Erste Reihe, zweite Reihe, dritte Reihe: ausnahmslos Neonazis. Demonstration gegen die Corona-Massnahmen am Samstag, 22. Januar 2022 in Bern. Anthony Anex/Keystone

Am Freitag bei «SS-Siggi», am Samstag an der Corona-Demo

Neonazis, wohin man blickt: Seit dem Sommer spielen Rechts­extreme bei Demonstrationen gegen die Corona-Politik des Bundesrats eine immer grössere Rolle. Am vergangenen Wochen­ende füllten sie in Bern ein Macht­vakuum in der Szene der Massnahmen­kritiker. In den einschlägigen Chats wurde ihre Teilnahme begrüsst. Nächstes Ziel: Zürich.

Von Daniel Ryser, 29.01.2022

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Am Bahnhofplatz in Bern gab es vergangenen Samstag ein regelrechtes Gerangel, wer denn nun an der Spitze des Umzugs der Demonstration gegen die Pandemie-Massnahmen stehen soll. Zuerst hielten einige als Gruppe nicht bekannte Massnahmen­gegner ein Front-Transparent hoch, auf dem stand: «Widers(CH)tand 2022». Dann setzte sich Nicolas A. Rimoldi mit seiner inzwischen personell arg gebeutelten Gruppe Mass-Voll an die Spitze.

Doch schliesslich drängten sich die Neonazis der Jungen Tat nach vorne, liefen umgehend los, und die Masse lief hinterher, was Rimoldi gar nicht gut fand. Mehrmals versuchte er, den Umzug in eine andere Richtung zu führen. Erfolglos. Die jüngste Demonstration gegen die Corona-Politik des Bundesrats war in vollem Gang – angeführt von bekannten Neonazis.

Die Aktion war ein PR-Stunt der winzigen Gruppe Junge Tat, die vor allem aus drei Personen besteht: Manuel C., ein ehemaliger Kunststudent aus Winterthur, der nach Protesten von Mitstudierenden Ende 2020 von der Zürcher Hochschule der Künste ausgeschlossen worden war. Tobias L. aus Luzern, der kürzlich mit Manuel C. und drei anderen wegen Rassen­diskriminierung verurteilt wurde. Dies, nachdem die Junge Tat am 17. Januar 2021 einen Online-Vortrag der Jüdischen Liberalen Gemeinde mit Bildern von Adolf Hitler und Haken­kreuzen «gebombt» hatte. Manuel C. hatte schon zuvor mehrere Zoom-Meetings mit Nazi-Parolen gestört. Die Polizei fand bei ihm bei einer Haus­durchsuchung im Sommer 2020 laut «Tages-Anzeiger» mehrere Schuss­waffen. Und der Dritte im Bunde ist ein Mann, der sich an der Demonstration in Bern «Moritz» nannte.

Diese drei Männer führten am Samstag in Bern die Corona-Demonstration an.

Ex-Kunststudent Manuel C. drehte mit einer Hybrid-Kamera einen 30-sekündigen Propaganda­film, den die Neonazis umgehend ins Netz stellten, Tobias L. und «Moritz» führten mit Megafonen das Kommando. In einem Livestream der selbst ernannten Basler «Lebens­krisen­bewältigerin» Sabine Seibold gab Manuel C. vor Ort über die Aktion bereitwillig Auskunft.

Seibold, eine stark esoterisch geprägte psychologische Beraterin und einfluss­reiche Live-Streamerin in der Szene der Massnahmen­kritikerinnen, hatte – wie viele andere offensichtlich – überhaupt kein Problem damit, dass Neonazis die Demonstration anführten: «Leute, ich bitte euch, wenn ihr jetzt in den Chat schreibt, dass hier zuvorderst Nazis laufen, (…) macht erst mal eure Schubladen zu, nicht immer Schublade auf, da rennen Nazis, (…) einfach mal neutral.»

