauptet, den Mann ermittelt zu haben, der 1944 das Versteck von Anne Frank an die Nazis verraten haben soll. Was taugt die Beweisführung?

Von Alfred Bodenheimer, 10.02.2022

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Vor drei Jahren erschien beim renommierten Hanser-Verlag Takis Würgers Roman «Stella». In seinem Zentrum steht eine historische Figur, Stella Goldschlag, die als junge jüdische Frau im Berlin der frühen Vierziger­jahre vermutlich Hunderte untergetauchte Juden im Auftrag der Gestapo aufspürte und dem praktisch sicheren Tod in den Vernichtungs­lagern auslieferte.

Natürlich ging Goldschlag dieser Tätigkeit als «Greiferin» auf äusseren Druck hin nach, im Versuch zunächst (erfolglos) ihre Eltern, dann (erfolgreich) sich selbst vor der Deportation zu schützen. Doch der Fakt, dass sie sich darauf nicht nur einliess, sondern dass ihre Tätigkeit mit zunehmender Dauer geradezu von Jagd­fieber getrieben war, hatte sie moralisch vollends kompromittiert.

Der erzählerisch missratene und historisch sträflich unpräzise Roman, der – in vielem Bernhard Schlinks Roman «Der Vorleser» nicht unähnlich – aus dem Blick­winkel eines arglosen Schweizer Liebhabers der bildschönen Stella ein melancholisch-kitschiges Denkmal setzt, wurde von der Literatur­kritik fast durch­gehend verrissen. Er erzielte aber blendende Verkaufs­zahlen. Die Verkürzung der Shoah auf ein brisantes moralisches Dilemma im Sinne der Erfolgs­stücke von Ferdinand von Schirach, die prickelnde Frage nach den fluiden Grenzen zwischen Ethik und Verrat in Extrem­situationen traf den Geist unserer Zeit.

Anne Frank ist, einige hundert Kilometer entfernt, in fast allem das Gegenstück zu Stella Goldschlag. Ihr Tagebuch, oft verklärt zu einer Botschaft der Zuversicht gegen Hass und Verfolgung, ist in Wirklichkeit viel mehr als das.

Zur Inspiration von Generationen in der ganzen Welt konnte es nur werden, weil es vor allem das völlig authentische Zeugnis eines hoch­intelligenten, pfiffigen, pubertären Teenagers ist, der der verzweifelten Situation des Eingesperrt­seins unter prekärsten Bedingungen ein Maximum an Normalität abgewinnt – umgeben von tödlicher Gefahr, die jederzeit die dünne Schutz­membran des Amsterdamer Hinter­hauses durchbrechen kann.

Zum Autor

Alfred Bodenheimer ist Professor für jüdische Literatur- und Religions­geschichte an der Universität Basel. Er ist Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Studien und unter anderem Heraus­geber einer Geschichte der Israelitischen Cultus­gemeinde Zürich. Bekannt geworden ist Bodenheimer als Autor von Kriminal­romanen, die auch Milieu­studien des Zürcher Judentums darstellen. Er lebt mit seiner Familie in Israel und pendelt zwischen Jerusalem und Basel.

Anne Frank ist Träumerin und Realistin zugleich, beinahe noch Kind und fast schon erwachsen, eine Identifikations­figur schlechthin. Ein System, das alles daransetzte, jemanden wie sie zu töten, erwies allein darin nicht bloss seine Unmenschlichkeit, sondern seinen Wahnsinn. Vor allem aber: Anne Frank ist nicht Verräterin, sondern Verratene.

Und gerade hier, am Extrem­punkt ihrer Differenz zu Stella Goldschlag, treffen sich die Gründe, weshalb beider Schicksale für die Nachwelt zum Faszinosum wurden. Denn mit dem postumen Ruhm Anne Franks und ihres Tagebuchs tauchte rasch die Frage auf: Wer war es, der nach über zwei Jahren des Verstecks Anfang August 1944 verriet, dass im Hinterhaus der Prinsengracht 263 in Amsterdam jüdische Menschen versteckt waren?

