Und dann geht es plötzlich schnell
Die Pandemie überrumpelt unsere Vorstellungskraft immer wieder. Kein Wunder: Exponentielle Wachstumsdynamiken sind wir aus vielen anderen Lebensbereichen nicht gewohnt.
Von Simon Schmid, 17.01.2022
Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!
Die Corona-Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie rasch sich gewisse Dinge verändern können. Das jüngste Beispiel dafür liefert Omikron.
Ende November wurde die neue Virusvariante erstmals in der Schweiz nachgewiesen. Inzwischen sind wir bei rund 30’000 Ansteckungen pro Tag angelangt, von denen eine deutliche Mehrheit auf Omikron zurückgeht.
Der rasche Fallzahlenanstieg mag manche überrascht haben. Allerdings war er einigermassen absehbar. Denn eine Zahl in genau dieser Dimension würde man rein mathematisch – Omikron hat das Potenzial, den Aktionsradius alle 2 bis 4 Tage zu verdoppeln – nach eineinhalb Monaten auch erwarten.
Wer das nachprüfen will: Hier ist die dazugehörige Rechnung (unter der Annahme, dass sich die Fallzahlen exakt alle 3 Tage verdoppeln).
Tag 0: 1 Fall
3. Tag: 2 Fälle
6. Tag: 4 Fälle
9. Tag: 8 Fälle
…
36. Tag: 4096 Fälle
39. Tag: 8192 Fälle
42. Tag: 16’384 Fälle
45. Tag: 32’768 Fälle
Eine Dynamik dieser Art wird als exponentielles Wachstum bezeichnet.
Exponentielles Wachstum bedeutet, dass eine Grösse in einer bestimmten Zeitperiode immer um denselben Faktor wächst. Die Grösse wird also zum Beispiel alle 3 Tage mit dem Faktor 2 multipliziert (dann wächst sie rasend schnell, so wie die Omikron-Fallzahlen) oder einmal im Jahr mit dem Faktor 1,01 (dann wächst sie eher langsam, so wie die Einwohnerzahl in der Schweiz).
Doch so einfach sich exponentielles Wachstum auf einer mathematischen Ebene fassen lässt – so schwierig ist es doch, mental damit klarzukommen.
Das liegt auch daran, dass es in unserer Lebenswelt nicht allzu viele Dinge gibt, an denen wir exponentielles Wachstum mitverfolgen können.
Supercomputer in der Handtasche
Ein Beispiel aus der Computertechnik sind Mikroprozessoren. Gordon Moore, Mitgründer des Chipfabrikanten Intel, formulierte 1965 folgende Gesetzmässigkeit: Alle zwei Jahre würde der technische Fortschritt dazu führen, dass doppelt so viele Transistoren wie bisher in einen Chip passen, womit sich auch die Rechenleistung des Prozessors verdoppelt.
Moore’s law hat sich bewährt. Die Transistorendichte ist seit den 1970er-Jahren tatsächlich exponentiell gewachsen. Man erkennt dies im Ansatz, wenn man die Anzahl der Transistoren pro Mikroprozessor in einer Grafik einzeichnet: 1971 lag sie bei 2000, im Jahr 2017 bei knapp 20 Milliarden.
Heutige Smartphones sind nicht nur viel kleiner als die Computer, die etwa bei der ersten Mondlandung von 1969 zum Einsatz kamen. Sondern sie haben auch millionenmal so viel Rechenleistung wie die damaligen Maschinen.
Um solche Steigerungen grafisch darzustellen, wird typischerweise auf logarithmische Skalen zurückgegriffen. Diese funktionieren mit Zehnerpotenzen: Jeder Sprung zur nächstoberen Linie entspricht einer Steigerung um den Faktor 10. Wächst eine Grösse exponentiell, so läuft sie auf der Grafik nicht mehr gekrümmt nach oben zu, sondern sie erscheint als Gerade.
Ob das mooresche Gesetz bereits gebrochen ist oder bald zusammenbrechen wird, diese Frage wird im Silicon Valley immer wieder diskutiert (und gern auch bestritten). Befürchtet wird, dass die Chip-Entwicklung dereinst an atomare Grenzen stossen muss: Irgendwann ist zwangsläufig der Punkt erreicht, an dem elektrische Einzelteile nicht noch dünner werden können.