Die Neonazis machten keinen Schritt, ohne ihn mit Kameramann Manuel C. und den beiden Demo-Anführern Tobias L. und «Moritz» abzusprechen: Die Junge Tat lief offensichtlich vor allem in Bern auf, um ihren kurzen Propaganda­film zu drehen. Gleich zu Beginn des Films, der online zu sehen ist, zeigt eine vermummte Person das «White Power»-Zeichen: Die rechte Hand formt mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, die restlichen Finger sind abgespreizt. So bilden die gespreizten Finger den Buchstaben W, der Kreis aus Zeigefinger und Daumen das P – die Abkürzung für «White Power». Spätestens seit 2019 hat sich das Zeichen bei Neonazis etabliert und wird seither von der Anti-Defamation League als Hasssymbol geführt, nachdem der rechts­extreme Massen­mörder von Christchurch, der im März 2019 in zwei Moscheen 51 Menschen ermordet hatte, am Tag nach der Tat vor Gericht kamerawirksam ebendieses Zeichen formte.

Am Ende ihrer Aktion in Bern, als sie die schützende Masse der Demonstrierenden verliessen, trabten die rund 20 Junge-Tat-Neonazis eilig zu den Gleisen. Einige von ihnen wurden dort von der Berner Kantons­polizei kontrolliert. Das zeigen Aufnahmen, die der Republik vorliegen.

Aus dem Dunstkreis des Rechtsterrorismus

Die Junge Tat, die vor zwei Jahren als Jugendgruppe der Nazi-Organisation Nationale Aktionsfront entstand, trat im September 2021 in Winterthur erstmals als Gruppe bei einer Anti-Massnahmen-Demonstration auf. Ihre Mitglieder trugen Funkgeräte, verteilten Flugblätter und versuchten, einen organisierten Eindruck zu machen. Während der Demonstration zeigten sie sich zurückhaltend, trugen ein schlichtes Transparent mit der Aufschrift «Jugend gegen Impfzwang». Doch nach der Demonstration posierten sie für ein Gruppenfoto vermummt und in Kampfpose.

Davor waren Einzelfiguren der Jungen Tat vor allem an Demonstrationen in Luzern aufgefallen, das bereits seit Juni 2021 zu einem rechtsextremen Hotspot geworden ist, wo sich mit jeder Demo ein paar Neonazis mehr versammelten.

Auf einem Stream vom 12. Juni 2021 in Luzern sieht man beispielsweise Tobias L., den Anführer der Demonstration in Bern, wie er zusammen mit dem Neonazi Andy S., früher ebenfalls Mitglied bei der Jungen Tat und heute offenbar Anwärter beim internationalen Neonazi-Netzwerk Blood & Honour, mehrere Sekunden lang auf einen Gegen­demonstranten einschlägt, der am Boden liegt. Die Person hatte ein Transparent hochgehalten und war daraufhin von den Neonazis angegriffen worden. Andere Demonstranten, man kann es im Stream hören, kommentieren die Gewalt der Neonazis lakonisch bis erfreut mit «Weitergehen». Niemand greift ein.

An einer Demonstration in Liestal vom März 2021 attackierten Mitglieder der Westschweizer Neonazi-Organisation Militants Suisse, die personelle Überschneidungen hat sowohl zur Jungen Tat wie auch zur Jungen SVP, einen Gegen­demonstranten und entrissen ihm dessen Transparent. Dieses tauchte dann zwei Tage später auf der Seite der französischen Neonazi-Organisation Ouest Casual auf.

Das Vorbild der Jungen Tat ist die rechtsextreme «Identitäre Bewegung» aus Österreich, wo man sich seit längerem in einem neuen Neonazi-Image versucht. Vereinfacht ausgedrückt: Weg vom tätowierten Säufer hin zum poppigen Sportler und «Patrioten», so die beschönigende Selbst­bezeichnung, der am liebsten (rechtsextreme) Rapmusik hört und auch gerne mal ein Buch liest, wenn er nicht gerade Kampfsport trainiert. So stellt sich die Junge Tat in einem ihrer Videos dar.

Laut der Recherche­gruppe Antifa Bern pflegen die Schweizer Neonazis der Jungen Tat einen intensiven Austausch mit «Identitären» in Österreich, Belgien (wo sie schon eine gemeinsame Aktion durchführten) und vor allem mit Leuten in Süddeutschland aus der Region Ulm.

