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Dreimal Vir

10.01.2022

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Liebe Leserinnen und Leser – and everyone beyond

Sehen wir den Baum vor lauter Nadeln nicht mehr?

Oliver Fuchs hier, lassen Sie mich kurz erklären, was ich damit meine. Mich beschäftigt, ob wir dieses Jahr aus dem Schlamassel rauskommen. Und vor allem: was wir tun müssen, damit die Pandemie endlich ein Ende nimmt.

Wären die Impfungen nämlich nicht – wir würden wohl gerade alle im harten Lockdown sitzen. Die Omikron-Variante ist zwar ziemlich sicher nicht so gefährlich wie die Verwandtschaft. Aber harmlos ist sie deswegen noch lange nicht. «Wer ungeimpft ist, hat mit Omikron-Infektion 24 Prozent weniger Risiko, ins Krankenhaus zu müssen, als jemand, der ungeimpft mit Delta infiziert wird», sagte der deutsche Virologe Christian Drosten letzte Woche.

Das heisst: Sie können immer noch schwer an Covid erkranken. Aber immerhin mit einer wesentlich geringeren Wahrscheinlichkeit als bei vorherigen Varianten.

Aber was, wenn gleich nach Omikron wieder eine richtig hässliche Variante kommt? Was, wenn sich bis zum kommenden Winter die etwa 150’000 ungeimpften Mitbürgerinnen über 65 Jahren partout nicht impfen lassen? Oder wenn die nächste Variante den Impfschutz noch viel besser austrickst? Und dann die Spitäler wieder volllaufen, wieder viele Menschen sterben, wieder Schliessungen drohen?

Düstere Aussichten, die aber womöglich einen wichtigen Faktor missachten: Nicht nur Impfungen, sondern auch Tabletten können eine Pandemie bekämpfen.

So gelang es etwa, eines der tödlichsten pandemischen Viren der letzten tausend Jahre zu zähmen. Dieses Virus heisst HIV.

1985 hatte ein 25-jähriger, gesunder Mann nach der Diagnose Aids im Schnitt weniger als zwei Jahre zu leben. Heute darf er auf ein langes Leben hoffen (und auf einen anderen Grund für sein Ableben). Zumindest, wenn er in einem vermögenden Land lebt. Kommt hinzu: Die HIV-Pandemie ist auf dem Rückzug. 2005 dürfte sie ihren Peak überschritten haben.

All das, obwohl es bis heute keine Impfung gegen HIV gibt. Stattdessen haben antivirale Medikamente stetig Fortschritte gemacht. Seit Mitte der Neunziger­jahre sind sie so gut, dass HIV-Infizierte ein weitgehend beschwerde­freies Leben führen können. Heute sind die Medikamente so raffiniert, dass viele Menschen einen der Wirkstoffe sogar präventiv schlucken, damit sie ohne Gummi miteinander Sex haben können.

Damit zurück zu Covid-19.

In den letzten Wochen haben zuerst der Pharmariese Merck, dann die Konkurrentin Pfizer vermeldet: Juppiehalloyeahwiegut! Beide Unternehmen wollen eine Pille gefunden haben, welche die Gefahr für schwere Verläufe nach einer Infektion massiv reduziert.

Molnupiravir (Merck) wurde in den ersten Ländern notfallmässig zugelassen – die Schweiz hat 8640 Packungen reserviert. Nirmatrelvir und Ritonavir (Pfizer, Marken­name Paxlovid) sollen in einigen europäischen Ländern schon in diesen Tagen verabreicht werden. Hier verhandle die Schweiz noch mit dem Anbieter und wolle sich deshalb nicht zu einer allfälligen Bestellung äussern, teilt das Bundesamt für Gesundheit mit.

Bei Paxlovid wird es so oder so noch eine ganze Weile dauern, bis es in vernünftigen Mengen verfügbar ist. Der Herstellungs­prozess ist kompliziert – und dauert 6 bis 8 Monate. Dazu kommen logistische Hürden. In den Worten von Pharma­experte Derek Lowe: «Offenbar gibt es gerade eine Knappheit bei einem Stoff, der genutzt wird, um einen Stoff herzustellen, der genutzt wird, um einen Stoff herzustellen, der dann genutzt wird, um zwei der Ausgangs­stoffe herzustellen, die es braucht, um Paxlovid herzustellen.»

In der Omikron-Welle werden uns diese Pillen also reichlich wenig nützen.

Aber wie sieht es aus, wenn sie dann einmal hier sind? Können diese Medikamente den ewigen Kreislauf aus Schliessungen, Öffnungen, Warnungen, Zuwarten und dann Zumachen endlich durchbrechen?

Anruf bei Doktor Nicolas Müller, leitender Arzt in der Klinik für Infektions­krankheiten am Unispital Zürich. Er arbeitet just in diesen Tagen mit Kolleginnen an den Empfehlungen für den Gebrauch von Nirmatrelvir/Ritonavir und Molnupiravir.

Müller sieht tatsächlich grosses Potenzial in diesen Medikamenten. Aber zunächst einmal sei es wichtig, zu verstehen: Nirmatrelvir/Ritonavir und Molnupiravir seien nicht für Menschen gedacht, die bereits auf der Intensiv­station liegen. Das Ziel sei vielmehr zu verhindern, dass sie da je hinkommen – und das sei in dieser kritischen epidemiologischen Lage zentral.

«Jeder Patient, der nicht ins Spital muss, bedeutet im Moment ein freies Bett für jemand anderes.» Darum könnten Nirmatrelvir/Ritonavir und Molnupiravir für die Früh­behandlung wertvoll sein: «Aber man muss diese Medikamente schnell geben – das ist das Geheimnis. Das heisst: spätestens 5 Tage nach Beginn der Symptome.»

