Auf lange Sicht

Woran wir sterben

Vom Krebs besiegt, bei einem Unfall ums Leben gekommen, Suizid begangen: Die meisten Menschen können schlecht einschätzen, wie häufig welche Todesursache ist. Und Sie?

Von Felix Michel, 10.01.2022

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Tod.

Nur drei Buchstaben. Doch für mich eine mächtige Angst, die nach mir greift.

Das war schon immer so. Bereits als Kind, wenn ich nachts im Bett an den Tod dachte, rollte eine dunkle Wassermasse auf mich zu, spülte mich weg und zog mich in ein schwarzes Loch hinab. Ich konnte mich nicht wehren.

Je älter ich wurde, desto seltener wurden diese Momente. Ich konnte die Gedanken an den Tod immer erfolgreicher verdrängen. Trotzdem bleibt ein gewisses Unbehagen: Irgendwann müssen wir alle sterben.

Wann? Und woran?

Um den Tod ein Stück weit zu objektivieren – und als Konfrontations­therapie für mich selbst – habe ich die Statistik der Todesursachen untersucht. Und dabei rasch realisiert: Wie die meisten Leute hatte auch ich ein falsches Bild davon, auf welche Weise das Leben typischerweise endet.

Fünf Ursachen, fünf Schätzfragen

Wie häufig sterben Menschen aus welchem Grund?

Um zu testen, wie nahe Ihre quantitativen Vorstellungen vom Sterben an der Realität sind, beantworten Sie zunächst die folgenden fünf Schätzfragen.

Wenn es Ihnen bei diesen Schätzfragen so ging wie mir, dann haben Sie unterschätzt, wie viele Personen an Krebs, Demenz und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben. Und den Anteil derjenigen Personen überschätzt, die an einem Unfall oder durch Suizid gestorben sind.

Dieses Resultat ist konsistent mit Studien. Das Markt­forschungs­unternehmen Ipsos beispielsweise hat 16’000 Personen ähnliche Fragen über den Tod und die häufigsten Ursachen davon gestellt. Aus den Antworten geht hervor, dass die befragten Personen tendenziell genau dieselben Fehler machen: Sie unterschätzten, wie häufig Krebs- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie neurologische Erkrankungen wie Demenz zum Tode führen. Verkehrs­unfälle und Suizid wurden dagegen überschätzt.

Woran wir sterben

Todesursachen über alle Altersgruppen

TatsächlichHerz-Kreislauf-Krankheiten032 % Krebserkrankungen024 % Neurologische Krankheiten09 % Suizid02 % Verkehrsunfälle02 % Schätzung 011 % 015 % 05 % 07 % 010 %

Die Prozentwerte zeigen den Durchschnitt aus 32 Ländern und weichen daher von den Daten für die Schweiz ab. Quelle: Ipsos.

Menschen sind also erstaunlich schlecht darin, die Ursachen für ihr eigenes Ableben korrekt einzuschätzen. Am Tod selbst liegt das allerdings nicht. Wir haben grundsätzlich Mühe damit, Häufigkeiten korrekt einzuordnen.

Etwas Kognitionspsychologie

Das liegt an unserer Wahrnehmung. Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang von «kognitiven Verzerrungen» und in diesem speziellen Fall von der «Verfügbarkeits­heuristik». Dahinter steckt Folgendes:

Wir begegnen dem Tod im Alltag immer wieder – im Kontakt mit anderen Menschen, in Medien, in Büchern oder im Internet. Diese Begegnungen prägen unsere Erfahrungen und Erinnerungen. In der Kognitions­psychologie geht man davon aus, dass wir uns an einzelne prägende Ereignisse einfacher erinnern und sich diese Fähigkeit auf unsere Entscheidungen auswirkt.

Sterben Hunderte Menschen bei einem Flugzeugabsturz, hinterlässt das einen tieferen Graben in unserer Erinnerung als ein Autounfall. Erfahren wir vom Suizid eines jungen Menschen, wühlt uns das stärker auf als der Tod des älteren Mannes mit einer Herz-Kreislauf-Erkrankung. Wenn wir nun schätzen sollen, welche Todesursache wie häufig ist, kramen wir nicht lange in unseren Erinnerungen, sondern greifen auf die Informationen zurück, die sich am schnellsten und einfachsten abrufen lassen. Und dazu gehören eben nicht nur die Ereignisse, die häufig passieren, sondern speziell auch jene, die einen bleibenden Eindruck in unserem Gedächtnis hinterlassen haben.

Geprägt sind unsere Erinnerungen zum einen von realen Begebenheiten, zum anderen durch die Medien. Bereits in den 1980er-Jahren konnten Psychologinnen zeigen, dass unsere Einschätzung, wie häufig welche Todesursache vorkommt, sich eher mit dem medialen Echo als mit der Realität deckt. Auch 40 Jahre später bildet die mediale Berichterstattung die Wirklichkeit unseres Sterbens kaum ab.

