Von unsichtbarer Hand
Eigentlich weist am Bundesverwaltungsgericht eine Software den Richtern die Fälle zu. Doch das Programm wird regelmässig übersteuert. Und jetzt zeigt sich: Sogar Unbefugte konnten eingreifen. Besonders häufig passiert ist dies bei Asylentscheiden.
Eine Recherche von Sascha Buchbinder, 11.01.2022
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Am Bundesverwaltungsgericht bestimmt ein Algorithmus, welche Richter welchen Fall übernehmen. «Bandlimat» wird das Programm intern genannt, nach dem ersten Gerichtspräsidenten Christoph Bandli. Der Bandlimat soll sicherstellen, dass die Auswahl der Richterinnen strikt neutral gemacht wird.
Dieses elektronische Zuteilungssystem nach dem Zufallsprinzip – eine Art Gütesiegel für Unparteilichkeit – arbeite in 95 Prozent der Fälle vollautomatisch, erklärte die Gerichtsleitung jahrelang gegenüber der Aufsicht und der Öffentlichkeit. Doch das stimmt nicht, wie die SRF-«Rundschau» aufdeckte.
Nun kommt auch eine aktuelle Studie, die in der Schweizer Richterzeitung «Justice – Justiz – Giustizia» veröffentlicht wurde, zu diesem Schluss: «Der vom Bundesverwaltungsgericht erweckte Anschein einer grundsätzlich automatisierten Spruchkörperbildung entspricht nicht der geübten Praxis», schreiben Forscher der Universitäten Zürich und Bern. Basis ihrer Aussage ist die Analyse von insgesamt 47’291 Urteilen der Jahre 2008 bis 2018.
Nicht wie von der Gerichtsleitung behauptet in 5 Prozent, sondern in 45 Prozent der Fälle werde das Ergebnis des Bandlimaten abgeändert.
Und das besonders häufig bei Ausländer- und Asylentscheiden.
Gerade im Asylbereich, wo die meisten Urteile gefällt werden, beeinflussen Parteibuch und Weltanschauung der Richterinnen nachweislich das Ergebnis. Die Auswahl bestimmt auch das Urteil. Warum werden also ausgerechnet da am Bundesverwaltungsgericht eigene Rechnungen angestellt und die Zuteilungen nicht dem Zufall überlassen?
Eingriffe ohne Kontrolle
Die Einführung des Bandlimaten 2007 am Bundesverwaltungsgericht markierte eigentlich einen Fortschritt. An den meisten Gerichten in der Schweiz werden bis heute die Fälle von Hand zugewiesen. Erst in zwei Kantonen ist inzwischen Software im Einsatz, am Bundesgericht auch «CompCour», am Bundesstrafgericht arbeiten sie noch mit Excel-Listen.
Im Gerichtsalltag am Bundesverwaltungsgericht wählt zunächst immer der Bandlimat die Richter aus. Doch nachträglich wird das Ergebnis regelmässig abgeändert. Legitime und häufige Gründe dafür sind die Verfahrenssprache, die Verbindung zu früheren Entscheiden oder die Abwesenheit von vorgesehenen Richterinnen.
Gravierend ist hingegen die grösste Gruppe von Änderungen: Laut der neuen Studie ist bei 40 Prozent der Eingriffe nicht nachvollziehbar, warum sie durchgeführt wurden – und damit steht tatsächlich der Verdacht im Raum, dass jemand die Verfahren durch die passende Auswahl beeinflussen könnte.
Besonders brisant: Die Forscherinnen der Universitäten Zürich und Bern legen offen, dass die Abteilungspräsidien die Bedienung des Bandlimaten teilweise delegiert haben. Und wer den Automaten bedient, kann die Auswahl der Richter frei abändern. Zunächst ging diese Kompetenz an die Richterinnen selbst, danach an Gerichtsschreiber sowie das Kanzleipersonal. Der Zugriff von Gerichtspersonal sei unzulässig, schreiben die Zürcher Professorin für Verwaltungsrecht Regina Kiener und ihr Berner Kollege Andreas Lienhard. Sie haben für die Studie mit den beiden Ökonomen Konstantin Büchel und Marcus Roller zusammengearbeitet, welche die Daten ausgewertet haben.
119 Personen mit Zugriff auf den Bandlimaten haben die Forscherinnen eruiert.
Übersichtlich ginge anders.