Das Buch, ein Verbrechen

Unterschiedliche Forscherinnen hatten im Rahmen ihrer Beschäftigung mit Anne Frank über Jahre unterschiedliche Hypothesen aufgestellt, ohne dass das breitere Publikum sich übermässig dafür interessiert hätte. Nun hat ein Buch, das zielgerichtet diese eine Frage in den Mittel­punkt stellt, sehr emotionale Reaktionen ausgelöst.

«The Betrayal of Anne Frank. A Cold Case Investigation» heisst das Buch der kanadischen Sachbuch­autorin Rosemary Sullivan, das nicht ohne Überbietungs­rhetorik daherkommt. Es dokumentiert die mehrjährige Arbeit eines 23 Fachleute umfassenden Teams, das mithilfe modernster Technik vorgegangen sei. Im Januar kam das Buch auf Englisch und Nieder­ländisch heraus; unter dem Titel «Der Verrat an Anne Frank. Eine Ermittlung» sollte es im März auf Deutsch erscheinen. Doch mittlerweile steht hinter der deutschen Ausgabe ein dickes Frage­zeichen. Ein Artikel in der «Süddeutschen Zeitung» hat jüngst den Sinn, diese Übersetzung gerade in der Sprache der Täter heraus­zubringen, stark in Zweifel gezogen.

Denn inzwischen hat der niederländische Verlag das Buch aus dem Vertrieb genommen und die geplante zweite Auflage von «Het verraad van Anne Frank» gestoppt – eine Reaktion auf den erbitterten Einspruch, den zahlreiche Historiker, Publizistinnen und andere öffentliche Personen international erhoben.

Um die Heftigkeit der Debatte zu erfassen, die über dieses Buch entbrannt ist, reicht ein Zitat des niederländisch-jüdischen Autors Leon de Winter aus. In einem Beitrag, der unter anderem in der NZZ veröffentlicht wurde, schrieb de Winter, dieses Buch kläre kein Verbrechen auf, vielmehr sei es selbst ein Verbrechen.

Der Vorwurf: Den über Jahrzehnte hin erarbeiteten möglichen Antworten (einschliesslich der Vermutung, die Entdeckung von Anne Frank sei eher zufällig bei einer Razzia nach gefälschten Lebens­mittel­marken erfolgt) stelle das Buch mit schwachen Argumenten einen angeblichen anderen, ausgerechnet jüdischen Schuldigen gegenüber: Arnold van den Bergh (1886–1950), ein prominenter Anwalt und Notar, der auch Mitglied des (bereits 1943 aufgelösten) Amsterdamer Judenrats war.

Die Ermittlung arbeitet dabei mit einer – der Forschung zuvor bereits bekannten – anonymen Notiz, die Annes Vater Otto Frank, der einzige Überlebende der acht Versteckten, nach dem Krieg erhielt, auf der van den Bergh als Verräter bezeichnet wurde. Nachdem sie lange als wertlos galt, bezeichnen der Ermittlungs­leiter und langjährige FBI-Agent Vincent Pankoke und sein Team diese Notiz nun, unter Anführung anderer Indizien, als relevante Information.

Eine These mit gravierenden Schwach­punkten

Otto Frank, so die These, habe die Identität des Verräters für sich behalten, um van den Berghs Familie nicht zu belasten, die ihrerseits durch den Verrat gerettet worden sei. Die Argumentation setzt also voraus, dass Otto Frank und seine Vertraute Miep Gies ein nie ausgesprochenes Wissen über den wahren Verräter gehabt hätten – obwohl vielleicht Frank selbst sich in seinem Wissen ausschliesslich auf diese anonyme Information abstützte. Man nennt dies auch Zirkel­schluss.