«Deutschland, Österreich, Schweiz: An den Corona-Demos entsteht gerade eine rechts­extreme Internationale. Gleicher Inhalt, gleiche Symbolik – angeführt von militanten Identitären», twitterte der «SonntagsBlick»-Journalist und Rechtsextremismus-Experte Fabian Eberhard einen Tag nach der Demonstration in Bern. Denn nicht nur in Bern hatten sich vergangenen Samstag Neonazis an die Spitze von Covid-Demonstrationen gesetzt, sondern auch in verschiedenen Städten in Deutschland und Österreich. Offensichtlich waren die Aktionen abgesprochen, denn die Transparente waren identisch gestaltet, weisse Farbe auf rotem Grund, nur die Botschaft war jeweils eine andere.

Nach ihrem Auftritt in Winterthur tauchten Mitglieder der Jungen Tat am 23. Oktober 2021 an einer Demonstration in Bern auf und schliesslich am 8. Januar 2022 in Zürich. Spätestens da konnte man beobachten, wie der Anteil Neonazis an diesen Demonstrationen rasant stieg. Die Demonstrationen dienen auch als Wiederbelebungs­programm für Rechts­extreme, die längst in der Versenkung verschwunden waren und nun zurückkommen wie Geister der Vergangenheit.

Alessandro B. beispielsweise, ehemals Neonazi-Kader aus Varese und früher Mitglied der Hammerskins, lebt und arbeitet inzwischen im Berner Oberland. Er tauchte erstmals am 23. Oktober 2021 in Bern an einer Demonstration auf, wie Aufnahmen belegen, welche die Republik einsehen konnte. Seither war er auch Anfang Januar in Zürich und nun wieder vergangenen Samstag in Bern vor Ort.

Ebenfalls in Zürich und vergangene Woche in Bern mit Kollegen vor Ort: der langjährige GC-Hooligan Stefan N., ein Mann mit tätowiertem Hakenkreuz, der dem Rechts­extremismus offiziell immer wieder abschwört, um dann offensichtlich doch wieder dort zu landen.

Oder Markus M., ein mehrfach vorbestrafter Ex-Neonazi, der 2021 eine schwer vereinbare Doppelrolle innehatte: Er berichtete als Foto­journalist zweimal für die Zeitung «Die Ostschweiz» von Anti-Massnahmen-Demonstrationen, wenn er nicht gerade an ebensolchen Demonstrationen eine Polizistin mit einer Fahnenstange attackierte, wie im Mai 2021 in Aarau.

Und dann Manuel B.: Der Mann tauchte erstmals im September 2021 in Winterthur an einer Demonstration auf, dann am 23. Oktober 2021 in Bern und nun, vergangenen Samstag, wieder in Bern: Der Neonazi aus dem Wallis ist ein aktives Mitglied des internationalen Neonazi-Netzwerks Blood & Honour, zu dem auch ein bewaffneter Arm gehört, der sich Combat 18 nennt, «Kampftruppe Adolf Hitler» («18» steht für die Anfangsbuchstaben im Namen). Wie der Republik vorliegende Aufnahmen zeigen, trat der gut vernetzte Neonazi vergangenen Samstag an der Spitze der Demonstration als Teil der Jungen Tat auf.

Dabei hatte Manuel B. in jener Woche offenbar ein dicht gedrängtes Programm: Am Tag vor seinem Auftritt in Bern legte er an einem Grab auf dem Dortmunder Haupt­friedhof einen Trauerkranz nieder, wie ein Foto von «Recherche Nord» belegt. Eines seiner Gesichts­tattoos verdeckte B. dabei mit einem grossen Pflaster – und beugte damit offensichtlich einer Verhaftung vor, denn die Kranz­niederlegung, zu der 250 Neonazis gepilgert waren, wurde von einem Grossaufgebot der deutschen Polizei beobachtet. Anlass der Kranz­niederlegung war die Beerdigung der Dortmunder Neonazi- und Hooligangrösse Siegfried Borchardt, landesweit bekannt als «SS-Siggi».

