Am Gericht

Urteile, die kein Mensch mehr versteht

Wann muss ein Urteil anonymisiert werden, wann nicht? Eine Studie in den Themen­bereichen Vergewaltigung und Medikamenten­preise kommt zu erstaunlichen Resultaten.

Von Brigitte Hürlimann, 26.01.2022

Ihnen liegt etwas am Rechtsstaat? Uns auch. Deshalb berichten wir jeden Mittwoch über die kleinen Dramen und die grossen Fragen der Schweizer Justiz.

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Justizöffentlichkeit mag ein sperriger Begriff sein – seine Bedeutung aber kann nicht überschätzt werden. Immerhin geht es um ein in der Aufklärung hart erkämpftes Menschenrecht.

Heute ist die Justiz­öffentlichkeit in der Europäischen Menschenrechts­konvention und in der Bundesverfassung verankert. Das Bundesgericht umschreibt sie als ein Prinzip «von zentraler rechtsstaatlicher und demokratischer Bedeutung». Es darf keine Geheimjustiz mehr geben, so die Intention, sondern die Bevölkerung soll nachvollziehen können, wie die Gerichte entscheiden. Eine Kontrolle der dritten Gewalt im Staat wäre anders gar nicht möglich. Die Justiz­öffentlichkeit fördert zudem das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit und die Weiter­entwicklung des Rechts.

Dem Grundsatz steht allerdings ein zweites zentrales Recht entgegen: der Persönlichkeits­schutz. Publizieren die Gerichte ihre Urteile, müssen sie beide Ansprüche berücksichtigen. Das heisst: abwägen, welche Informationen veröffentlicht werden – und welche nicht.

Die Juristin und Ärztin Kerstin Noëlle Vokinger, Professorin an der rechts­wissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, hat zusammen mit ihrem wissenschaftlichen Mitarbeiter David Schneider das Ausmass an Anonymisierung von Urteilen untersucht: anhand von Bundesgerichts­urteilen in zwei komplett unterschiedlichen Themen­bereichen. Das Autorenduo ist auf verblüffende Ergebnisse gestossen.

Ort: Universität Zürich
Zeit: 3. Januar 2022
Thema: Anonymisierung von Gerichtsurteilen

Frau Vokinger, Herr Schneider, warum werden Urteile anonymisiert?
David Schneider:
Es gibt die zwei Ansprüche, die berücksichtigt werden müssen. Die Justiz­öffentlichkeit einerseits, die bedeutet, dass die Bürgerinnen erfahren sollen, was vor Gericht entschieden wird. Es dürfen keine Urteile hinter geschlossener Türe gefällt werden. Auf der anderen Seite geht es um die am Verfahren beteiligten Personen. Sie haben ein Anrecht darauf, dass sie geschützt werden, wenn es um Themen geht, die ihre Persönlichkeit betreffen. Diese beiden Ansprüche müssen in Einklang gebracht werden. Das wird mit der Anonymisierung versucht.

Werden Urteile seit jeher anonymisiert?
Kerstin Noëlle Vokinger:
Der Umfang der Anonymisierung hat sich über die Zeit verändert. Es gibt zudem grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Gerichten. Am Bundespatentgericht wird im Regelfall gar nicht anonymisiert. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg anonymisiert viel weniger als etwa das Bundes­gericht. In der Schweiz ist man generell zurückhaltender als in anderen Ländern, was die Veröffentlichung von Justiz­dokumenten betrifft.

Sie haben Entscheide des Bundesgerichts analysiert, zu zwei sehr unterschiedlichen Themen: Medikamenten­preise und Vergewaltigungen. Warum diese Wahl?
Vokinger:
Für Bundesgerichts­urteile haben wir uns entschieden, weil es sich ums höchste Gericht der Schweiz handelt – und weil es sämtliche Urteile im Internet publiziert. Wir haben uns auf die Medikamenten­preise und die Vergewaltigungs­fälle festgelegt, weil hier die Anliegen der Justiz­öffentlichkeit und des Persönlichkeits­schutzes unterschiedlich stark zu gewichten sind – unserer Meinung nach.

