Covid-19-Uhr-Newsletter

«Mit» oder «wegen» oder wie jetzt?

24.01.2022

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Synthetische Stimme
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Liebe Leserinnen und Leser – and everyone beyond

Gefühlt regte sich in den vergangenen Tagen die halbe Schweiz darüber auf, dass die Daten des Bundes­amts für Gesundheit auch Kranke mitzählen, die «mit» – und nicht primär «wegen» – Covid-19 ins Spital müssen. Diese Zahlen taugten nicht mehr viel, schrieb etwa die «Sonntags­Zeitung» und verkaufte die Erkenntnis, wie andere Medien, als News. Dass das Bundes­amt für Gesundheit die Daten nicht separat nach «mit» und «wegen» Covid-19 im Spital ausweise, sei ein «Skandal», findet der Autor; die NZZ betrachtet es als seinen «wohl aller­grössten Fehler der letzten Jahre».

Nun ist die Handhabung dieser Zahlen weder besonders neu noch besonders schockierend. Denn die Dinge sind, wie so oft, komplexer als auf den ersten Blick ersichtlich. Lassen Sie uns erklären:

Nicht besonders neu: Covid-19-Spital­eintritte sind Personen mit einem positiven Test – egal aus welchem Grund sie sich ins Spital begeben haben. Die Zahlen des Bundes­amts für Gesundheit, die auch die Republik regelmässig visualisiert, schlossen also immer schon auch jene Patientinnen mit ein, die erst mit dem Test beim Spital­eintritt von ihrer Infektion erfuhren.

Diese Gruppe wird wegen der super­übertragbaren Omikron-Variante, die auch viele bereits immunisierte Leute erwischt, im Spital vermutlich zunehmen. So kommen die Daten gerade jetzt ins Gespräch.

Natürlich sind detaillierter beschriebene Fälle – zum Beispiel nach Geschlecht, nach dem primären Hospitalisierungs­grund oder nach Krankheits­schwere auf einer Skala von 1 bis 10 – in der Regel die besseren Daten. Aber ein Daten­punkt, auch einer mit mehr Informationen, bleibt eine Abstraktion. Gerade für eine Differenzierung der Fälle, die ins Spital kommen, wären die notwendigen Details – «wegen» Covid, «mit» Covid – nicht ganz einfach zu definieren (wir kommen gleich dazu), und sie müssten gut erklärt werden, damit irre­führende Schlüsse vermieden würden (das lässt sich übrigens auch machen).

Nicht besonders schockierend: In der oben beschriebenen Debatte argumentieren viele abgekürzt. Sie tun so, als wäre grund­sätzlich klar einteilbar, wer «mit» und wer «wegen» Covid im Spital liegt. Und sie tun teils auch so, als wären Patientinnen «mit» Covid für das Gesundheits­wesen keine schlechte Nachricht. Beides ist falsch.

«Laborbestätigte Hospitalisierungen», das sind seit dem Frühling 2020 Leute, die wegen Covid-19 mit Atemnot ins Spital fahren.

  • Es sind Diabetiker, deren Zustand sich ohne die Infektion nicht speziell verschlechtert hätte, der aber «mit» (oder «wegen»?) Covid-19 zum Spital­aufenthalt führt.

  • Es sind auch Diabetikerinnen, denen es plötzlich schlechter geht, vielleicht wegen der Infektion, vielleicht wegen der Grund­erkrankung.

  • Es sind ältere Personen, die das Virus nicht besonders heftig erwischt hat, die aber daheim und krank nicht allein klarkommen.

  • Es sind Krebs­patienten, die für eine Operation ins Spital fahren und dort positiv getestet werden. Vielleicht werden sie nur «mit» Covid dableiben. Vielleicht wird sich ihr Zustand «wegen» Covid verschlechtern. Vielleicht wird man sie deswegen auf der Intensiv­station beatmen müssen.