Tausende Entscheide im Zwielicht
Die Leitung des Bundesverwaltungsgerichts dementiert schriftlich: «Es stimmt nicht, dass unbefugte Personen den Bandlimat bedient haben.» Das ausführende Personal müsse sich an strikte Regeln halten, Ermessensentscheide würden von den Abteilungs- oder Kammerpräsidien getroffen.
Doch Gespräche mit Insidern und die internen Reglemente zeigen ein etwas anderes Bild. Die kritisierte Praxis, die unbefugten Personen Zugriff auf den Bandlimaten erlaubt, betrifft die Abteilungen IV und V, beide zuständig für Asylentscheide. Zusammen behandeln sie jährlich rund 4000 Fälle. Bei der Abteilung V werden die manuellen Änderungen durch das Kanzleipersonal von niemandem überprüft, sagen Informanten.
Damit konfrontiert, erklärt das Bundesverwaltungsgericht, dass auch an der Abteilung V die Richterzuteilung systematisch kontrolliert werde – allerdings erst seit Frühjahr 2021.
Der Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer findet die Ergebnisse der Studie ernüchternd. Er bestätigt, dass die Präsidien die Aufgabe nicht an Gerichtsschreiberinnen und die Kanzlei hätten delegieren dürfen. Irritierend sei auch: Der Bandlimat sei immer als Zufallsgenerator dargestellt worden, diene tatsächlich aber primär zur gleichmässigen Verteilung der Arbeitslast.
Einer, der die Unbestechlichkeit des Bandlimaten schon länger anzweifelt, ist der Berner Rechtsanwalt Gabriel Püntener. 2018 entschied das Bundesgericht über eine Aufsichtsbeschwerde von Püntener. Er hatte Beschwerde eingereicht, weil ihm bei seinen Fällen immer wieder dieselben Richter zugeteilt wurden. Richter, die er für voreingenommen hielt.
Seine Beschwerde stützte Püntener mit einem mathematischen Gutachten, das die Richterzuteilung in 146 Verfahren analysierte. Ergebnis: Die sichtbaren Muster entsprachen nicht dem statistisch Erwartbaren. Tatsächlich bestätigte das Bundesgericht daraufhin, dass in einem Drittel der Fälle die automatische Richterzuteilung des Computers nachträglich von jemandem abgeändert worden war. Allerdings sei das unproblematisch, solange aus guten Gründen eingegriffen werde, urteilte das Bundesgericht.
Vorwurf der Manipulation
Seither steht die Frage im Raum, ob bei Eingriffen wirklich immer alles streng korrekt gemacht wird. Zumal Püntener immer wieder neue Hinweise auf Unregelmässigkeiten zusammentrug: 2019 wurden über 40 Prozent seiner Fälle von Gremien entschieden, in denen zwei oder sogar alle drei Richterinnen dasselbe Parteibuch hatten. Die Gerichte waren also regelmässig politisch einseitig besetzt. Gerade im Asylwesen ist das problematisch, weil hier das Parteibuch die Entscheidung der Gerichte besonders deutlich prägt.
Aktuell sind 54 Prozent seiner Fälle einem Instruktionsrichter mit SVP-Parteibuch zugeteilt. «Das liegt deutlich über dem tatsächlichen Anteil an SVP-Richtern und lässt sich nur durch gezielte und widerrechtliche Manipulation des Systems erklären», sagt Rechtsanwalt Püntener.
Für ihn ist die neue Studie der Beleg dafür, «dass der Bandlimat eben doch keine Garantie gegen Manipulationen bietet». In einem Brief ans Bundesverwaltungsgericht verlangt er eine Untersuchung. Einmal mehr. Seit 2018 hat Püntener systematisch Auskunft darüber verlangt, wie der Spruchkörper gebildet wurde. Statt die Frage zu beantworten, auferlegte ihm das Gericht jeweils persönlich zu zahlende Kosten – insgesamt 46’800 Franken. Die Kosten haben Strafcharakter. Die Begründung: Die Fragen hätten zum Ziel, den Gerichtsbetrieb aufzuhalten. Und in Zukunft? Die neue Studie verändere die Ausgangslage nicht, hält das Gericht fest.
Hat das Bundesverwaltungsgericht etwas zu verbergen? Staatsrechtsprofessor Schefer hält dem entgegen, dass die Gerichtsleitung dann kaum die gesamten Datensätze für eine Studie zur Verfügung gestellt hätte. Trotzdem findet er die Zahl der Eingriffe und die Lücken in der Dokumentation beunruhigend: «So fehlen dem Gericht die Rechtfertigungen, um Unregelmässigkeiten wie bei Rechtsanwalt Gabriel Püntener glaubwürdig zu entkräften.»