Das müssen Sie näher erklären.
Vokinger
: Beim Tatbestand der Vergewaltigung ist der Schutz von Opfer und Täter stark zu gewichten. Es geht um ein hochsensibles Thema, das den innersten Kern der Persönlichkeit betrifft: die Sexualität. Dem gegenüber stehen die Urteile zu den Medikamenten­preisen. Diese Fälle kommen nur dann vor Gericht, wenn die Hersteller mit der behördlichen Preis­festlegung nicht einverstanden sind. Bei den Medikamenten ist die Öffentlichkeit involviert, weil sie über die obligatorische Kranken­versicherung die Kosten mitträgt. Das Öffentlichkeits­interesse ist dementsprechend gross. Die Gesellschaft soll verstehen und nachvollziehen können, was sie mitfinanziert.
Schneider: Bei den Vergewaltigungs­urteilen sind die Überlegungen meist problemlos nachvollziehbar, auch wenn über die Beteiligten wenig preisgegeben wird. Die Nennung der Staats­angehörigkeit, des exakten Geburtsdatums, des Berufs, eines Hobbys oder des Wohnorts ist für die rechtliche Verständlichkeit des Falls in aller Regel nicht notwendig.

Sie haben Urteile ab dem Jahr 2000 näher angeschaut. Und in dieser Zeitspanne 28 Entscheide zu Medikamenten­preisen und 107 zu Vergewaltigungen gefunden.
Vokinger:
Der rein mengenmässige Unterschied war für uns nicht überraschend. Wir gingen davon aus, dass wir zum Thema Vergewaltigung deutlich mehr Entscheide finden werden; es ist ein Straf­tatbestand, der immer wieder Thema vor Gericht ist.

Kommen wir zum Resultat Ihrer Untersuchung: Hat die Anonymisierung in den vergangenen 21 Jahren zugenommen?
Schneider:
Ja, sie hat generell zugenommen, und zwar in beiden von uns untersuchten Themen­bereichen. Aber: Die Zunahme war im Medikamenten­bereich markant höher als bei den Vergewaltigungs­urteilen. Das haben wir in dieser Deutlichkeit nicht erwartet.
Vokinger: Die Ergebnisse haben uns überrascht. Wir waren davon ausgegangen, dass die Anonymisierungs­quote bei den strafrechtlichen Urteilen stärker steigen würde – und jene bei den Arzneimitteln konstant tief bleibe. Das war unsere Anfangs­hypothese, aber das war nicht der Fall.

Wobei Unternehmen ja auch Geheimhaltungs­interessen haben.
Vokinger:
Bei den Medikamenten beziehungsweise der strittigen Preis­festsetzung geht es um rein geschäftliche Fragen. Warum sollte ein umstrittener Preis für ein bestimmtes, von der Öffentlichkeit mitfinanziertes Medikament ein Geschäfts­geheimnis sein? Dazu kommt, dass das Bundesamt für Gesundheit jene Fälle publiziert, in denen die Preis­festlegung angefochten wurde. Wir haben den Eindruck gewonnen, dass bei den Medikamenten­urteilen viele Informationen pauschal anonymisiert werden. Eigentlich müsste es umgekehrt sein – wegen des grossen öffentlichen Interesses. Es sollte der Grundsatz gelten, dass alles offengelegt wird; ausser, es gibt konkrete Hinweise auf schutzwürdige Geschäfts­geheimnisse. Dann muss natürlich anonymisiert werden.

War die Ausgangslage bei beiden Themen die gleiche?
Vokinger:
Nein, ganz im Gegenteil. Bei den Urteilen zu den Medikamenten wurde zu Beginn der Nullerjahre fast nichts anonymisiert.

Das bedeutet?
Vokinger:
Es wurden das Unternehmen und das Arzneimittel genannt, die Preise und die Indikation. Im Verlauf der Jahre fiel dann immer mehr weg. Es wurde immer mehr geschwärzt beziehungsweise anonymisiert. Wer die neueren Urteile zur Preis­festlegung von Medikamenten liest, kann diese nicht mehr nachvollziehen. Es fehlt an den massgebenden Informationen. Das ist umso erstaunlicher, als ja das Bundesamt für Gesundheit die Fälle publiziert, die vor Gericht hängig sind. Auf dieser im Internet einsehbaren Liste kann man lesen, um welche Unternehmen und welche Medikamente es sich handelt. Die Fälle verschwinden allerdings von der Liste, sobald das Gerichtsurteil gefällt und damit der Fall erledigt ist.

Ausgerechnet beim öffentlichen Gerichts­verfahren hört die Transparenz auf?
Vokinger:
Ja. Man muss sich schon fragen, ob es sinnvoll ist, dass die eine Behörde gewisse Sachverhalte publiziert und die andere es als notwendig erachtet, zu anonymisieren. Das Vorgehen des Bundesamts für Gesundheit ist für uns ein weiteres Indiz für das öffentliche Interesse.