Beim abgedeckten Stirn-Tattoo von Manuel B. handelt es sich um die Tyr-Rune, wie man auf anderen Bildern erkennen kann: das Abzeichen der Reichsführer­schulen der NSDAP. Das Symbol ist in Deutschland als verfassungs­feindlich eingestuft und verboten. Dieselbe Tyr-Rune ist auch das Logo der Jungen Tat. Die Schweizer Neonazis tragen es in ihren PR-Videos weiss gedruckt auf grünen Sturmhauben.

Auf der Schleife des Kranzes, den Manuel B. in Dortmund niederlegte, stand «28 Schweiz», die Szene-Formel für Blood & Honour Schweiz. Er ist also in der Position, für die Neonazi-Gruppe zu sprechen, zu deren hartem Kern auch die Mörder des National­sozialistischen Untergrunds (NSU) zählten, die zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordeten.

Nach der Trauerfeier stieg Manuel B. zusammen mit dem Dortmunder Neonazi Martin W. in ein Auto mit Walliser Kennzeichen. Gemeinsam fuhren die beiden Männer offenbar direkt nach Bern, wo sie tags darauf gemeinsam an der Demonstration im Pulk der Jungen Tat auftauchten. Auch das ist durch Aufnahmen dokumentiert.

Der Begleiter von Manuel B., der Neonazi Martin W., ist in Dortmund eine Szenegrösse und laut dem Kampfsport-Aktions­bündnis «Runter von der Matte! Kein Handshake mit Nazis» in die Organisation der Neonazi-Kampfsport­reihe «Kampf der Nibelungen» eingebunden, wo er für die Grafik zuständig ist.

Der Freiheitstrychler und «die Finanzjuden»

Vor allem zwei Schweizer Neonazis sollen besonders aktiv sein, wenn es um die Verbindung von Neonazitum und Massnahmen­gegnerschaft geht: die Luzernerin Sandra P. sowie der in Ungarn lebende Neonazi und Youtube-Aktivist Ignaz Bearth.

Sandra P. betreibt laut einem Bericht des «Tages-Anzeigers» vom Dezember 2021 einen Telegram-Kanal mit fast 4500 Abonnenten, wo sie zu Demonstrationen gegen die Politik des Bundesrats aufruft. Mehrere Fotos zeigen die Rechts­extremistin vergangenen Sommer an Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen in Luzern, zusammen mit Mitgliedern der Jungen Tat oder auch mit ihrem Ehemann, einem Neonazi aus Sachsen, der Mitglied im Motorradclub Gremium MC war, der 2013 verboten wurde. Der «Tages-Anzeiger» berichtete, wie Sandra P. auf Social Media mit einer mutmasslichen Version des AK-47-Sturmgewehrs posierte und Fotos von Gegen­demonstranten und einem Journalisten ins Netz stellte mit der Aufforderung, diese Leute zu «isolieren».

Sandra P., so berichtete der «Tages-Anzeiger» weiter, soll Mitglied der Gruppe Stiller Protest sein, einer Gruppe, die mit weissen Schutz­anzügen auftritt, häufig mit angehefteten Juden­sternen, jenem von den National­sozialisten eingeführten Zwangs­kennzeichen.

Die Frau koordinierte schliesslich laut «Tages-Anzeiger» und anderen Quellen den Aufbau des sogenannten «Swiss Mens Club of Freedom», einer Art Sicherheits­dienstes für die Demonstrationen der Massnahmen­gegnerinnen, der erstmals am 23. Oktober 2021 in Bern in Erscheinung trat und dem Rechts­extreme angehören. Seit jenem Tag in Bern haben die Neonazis unter Anleitung von Sandra P. eine substanzielle Rolle an den Protesten eingenommen. An der Anti-Massnahmen-Demonstration vom 15. Januar 2022 in Schaffhausen trug die Neonazi-Frau zusammen mit einer Kollegin schliesslich das Front-Transparent des Umzugs.