Die These hat im Wesentlichen zwei gravierende Schwach­punkte: Erstens ist es reine Spekulation, dass van den Bergh den Nazis Wissen «verkaufen» musste, um den Krieg zu überleben und seine Familie zu retten. Seine Kinder waren ohnehin an getrennten Orten versteckt, und es scheint keinen Anlass gegeben zu haben, sie durch einen Verrat retten zu müssen.

Zweitens ist die Behauptung, er habe überhaupt gewusst, dass sich an der bewussten Adresse in Amsterdam Juden versteckten, ganz aus der Luft gegriffen. Es gibt schlicht keinen auch nur halbwegs handfesten Beweis dafür. Hingegen hatte er als ehemaliges Mitglied des bei vielen verhassten Judenrats, der einst die Deportations­listen zusammen­gestellt hatte, womöglich genügend Feinde, die versucht haben könnten, ihm nachträglich anonym etwas anzuhängen.

Wenn man das Buch gelesen und den vom Ermittlungs­team betriebenen Aufwand zur Kenntnis genommen hat, so fragt man sich, ob es sich ein solches Unternehmen überhaupt hätte erlauben können, am Ende keine eindeutige Lösung zu präsentieren. Es scheint, dass die objektiven Hindernisse, keine lebenden Zeugen oder eindeutigen Dokumente, geschweige denn DNA-Analysen zur Verfügung zu haben, die Hemmung verminderten, sich in einer der virtuellen Thesen festzubeissen und sie durch­zudeklinieren, an jeder Gerichts­festigkeit vorbei. Doch auch wer einen Toten schwer belastet, sollte dafür handfeste Beweise haben – umso mehr, wenn dieser Tote, wie in van den Berghs Fall, lebende Nach­kommen hat.

Bei sorgfältiger Lektüre ahnt man schon nach rund einem Drittel des Buches, wohin die Fährte führen soll. Da wird, quasi aus dem Nichts, vom Besuch des nieder­ländischen Armee­rabbiners beim Recherche­team in Amsterdam berichtet. Dem Rabbi wird die Frage gestellt, ob man «die Sache besser ruhen lassen sollte», wenn sich heraus­stellen sollte, dass der Verräter jüdisch gewesen sei. Seine Antwort lautet, nichts sei wichtiger als die Wahrheit, unabhängig vom Ergebnis der Nach­forschungen.

Wacklige Beweis­führung, Ziel verfehlt

Natürlich hat der Rabbi grundsätzlich recht, und womöglich hat er an solche Figuren wie die berüchtigte jüdische Verräterin Ans van Dijk gedacht – eine Art nieder­ländisches Pendant zu Stella Goldschlag. Auch sie wird im Buch als theoretisch mögliche Verräterin von Anne Frank in den Blick genommen, scheidet aber in diesem Fall als Täterin wohl aus.

Am Ende von Sullivans Buch, als die wacklige Beweis­führung gegen van den Bergh abgeschlossen ist, zieht die Autorin den Satz des Rabbis in der Tat als eine Art Koscher­stempel für die Publikation des Ermittlungs­ergebnisses wieder heran. Folgerichtig werden ein paar nachdenkliche Sätze darüber nachgeschoben, was existenzielle Notlagen aus honorigen Menschen wie diesem Notar (und implizit letztlich also aus uns allen) machen können. Doch genau damit verfehlt das Buch die erklärte Absicht, mit der das Recherche­team angetreten ist: nämlich etwas gegen die Unter­wanderung unserer Gesellschaft durch Intoleranz zu tun.

«Der Verrat an Anne Frank» könnte ein recht nützliches Buch sein, wenn es sich nicht das – leicht manische – Ziel gesetzt hätte, einen spezifischen Verrat über sieben Jahrzehnte später aufzuklären. Sondern wenn es sich darauf beschränkt hätte, das Umfeld auszuleuchten, in dem sich die Ereignisse um Anne Frank abgespielt haben.