Hat die Anonymisierung auch bei den Vergewaltigungs­urteilen derart stark zugenommen?
Schneider:
Bei diesen Urteilen blieb die Anonymisierungs­quote relativ konstant. Sie war allerdings von Anfang an auf einem deutlich höheren Niveau als bei den Medikamenten­preisen. Eine leichte Zunahme an Anonymisierung konnten wir trotzdem feststellen. Es wird vermehrt darauf geachtet, dass fürs Verständnis nicht relevante, aber potenziell heikle Informationen im Text gar nicht erst auftauchen.

Ist das eine begrüssenswerte Entwicklung?
Schneider:
Ja, weil die betroffenen Personen besser geschützt werden. Und, wie gesagt, die Vergewaltigungs­urteile verlieren dadurch nicht an Verständlichkeit, die rechtlichen Überlegungen bleiben nachvollziehbar. Sie sind meist losgelöst von den Personen, um die es sich handelt. Bei den Urteilen im Medikamenten­bereich sieht die Sache anders aus.

Mit anderen Worten: Die Medikamenten­urteile sind unlesbar und unverständlich geworden?
Vokinger:
Das ist unser Eindruck, ja. Ich als Juristin, Ärztin und Wissenschaftlerin verstehe diese Urteile nicht mehr. Und eben: Wenn man berücksichtigt, dass bei der Preis­festlegung von Medikamenten das öffentliche Interesse klar überwiegt, ist dieser Befund schon bemerkenswert. Um es in Ihren Worten auszudrücken: Es ist keine begrüssenswerte Entwicklung.
Schneider: Wenn aussenstehende Personen bei der Urteilslektüre nicht mehr nachvollziehen können, wie die gerichtlichen Entscheide zustande kamen, muss man sich fragen, ob das Sinn und Zweck einer öffentlichen Justiz ist. Gerade bei Themen wie den Medikamenten­preisen.

Bei den Vergewaltigungs­urteilen sehen Sie die Justiz­öffentlichkeit nicht gefährdet?
Schneider:
Dort ist die Anonymisierung auf einem guten Weg, die Entwicklung ist für uns nachvollziehbar. Heikle Sachverhalts­elemente werden zunehmend anonymisiert. Wir haben beobachtet, dass eine Reflexion stattfindet. Die Überarbeitung wird situativ angepasst und auf den Einzelfall abgestimmt. Eine sorgfältige Anonymisierung gerade in diesem sensiblen Themenbereich ist auch wegen der zunehmenden Digitalisierung von grösster Bedeutung. Je mehr öffentlich zugängliche Quellen vorhanden sind, desto eher ist eine Re-Identifikation möglich; etwa über Social Media oder über ausländische Zeitungs­berichte. Es wird immer einfacher, beteiligte Personen zu identifizieren – auch wenn dies nicht beabsichtigt wurde.
Vokinger: Es gibt nicht die eine Anonymisierungs­strategie, die für alle Urteile passt. Differenzierung ist wichtig.

Trifft das auch für die Medikamenten­urteile zu?
Vokinger:
Bei den Vergewaltigungs­urteilen ist die individualisierte Betrachtung viel stärker ausgeprägt. Jeder Einzelfall, jeder Sachverhalt ist anders. Bei den Medikamenten, das heisst beim Streit um deren Preise, sind die Urteile stets ähnlich aufgebaut. Es geht um eine konkrete Fragestellung – die behördliche Preis­festsetzung – und um wenige rechtliche Grundlagen, die immer angerufen werden. Und immer bestritten sind.

Urteile klug und verhältnismässig zu anonymisieren, ist aufwendig. Besteht die Gefahr, dass die Gerichte diesen Aufwand scheuen und dafür Abstriche an die Verständlichkeit in Kauf nehmen?
Vokinger:
Man muss sich bei gewissen Urteilen überlegen, ob es überhaupt eine Anonymisierung braucht. Dies auch vor dem Hintergrund, dass mit dem Fortschreiten der Digitalisierung vermehrt Daten öffentlich zur Verfügung stehen, die miteinander verknüpft werden können.

Warum ist das problematisch?
Vokinger:
Vermeintlich anonymisierte Informationen können zunehmend reidentifiziert werden. Je persönlichkeits­einschneidender ein Fall ist, desto genauer muss man hinschauen. Da lohnt sich der Aufwand, er ist gerechtfertigt. In anderen Bereichen sollte man pragmatisch sein – vor allem, wenn das öffentliche Interesse derart überwiegt, wie das unserer Meinung nach bei den Medikamenten­urteilen der Fall ist. Einfach eine Software anzuwenden, die immer die gleichen Merkmale anonymisiert, ist nicht zielführend. Sie können den Menschen nicht vollständig ersetzen.

Illustration: Till Lauer

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