Ignaz Bearth, der in Ungarn lebt, wird von den «Belltower News», dem Internet­portal der antirassistischen Amadeu-Antonio-Stiftung, mit seinem Youtube-Kanal und einer Mischung aus Livestreams und Interviews als «Anheizer für deutsche Querdenker» beschrieben.

Aber auch mit der Schweizer Massnahmen­gegnerschaft ist Bearth eng verbandelt. Der Schweizer Massnahmen­gegner Roger Bittel, dessen Kanal «Bittel TV» auf Telegram mehr als 100’000 Menschen folgen, war im Dezember 2020 zu Gast in seiner Sendung. Im März darauf wurde dann der Thurgauer Livestreamer und Massnahmen­kritiker Daniel Stricker empfangen.

Schliesslich trat im Dezember 2021 ein Freiheits­trychler in Bearths Sendung auf. Am Ende des Videos posieren Bearth und der Trychler gemeinsam in den weissen Freiheits­trychler-Kutten, und der Freiheits­trychler sagt in die Kamera: «Ich grüsse noch ganz herzlich die Antifanten. Ich hoffe, euch kommt das Kotzen.»

Derselbe Freiheits­trychler, ein offizielles Mitglied der Gruppe, wie sich mit Screenshots belegen lässt, schrieb am 17. Mai 2021 im Chat «CoronaFrei.ZH» von «Finanzjuden», die den «Corona-Krieg» gestartet hätten.

Ebenfalls derselbe Freiheits­trychler posierte vergangenen Sonntag an der Anti-Massnahmen-Demonstration in Brüssel, wo die Freiheits­trychler laut eigenen Angaben in ihrem Telegram-Kanal mit Spenden­geldern finanziert hingefahren waren. Zuerst wurde von ihm und anderen angereisten Trychlern im offiziellen Telegram-Kanal der Gruppe ein Foto in den obligaten weissen Kutten gepostet. Später lud Neonazi Ignaz Bearth in seinem Telegram-Kanal ein Video des Trychlers hoch, das diesen aufgeputscht mitten in den Angriffen vermummter Demonstranten auf den Hauptsitz des Europäischen Auswärtigen Dienstes zeigt.

Neonazis und Massnahmen­gegner vereint

Bei der Recherche­gruppe Antifa Bern, wo man die Entwicklungen an den Demonstrationen der Massnahmen­gegner seit langem beobachtet, zeigt man sich in einem Gespräch von den jüngsten Entwicklungen nicht überrascht. «Es gab nach der Abstimmung zum Covid-Gesetz ein regelrechtes Machtvakuum», sagt ein Mitglied der Recherche­gruppe, das anonym bleiben möchte. «Verschiedene Gruppen sind verschwunden, der Verschleiss an treibenden Figuren ist in dieser Szene enorm, und so wurde es irgendwann absehbar, dass die Neonazis die Demonstrationen übernehmen.»

Der Antisemitismus, der in den Verschwörungs­erzählungen stecke, habe die Neonazis angesprochen. «Diese Demonstrationen sind ja ein Ort, wo man alles behaupten kann. Es gibt keinen Widerspruch. Du kannst die Schoah leugnen. Du kannst dir einen Judenstern anheften. Du kannst Flyer verteilen, auf denen du behauptest, man habe uns mit der Impfung einen Chip eingepflanzt. Dass wir von George Soros kontrolliert werden. Und das ist, auch wegen des Antisemitismus, der in den Verschwörungs­erzählungen steckt, ein Boden für die Neonazis, sich auszubreiten. Auch deshalb, weil es zwischen ihnen und dem esoterisch-völkischen Teil der Bewegung viele Schnittmengen gibt – dieses Gerede der Jungen Tat von wegen zurück zum Ursprung, zu Natur, Heimat und Körper.»

Der «Tages-Anzeiger» schrieb, der grösste Teil der Demonstranten habe nicht mitbekommen, dass der Umzug von Neonazis angeführt worden sei. «Ob das stimmt, sei dahingestellt», sagt ein Mitglied der Gruppe Antifa Bern. «Wenn man aber die Chats liest im Nachgang zur Demo, dann sieht man in der Teilnahme eigentlich kein grosses Problem. Im Chat der Freien Linken beispielsweise heisst es, der Kampf verlaufe ja nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen oben und unten.»