Dass sich die Rechenpower von Computern nicht bis in alle Ewigkeit hinein steigern lässt, diese Vermutung scheint in der Tat naheliegend. Denn praktisch nichts auf der Welt wächst über längere Zeit hinweg exponentiell.
Wipfelstürmer
Ein typisches Beispiel dafür sind Bakterienkulturen. In einer Petrischale vermehren sie sich zunächst exponentiell: Bakterien zweiteilen sich in regelmässigen Zeitabständen, und so verdoppelt sich ihre Anzahl laufend.
Nach einer Weile verlangsamt sich das Bakterienwachstum jedoch. Sei es, weil der Platz in der Schale zu eng wird, sei es, weil die Nahrung ausgeht: Die Kurve flacht ab, aus exponentiellem wird sogenannt logistisches Wachstum.
Logistisches Wachstum ist in der Natur der Regelfall. Auf einer Grafik nimmt es die Form einer S-Kurve an: Sie wird zunächst immer steiler und flacht danach wieder ab. Exemplarisch dafür sind die folgenden Daten, die einem Artikel von zwei chinesischen Waldforschern entnommen sind. Sie zeichnen nach, wie ein 265 Jahre alter Baum – eine Korea-Kiefer, die irgendwo im Nordosten von China steht – über die Zeit gewachsen ist.
Man erkennt auf der Grafik, wie der Baum ungefähr bis zum 80. Lebensjahr linear gewachsen ist; jedes Jahr um einen ähnlichen Betrag. Danach krümmt sich die Kurve nach oben, das Wachstum wird zwischenzeitlich exponentiell. Ab dem 140. Lebensjahr verlangsamt sich das Wachstum schliesslich wieder.
Zeichnet man dieselben Daten auf einer logarithmischen Skala ein, so wird aus der S-Kurve eine einseitig abflachende Kurve. Einzig im Mittelteil verläuft sie stetig aufwärts – ein Zeichen dafür, dass der Baum in dieser Phase mit konstanten Raten gewachsen ist, also jeweils nicht um einen Betrag X, sondern um einen Faktor X. Zum Ende wird auch sie immer weniger steil.
Solches Wachstum, das sich mit der Zeit verlangsamt, ist typisch für die Natur. Oft hören Lebewesen an einem bestimmten Punkt auch ganz auf zu wachsen. Das beste Beispiel dafür sind wir Menschen selbst.
Mit sechzig ist Schluss
Geht man ganz an den Anfang zurück, so beginnen auch wir unser Leben als einzelne Zelle – als Eizelle, die von einem Spermium befruchtet wurde.
Ziemlich rasch setzt danach das exponentielle Wachstum ein: Die Zelle teilt sich und jede der so entstandenen Zellen teilt sich erneut, bis daraus ein Zellhaufen, eine Art von Schlauchsystem, etwas, das aussieht wie ein kleines Gummibärchen und schliesslich ein ausgewachsener Fötus, wird.
Während dieses Vorgangs nimmt unser Gewicht stetig zu. Zunächst – etwa bis zur 12. Schwangerschaftswoche – in annähernd exponentiellem Tempo. Anschliessend – der Platz im Bauch wird immer enger – mit abnehmender Rate, wie auf der zweiten Grafik mit der logarithmischen Achse erkennbar ist.
Ist die Geburt überstanden, setzen wir Menschen unser Gewichtswachstum bis ins Alter von ungefähr 18 Jahren fort. Ob linear oder exponentiell, ist aus den Daten (sie stammen vom Statistischen Bundesamt von Deutschland) nicht ganz klar. Jedenfalls kommt es beim Übergang ins Erwachsenenalter zu einem Knick: Ab hier nimmt unser Gewicht typischerweise nur noch sehr langsam zu, bis es im Alter von 60 Jahren ungefähr sein Maximum erreicht.
Den explosiven Teil unseres Wachstums erleben wir Menschen demnach gar nicht mit. Denn er spielt sich nur zu Beginn der Schwangerschaft ab, wo sich das Gewicht jede Woche verdoppelt: 1 Gramm, 2 Gramm, 4 Gramm, 8 Gramm.