  • Es sind geimpfte Ski­fahrerinnen, die mit einem komplizierten Beinbruch und einer asymptomatischen Infektion aus dem Helikopter getragen werden.

Zwei Kategorien, «mit» oder «wegen», vermögen den Gesundheits­zustand vieler dieser potenziellen Patienten nicht zu fassen. Die Realität ist komplexer als in Tabellen abbildbar.

Und eigentlich gäbe es wichtigere Dinge zu besprechen und zu planen. Wie sich die Omikron-Welle auf die Schweizer Spitäler auswirken wird, wissen wir noch nicht – die Daten zu den Spital­eintritten treffen momentan so verzögert ein, dass man gerade nicht weiss, ob sie schweizweit zu- oder abnehmen.

Klar ist aber:

  • dass durch die schiere Menge der Omikron-Infektionen grosser Druck auf Spitäler entstehen könnte, wie anhand der Erfahrungen anderer Länder sichtbar wird. «It’s crazy» – so beurteilte die Lage kürzlich ein US-amerikanischer Arzt gegenüber der «New York Times». Und crazy fällt nun auf weniger Schultern als zuvor, weil Personal fehlt: wegen Berufs­wechseln, Burn-outs, Covid-19-Infektionen.

Das führt zu mehreren Teufels­kreisen:

  • Mehr Infizierte im Spital bedeutet, dass sich mehr Personal ansteckt, und das bedeutet noch weniger Schultern – egal, ob die Infizierten «mit» oder «wegen» oder «wegen und mit» oder «zunächst mit, dann wegen» Covid im Spital sind.

  • Mehr Infizierte im Spital und weniger Personal bedeutet mehr verschobene, nicht dringende Eingriffe, und das bedeutet eine höhere Krankheits­last in der Bevölkerung, und das bedeutet irgendwann noch mehr Druck im Gesundheits­system.

Es gibt ihn nicht und gab ihn nie, den Superindikator, mit dem man die epidemiologische Lage genau erfassen kann: Spital­eintritte, Fallzahlen, Todes­fälle, alle Messgrössen haben Vor- und Nachteile. Um die epidemiologische Lage am Tag X zu beurteilen, wird man auch künftig nicht vermeiden können, mehrere Indikatoren und weitere Studien und Fakten zu berücksichtigen.

Nun ist es nicht schweizspezifisch, dass hier an den eigentlich wichtigen Themen vorbei­debattiert wird: Ähnliche Diskussionen finden gerade in Grossbritannien, den USA, Spanien und Frankreich statt. Die Menschen sind überall müde und gereizt. Vielleicht tun ja auch Ihren Nerven die paar unaufgeregten Gedanken dazu gut.

Und nun zum aktuellen Geschehen im In- und Ausland.

Was Sie diese Woche wissen sollten

Bundesrat verlängert Corona-Massnahmen: Nach Konsultation der Kantone hat der Bundesrat vergangenen Mittwoch aufgrund der Situation in den Spitälern weitere Anpassungen in der Pandemiebekämpfung bekannt gegeben. Die Kontakt­quarantäne sowie die Homeoffice-Pflicht sind neu bis auf Ende Februar verlängert. 2G, 2G+ sowie die ausgeweitete Maskenpflicht in bestimmten Innenräumen gelten provisorisch bis Ende März, ebenso die 3G-Regel für Aussen­veranstaltungen und die Einschränkung von privaten Treffen. Sollte sich die epidemiologische Lage entspannen, können diese Massnahmen vor Ende März wieder gestrichen werden. Weiter hat der Bundesrat die Gültigkeit der Covid-Zertifikate auf 270 Tage herabgesetzt und damit an den EU-Standard angepasst. Für Menschen, die in die Schweiz einreisen, gilt zudem neu eine 3G-Regel: Geimpfte und Genesene müssen sich vor der Einreise nicht mehr testen lassen.