Widerrechtliche Reglemente
Das Bundesverwaltungsgericht erklärt dazu auf Anfrage schriftlich, man habe beim Bandlimaten «Entwicklungspotenzial erkannt». Grundsätzlich gelte aber: Manuelle Umbesetzungen seien weder manipulativ noch verfassungswidrig, die bestehenden Regeln würden immer eingehalten. «Das Ausmass des manuellen Anteils mag überraschen, verdeutlicht aber, dass die Automatisierung auch an Grenzen stösst.»
Nach Kritik durch die Geschäftsprüfungskommission (GPK) im Sommer habe das Gericht bereits reagiert. Beim Bandlimaten und im Geschäftsverwaltungssystem sei das Vorgehen systematisiert worden. Alle Anpassungen würden dokumentiert, und ab diesem Jahr sei auch ein Controlling möglich.
Die Beschwerden von Anwalt Püntener, ihm würden in Asylfällen regelmässig SVP-dominierte Richtergremien zugeteilt, lässt das Bundesverwaltungsgericht nicht gelten. Das Parlament wähle zwar die Richter nach Parteiproporz, aber im Alltag spiele die Parteizugehörigkeit keine Rolle. «Ich bezweifle, dass die Parteizugehörigkeit das ausschlaggebende Kriterium für einen Entscheid ist», sagte die damalige Gerichtspräsidentin Marianne Ryter nach der «Rundschau»-Recherche. Natürlich hätten alle Richter persönliche Überzeugungen. Die Parteizugehörigkeit sei aber nicht mehr als ein «Etikett».
Im Unterschied dazu stellt der Jurist Gabriel Gertsch 2021 in seiner Dissertation fest, dass sich die Parteizugehörigkeit im Asylbereich statistisch signifikant in den Urteilen niederschlägt: Während SVP-Richter lediglich 5 Prozent der Beschwerden gutheissen, sind es bei Richterinnen aus dem rot-grünen Lager 20 Prozent. Die ETH-Publikation bestätigt anhand von Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts die Ergebnisse einer früheren, international vergleichenden Studie der Universität Oxford, die von «Flüchtlingsroulette» spricht.
Die Studie zum Bandlimaten der Universitäten Zürich und Bern geht ebenfalls davon aus, dass der Einfluss der Parteizugehörigkeit auf Urteile nachgewiesen ist. Und hält fest: «Es ist (…) von erheblicher Relevanz, dass für die Bildung des Spruchkörpers klare Vorgaben und taugliche Mechanismen bestehen.»
Das klingt banal, ist aber nicht Realität.
Am Bundesverwaltungsgericht haben sich die einzelnen Abteilungen je eigene Reglemente erarbeitet. Der Republik liegen Reglemente vor, die nicht öffentlich sind und teils im Widerspruch zu übergeordnetem Recht stehen.
Die grüne Nationalrätin Sibel Arslan, Mitglied der Rechts- und der Gerichtskommission, ist schockiert: «Die GPK muss dem prioritär nachgehen.» Ausserdem werde sie das Thema in die Gerichtskommission einbringen.
Doch nicht nur die Politik stehe in der Pflicht, sondern auch die Gerichte selbst, sagt Arslan: «Die Richterinnen und Richter sind nicht gewählt, um sich gegenseitig zu schützen. Wenn etwas nicht richtig funktioniert, müssen sie das Problem angehen.» Wenn ein Anwalt nicht mehr darauf vertrauen könne, dass die Richterbank korrekt zusammengestellt werde, «dann machen wir uns verletzlich, das schadet uns allen».
Die neue Studie aus Bern und Zürich legte einmal mehr offen, dass in der Schweiz die Regeln für die Richterinnenauswahl eher rudimentär sind und hinter den Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zurückbleiben. Auch da ist Entwicklungspotenzial erkennbar – für die Gerichte, aber auch für die Gesetzgeber im eidgenössischen Parlament.
Zumal sich das Verwaltungsgericht hartnäckig weigert, die von Rechtsanwalt Gabriel Püntener dokumentierten Zweifel am angeblich vollautomatisierten System auch nur abzuklären – obwohl diese Zweifel immer lauter werden.
Sascha Buchbinder ist Recherchejournalist bei der SRF-Sendung «Rundschau». Zuvor war er Lokaljournalist, Auslandskorrespondent und Inlandredaktor für NZZ, «Tages-Anzeiger» und Radio SRF. Für die Republik schrieb er zuletzt über Missstände am Bundesstrafgericht.