Die spätere Gewichtszunahme, die wir bewusst miterleben, verläuft viel gemächlicher: 20 Kilogramm, 25 Kilogramm, 30 Kilogramm, 35 Kilogramm. Und ab dem Pensionsalter geht unser Gewicht vielfach sogar zurück.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass uns exponentielles Wachstum – so, wie wir es mit den Neuinfektionen jetzt in der Pandemie erleben – als etwas Fremdes vorkommt, mit dem wir gedanklich nur schlecht zurechtkommen.
Doch uns sollte bewusst sein, dass nicht nur ansteckende Krankheiten, sondern auch andere Phänomene ähnliche Dynamiken aufweisen können.
Schneller, grösser, weiter
Ein solcher Bereich ist die Wirtschaft. Soweit die Daten diesen Schluss zulassen – je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto unpräziser werden die Schätzungen – hat seit dem Spätmittelalter auch hier ein spektakuläres, zeitweise sogar überexponentielles Wachstum stattgefunden.
Die folgenden zwei Grafiken illustrieren die Entwicklung. Sie beziehen sich auf Grossbritannien und zeigen, wie sich das Bruttoinlandprodukt pro Kopf seit dem Jahr 1400 verändert hat – auf der ersten Grafik mit der üblichen linearen Achse, auf der zweiten Grafik mit einer logarithmischen Achse.
Aufschlussreich ist besonders die zweite Grafik. Man erkennt auf ihr gut, wie die Wirtschaftsleistung – also die Güter und Dienstleistungen, die pro Kopf produziert und konsumiert werden konnten – bis Ende des 15. Jahrhunderts kaum zunahm. Britinnen erfuhren damals Zeit ihres Lebens kaum Fortschritt. Grosseltern, Eltern, Kinder: Jede Generation musste, ausgedrückt in heutigen Kaufkrafteinheiten, mit rund 1500 Dollar im Jahr auskommen.
Ab dem 17. Jahrhundert sorgten erst die landwirtschaftliche und dann die industrielle Revolution für einen beispiellosen Zuwachs. So stieg das BIP pro Kopf bis ins Jahr 1800 um mehr als das Doppelte bis auf 3400 Dollar an, um sich innerhalb der nächsten hundert Jahre erneut mehr als zu verdoppeln – auf 7600 Dollar. Im 20. Jahrhundert kam es dann sogar zu einer Vervierfachung auf über 30’000 Dollar, angetrieben durch unzählige technische Erfindungen.
Auch das Wirtschaftswachstum hat seine Grenzen. Darauf deuten die Daten seit der Jahrtausendwende und insbesondere seit der Finanzkrise hin. Seither sinken die Wachstumsraten: Lagen sie in Grossbritannien während der 1960er- und 1970er-Jahre noch bei 3 bis 4 Prozent, gilt eine jährliche Zunahme des BIP pro Kopf um 1 Prozent heute bereits als Erfolg.
Doch auch eine Wirtschaft, die nur mit 1 Prozent wächst, verdoppelt sich mathematisch gesehen alle 70 Jahre. Unsere Kindeskinder würden demnach doppelt so viel Wohlstand produzieren und konsumieren wie wir heute.
Die Diskussion darüber, ob das überhaupt geht, ist zu umfangreich, als dass wir hier gebührend darauf eingehen könnten. Vielleicht nur so viel: So weit die Wirtschaftsleistung nicht auf weitgehend immaterieller Wertschöpfung beruht – zum Beispiel in Form von digitalen Dienstleistungen oder neuen Therapien gegen Krankheiten –, sondern auf dem Verbrauch von Ressourcen, geht das wahrscheinlich nicht. Würde die ganze Welt so viele Rohstoffe verbrauchen wie Grossbritannien, wären dafür schon heute mehr als zwei Planeten nötig. So gesehen ist es wahrscheinlich, dass auch die Wirtschaft ihren Wachstumskurs dereinst verlässt und in eine S-Kurve übergeht.
Doch eine Garantie dafür gibt es nicht. (Ein wirtschaftlicher game changer wäre etwa, wenn die Menschheit nukleare Fusionsreaktoren zur Serienreife bringt, was einer schier unerschöpflichen Quelle von Energie gleichkäme.)
Bleiben wir deshalb wachsam. Exponentielles Wachstum hat uns schon oft überrumpelt und kann dies auch in Zukunft immer wieder mal tun.