In einer Studie von «Our World in Data» aus dem Jahr 2019 wurden die zehn häufigsten Todesursachen in den USA – ergänzt um Mord, Terrorismus und Drogenüberdosis – mit der Berichterstattung in der «New York Times» und dem englischen «Guardian» sowie mit Google-Suchen verglichen. Das Resultat: Die meisten Amerikaner sterben zwar an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, in die Schlagzeilen schaffen es aber Artikel über Terrorismus und Mord. Beiträge über Terrorismus sind in diesen beiden Medien beinahe 4000-fach überrepräsentiert. Bei Leber- und Herzerkrankungen hingegen hinkt die Bericht­erstattung am stärksten der Realität hinterher.

Sollten Medien also proportional zu ihrer Häufigkeit über die verschiedenen Todesursachen berichten? Für eine akkurate Bericht­erstattung und eine zielgerichtete Gesundheits­prävention wäre das wohl wünschenswert. Doch Hunderte Artikel über alte Menschen, die an Demenz oder Herzproblemen gestorben sind, würde kaum jemand lesen wollen. Menschen interessieren sich nun mal stärker für Ereignisse wie einen Flugzeug­absturz und aussergewöhnliche Einzel­schicksale – entsprechend berichten Medien häufiger darüber.

Woran Kinder, Erwachsene, Senioren sterben

Doch wir befinden uns jetzt ja nicht auf Seite 3 einer Pendlerzeitung, sondern in einem datenjournalistischen Briefing. Lassen Sie uns darum noch etwas tiefer in die Materie eintauchen – in diesem Fall die Statistik über die Todesursachen in der Schweiz aus dem Jahr 2019.

Zu Covid-19 als Todesursache

Im Beitrag wurden die Daten für das Jahr 2019 verwendet, die Ende Dezember 2021 publiziert wurden. Für das Jahr 2020 liegen bisher nur provisorische Daten von Januar bis März vor. Darin wird erstmals Covid-19 als Todesursache aufgeführt. Im März 2020, dem ersten relevanten Monat, war Covid-19 in 547 Fällen die Haupt­todesursache. Damit war die Virus­erkrankung für diesen Monat die dritthäufigste Todesursache. Häufiger waren im März 2020 nur Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen.

Anders als oben nehmen wir uns diesmal die Altersgruppen einzeln vor.

Rein statistisch gesehen ist mein eigener Tod zum jetzigen Zeitpunkt, mit Mitte dreissig, also eher unwahrscheinlich. Mit einer sehr viel grösseren Wahrscheinlichkeit werde ich noch rund vierzig Jahre leben, bis meine Blutgefässe und mein Herz nicht mehr funktionsfähig sind und ich sterben muss.

Nimmt mir diese Aussicht die Angst, die ich am Anfang dieses Artikels geschildert habe? Leider nein.

Das liegt auch daran, dass der Tod weiterhin unkontrollierbar bleibt. Und das Leben in der Pandemie noch einmal fragiler scheint als sonst – denken Sie nur an die Debatte über die Intensivplätze, an die Übersterblichkeit, an die schiere Masse der Ansteckungen und den viel zu frühen Tod, auch von jungen gesunden Menschen.

Es sind Wahrscheinlichkeiten, die mir einen Anhaltspunkt geben, wie lange ich leben werde. Aber in der Realität bleibe ich dem Tod jeden Tag ausgeliefert.

Um gegen diese schwarzen Massen zu bestehen, die einen manchmal ergreifen, bleibt wohl nur eines: Das Leben zu geniessen, jeden Tag aufs Neue.

Deshalb gehören die letzten Worte dieses Textes der französischen Philosophin Simone de Beauvoir, Schöpferin des Existentialismus:

Ich liebe das Leben so sehr und verabscheue den Gedanken, eines Tages sterben zu müssen. Und ausserdem bin ich schrecklich gierig; ich möchte vom Leben alles, ich möchte eine Frau, aber auch ein Mann sein, viele Freunde haben und allein sein, viel arbeiten und gute Bücher schreiben, aber auch reisen und mich vergnügen, egoistisch und nicht egoistisch sein.

Simone de Beauvoir in «Eine transatlantische Liebe» (erschienen 2002).

Zu den Daten

Seit 1876 führt das Bundesamt für Statistik Buch über die Todes­ursachen. Es werden alle in der Schweiz wohnhaften Personen, unabhängig von der Nationalität und auch vom Ort des Todes, erfasst. Ein Tod wird beim Zivilstands­amt gemeldet und eine oder mehrere Diagnosen werden in medizinischer Terminologie oder Umgangs­sprache auf der Todes­bescheinigung festgehalten. Das Bundesamt für Statistik weist dieser Diagnose dann eine Todes­ursache gemäss den Regeln der WHO zu. Als Haupt­todesursache gilt jeweils die Krankheit, die vermutlich am Anfang der zum Tod führenden Kausal­kette stand. Im Beitrag wurden die Daten für das Jahr 2019 verwendet, die Ende Dezember 2021 publiziert wurden.

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