Tatsächlich sah es auch vor Ort nicht danach aus, als habe irgendwer ein Problem mit den Neonazis: Noah C. beispiels­weise, ein Massnahmen­gegner und enger Mitstreiter von Nicolas A. Rimoldi von Mass-Voll, ist auf zahlreichen Aufnahmen zu sehen, wie er mit den Neonazis der Jungen Tat die Demoroute koordiniert. Ebenso ein anderer Mann mit Megafon, ein Mitglied der Gruppe Based, einer Raver-Abspaltung von Mass-Voll: Es wird koordiniert, gemeinsam marschiert und «Widerstand» skandiert.

Bereits vor einem Jahr hatte der «SonntagsBlick» berichtet, dass die Szene der Massnahmen­gegnerinnen sich nicht von Rechts­extremisten distanziere, stattdessen sogar deren Nähe suche. Thematisiert wurden Telegram-Gruppen wie zum Beispiel «Der Sturm», wo damals fast 200 User gegen Menschen hetzten, die vor dem Virus warnten: Virologinnen, Journalisten, Politikerinnen. Und gegen Juden, die durch die Pandemie angeblich die Weltherrschaft an sich reissen wollten.

Der Administrator «Morpheus» schrieb: «Die Zeit der friedlichen Veranstaltungen ist vorbei! Wir müssen uns organisieren für wahren Widerstand. Sieg oder Tod.» Er schrieb, man solle sich in «Kleingruppen» organisieren, und zwar, wie eine andere Userin ergänzte, «nach dem Prinzip des führerlosen Widerstands» – eine Strategie aus dem Rechts­terrorismus.

Die Neonazis, so wird vermutet, sehen in den Demonstrationen nicht nur eine Möglichkeit, sich zu inszenieren, sondern wollten diese auch als Ort für Rekrutierungen nutzen. Denn gross ist die Szene jener, die zum harten Neonazi-Kern gehören, heute nicht gerade. Für diese Einschätzung hilft ein Blick auf eine Veranstaltung vom Sommer 2021. Damals feierte die von den Massnahmen­protesten befeuerte Schweizer Neonazi-Szene ein Stelldichein in der Innerschweiz.

Je nach Quelle rund 70 bis 90 Personen hielten beim Winkelried-Denkmal eine rechts­extreme Gedenk­feier zur Schlacht bei Sempach ab. Da traf man dann so ziemlich alles, was man heute auch an den Corona-Demonstrationen trifft, nämlich den harten Kern der Schweizer Neonazi-Szene: zahlreiche Mitglieder von Blood & Honour sowie Sandra P., die umtriebige Massnahmen­gegnerin aus Luzern, Leute von der Neonazi-Partei PNOS und den Hammerskins und zahlreiche Personen aus dem Umfeld der Nationalen Aktionsfront und der Jungen Tat.

Und wie in Bern vor einer Woche waren Tobias L., der Mann mit dem Megafon, und Manuel C., der Mann mit der Hybrid-Kamera, ganz vorne mit dabei – und beide sind wegen Rassen­diskriminierung verurteilt. Und wie in Bern, so geht aus einem Video hervor, war Manuel C., der Kopf der Jungen Tat, in Sempach für die Video­aufnahmen zuständig.

Die nächste «nationale Kundgebung» der Massnahmen­gegner, in diesem Fall des Aktions­bündnisses Urkantone, soll am 19. Februar in Zürich stattfinden. Die Zürcher Stadtpolizei bestätigt auf Anfrage, dass ein Bewilligungs­gesuch eingereicht worden sei.

Hinweis: In einer früheren Version schrieben wir, Sabine Seibold sei Psychologin. Das ist falsch. Seibold ist laut eigenen Angaben zertifizierte psychologische Beraterin (VBW).

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Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit einem Autor, der anonym bleiben möchte.

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