Dass die Niederlande nicht der feste Hort des aktiven oder passiven Widerstands waren, als den sie sich – nicht zuletzt auch mit Verweis auf die Leistung von Anne Franks Helfern – jahrzehntelang darstellten, ist lange bekannt. Doch indem das Forscherinnen­team die gesamte damalige Bevölkerung des Viertels, in dem die Franks versteckt waren, mithilfe alter Telefon­bücher rekonstruierte, konnte es zeigen, dass sich dieses Versteck inmitten einer Nachbarschaft befand, die mit Nazi­sympathisanten geradezu durchsetzt war. Eine Gesellschaft, die an der Oberfläche mehr oder weniger funktionierte, zeigt sich hier in Wirklichkeit zutiefst gespalten. Man bespitzelt und misstraut einander, einst demokratische Polizei­kräfte werden zu gnadenlosen Menschen­jägern, die bekannte Kriminelle als Hilfs­truppen anheuern.

Die Risse gehen teils mitten durch die Familien: Während Menschen ihr Leben für die Rettung anderer riskieren, sind es mitunter ihre eigenen Kinder und Geschwister, die mit den Nazis fraternisieren oder das Bett teilen. Wer auf die heftigen Reaktionen und Polemiken in den Nieder­landen nach Erscheinen dieses Buchs schaut, der begreift, dass eine solche Zerstörung der Gesellschaft nachhaltig ist, dass die Wunden auch über Jahrzehnte hinweg nicht wirklich verheilt sind.

Das Buch hält trotz allem eine Lehre bereit

Hier, in diesen Erkenntnissen des Forschungs­teams, liegt der zentrale Punkt, weit mehr als in den philosophisch mäandernden Fragen nach dem Dilemma, wie viel Moral man aufzugeben bereit ist, um sich selbst oder seine Nächsten zu retten. Die durchschnittlichen Nieder­länderinnen der Kriegs­jahre hatten meist weitgehend die Wahl, ihr Verhalten zu steuern. Ihre individuelle moralische Entscheidung zur Zurück­haltung, zur Kollaboration oder zum Widerstand wurde nicht nur für sie und ihre Zeitgenossen, sondern für das Selbst­verständnis ihres ganzen Landes nachhaltig prägend. Wenn es aus dem Buch von Sullivan etwas zu lernen gibt, dann dies, dass die Verantwortung und Tragweite individuellen menschlichen Handelns in krisenhaften Situationen keine Grenzen kennt.

Der Schweizer Bevölkerung ist eine solche Probe damals erspart geblieben. Doch wenn wir die Debatten der vergangenen Jahrzehnte anschauen, von den nachrichten­losen Vermögen in den Neunziger­jahren bis zum Umgang mit der Bührle-Bildersammlung in der Gegenwart, verstehen wir, wie schon sehr viel geringere Anlässe im Zusammen­hang mit der Shoah die Nerven auch hier blank liegen lassen. Die Schweizer Gesellschaft hat in diesen Debatten jeweils intuitiv gespürt, dass es dabei nicht einfach um politische Macht­spiele ging, sondern darum, ob künftige Generationen ruhig in den Spiegel oder auf die grandiosen Gemälde im Zürcher Kunsthaus schauen können.

Der kalte Hauch der Geschichte, der alles umweht, was mit dem national­sozialistischen Menschheits­verbrechen verknüpft ist, kann – das lehrt einen Rosemary Sullivans Buch beinahe wider Willen – nur dann gebannt werden, wenn man die Antworten auf die richtigen Fragen sucht.

Hinweis: In einer früheren Version haben wir geschrieben, das Rechercheteam habe gesagt, nichts sei wichtiger als die Wahrheit, unabhängig vom Ergebnis der Nachforschungen. Das hat natürlich der Rabbi gesagt. Wir haben die Stelle angepasst und bitten um Entschuldigung für den Fehler.

Zum Buch

Rosemary Sullivan: «The Betrayal of Anne Frank. A Cold Case Investigation». Harper Collins 2022.

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