Was wir über Omikrons Untervariante BA.2 wissen: In den vergangenen Tagen häuften sich die Meldungen zu BA.2, einer aus Omikron entstandenen Virusvariante. So viel vorweg: Vieles ist noch unklar. Die Untervariante wurde erstmals im November 2021 identifiziert. Gemäss der UK Health Security Agency wurde sie inzwischen in 40 Ländern weltweit festgestellt. In Dänemark verbreitet sich BA.2 sehr schnell und stellt inzwischen gut die Hälfte aller Fälle. Die schnelle Verdrängung der bisher vorherrschenden Omikron-Untervariante BA.1 lässt darauf schliessen, dass BA.2 über einen gewichtigen Vorteil verfügt. Was dieser Vorteil genau ist – also ob sich BA.2 zum Beispiel besser an unserem Immunschutz vorbeischleichen kann – ist noch unklar. Ebenso lässt sich noch nicht sagen, ob BA.2 andere Krankheitsverläufe verursacht.

Freedom Day Nummer 2 in England: Der britische Premierminister Boris Johnson kippt einen Grossteil der Covid-Massnahmen in England. Das Tragen einer Schutzmaske in Innenräumen ist neu freiwillig, die Homeoffice-Pflicht ist abgeschafft, und auch ein Zertifikat braucht es für den Besuch einer Veranstaltung oder eines Clubs ab Mittwoch nicht mehr. Die Ankündigung des (wegen Lockdown-Partys jüngst in die Kritik geratenen) Premier­ministers in der vergangenen Woche folgt auf Wochen der sinkenden Fallzahlen und Hospitalisierungen. In Österreich derweil hat es die Impfpflicht durchs Parlament geschafft. Wer mindestens 18 Jahre alt ist und sich nicht impfen lässt, dem droht ab Mitte März eine Geldstrafe von bis zu 3600 Euro.

Und zum Schluss gibts was zu feiern:

Sie lesen nämlich gerade den 200. Covid-19-Uhr-Newsletter der Republik. Hurra! 200-mal haben wir – die Redaktion und zahlreiche externe Autorinnen – für Sie in die Tasten gehauen und versucht, Ihnen durch diese schon viel zu lange andauernde Mistzeit zu helfen. Manchmal gelang uns das vielleicht schlechter, manchmal besser, auf jeden Fall half und hilft es auch uns durch die Mistzeit. Hier wollen wir dem, wie wir finden, Besten frönen, das wir zustande gebracht haben. Den Editorials, die uns am stärksten in Erinnerung geblieben sind. Weil sie besonders informativ waren oder besonders nützlich; weil sie uns zum Lachen brachten oder eine Träne verdrücken liessen. Da wären zum Beispiel:

Was waren Ihre liebsten Newsletter-Ausgaben? Lassen Sie es uns gerne wissen und schreiben Sie an covid19@republik.ch.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Ronja Beck und Marie-José Kolly Datne

PS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPS: Vom Paul-Ehrlich-Institut, das in Deutschland die Zulassung bestimmter Arzneimittel verantwortet, gibt es vergleichende Daten zur Beurteilung von Antigen-Schnelltests. Daraus hat das Kollektiv Zerforschung einen Schnelltest-Test programmiert, der Ihre Selbsttests testet.

PPPS: Impfen oder nicht? Die Antwort hierauf ist vielerorts politisch polarisiert, ganz besonders in den USA. Nur: nicht unter den Bewohnerinnen von Altersheimen. Je höher das Risiko, desto weniger scheint die Politik eine Rolle zu spielen.

PPPPS: Schon einmal einen richtig, richtig wütenden Fernsehsprecher gesehen? Hier ist einer.

In einer früheren Version dieses Newsletters schrieben wir im PPS, der Schnelltest-Test sei vom Paul-Ehrlich-Institut. Richtig ist: Vom Institut stammt die Beurteilung, die interaktive Maske hat das Kollektiv Zerforschung programmiert.

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