Daraus folgt auch: Diese Medikamente sind nicht für alle gedacht. «Ein 29-jähriger, gesunder Mensch benötigt kein Molnupiravir oder Nirmatrelvir/Ritonavir», sagt Müller. «Aber der 65-Jährige mit Herz-Kreislauf-Erkrankung könnte wahrscheinlich davon profitieren, denn er hat ein höheres Risiko für einen schlechteren Krankheits­verlauf.»

Im Idealfall, sagt Müller, würden Nirmatrelvir/Ritonavir und Molnupiravir bald die beiden Optionen ergänzen, die heute bereits für die Früh­behandlung von Risiko­patientinnen zur Verfügung stehen, die aber beide per Infusion verabreicht werden müssen: Remdesivir und eine Reihe von geklonten Antikörpern (so wie sie auch das Immun­system bei einer Ansteckung bildet).

Besonders mit den Antikörpern habe man in den letzten Monaten gute Erfahrungen gemacht. Sie hätten auch vergleichs­weise wenig Neben­wirkungen. Aber alle vier Ansätze, Remdesivir, die Antikörper und die beiden Pillen, hätten jeweils Vor- und Nachteile.

Bei Nirmatrelvir/Ritonavir müsse etwa sehr genau abgeklärt werden, welche anderen Medikamente die Patientin nimmt – weil es in der Leber nur langsam abgebaut wird und es zu unerwünschten Wechsel­wirkungen kommen könnte. Und bei Molnupiravir sei im Moment noch recht unklar, wie gut es denn wirklich wirke.

Fazit: Wir werden also auf absehbare Zeit nicht einfach ein paar Tabletten schlucken können, wenn der Test­streifen rot wird und es in der Kehle kratzt.

Aber diejenigen unter uns, denen das Mistding namens Sars-CoV-2 besonders gefährlich werden kann, dürfen hoffen. Darauf, dass bald ein weiterer Backstein ihre Abwehr­mauer stärken kann. Und darauf, dass jetzt, wo der Beweis geführt ist, weitere antivirale Medikamente folgen werden.

Das ist nicht wenig. Es ist sogar ziemlich viel.

Was Sie diese Woche wissen sollten

  • Booster-Impfungen in der Schweiz und im Ausland: Angesichts der Omikron-Welle erhalten in Israel seit vergangener Woche besonders vulnerable Personen und Mitarbeitende des Gesundheitswesens schon die vierte Impfdosis – frühestens vier Monate nach der dritten Spritze. Zur Wirksamkeit und Sicherheit der vierten Impfung gibt es bisher erst frühe Resultate. Der britische Impf­ausschuss erachtet einen solchen zweiten Booster zurzeit nicht als notwendig: Drei Impfdosen böten genügend Schutz vor schwerer Krankheit, und prioritär sollten zunächst diese Drittimpfungen vergeben werden. In der Schweiz haben bisher 30 Prozent der Bevölkerung eine dritte Spritze erhalten (vollständig, also mindestens zweimal geimpft sind gut 67 Prozent). Sie sind damit nicht nur vor schwerer Krankheit, sondern auch vor Infektion wieder besser geschützt. Bei den über 65-Jährigen sind fast 68 Prozent geboostert (und gut 90 Prozent mindestens zweimal geimpft).

  • Kantone üben Kritik am Zertifikat: Der Schwarz­markt für Impf­zertifikate floriert. Auf die Software, mit der Covid-Zertifikate ausgestellt werden können, haben Tausende Menschen Zugriff. Etwa Mitarbeitende von Testzentren, die auch zur Ausstellung von Impf­zertifikaten berechtigt sind. Der Kanton Aargau forderte kürzlich vom Bund eine Beschränkung dieser Zugriffs­berechtigungen, um den Betrug zu erschweren. Das Anliegen wird von diversen weiteren Kantonen unterstützt. Das Bundesamt für Gesundheit will nun das System zusammen mit Vertreterinnen aus den Kantonen überarbeiten.

  • Zürcher Gesundheits­direktorin fordert Verkürzung der Quarantäne: Die SVP-Politikerin Natalie Rickli forderte am Wochen­ende im Interview mit der «NZZ am Sonntag» die Verkürzung der Quarantäne­pflicht auf 5 Tage. Dieselbe Forderung hatten zuvor bereits der Wirtschafts­dachverband Economie­suisse und weitere Gesundheits­direktorinnen gestellt. So könne die Gefahr von Produktions­ausfällen gesenkt werden, argumentieren sie. Gesundheits­direktorin Rickli berichtet ausserdem von einer «Monsterwelle», die sich nicht mehr stoppen lasse. Wenn wir jetzt nicht handelten, würden die hohen Zahlen die Gesellschaft lähmen, so Rickli. «Als Behörden müssen wir dafür sorgen, dass die Grund­versorgung weiter gewährleistet werden kann.»

Und zum Schluss: Wachstum

Wenn Sie glauben, dass exponentielles Wachstum für die Schweiz ein neues Problem ist, dann irritiert Sie vielleicht diese Geschichte. 1888 wurde der freisinnige Walter Hauser in den Bundesrat gewählt und genoss schnell einen hervor­ragenden Ruf als sparsamer Finanz­minister. Doch leider nahm mit den Jahren sein Geiz in dem Masse zu wie seine Geistes­kraft ab. Im Sommer 1902 stellte er eine Witwe für diplomatische Schreib­arbeiten ein unter der Bedingung, dass sie im ersten Monat der Probezeit kein Honorar bekommen sollte. Die Dame machte den Gegen­vorschlag eines symbolischen Honorars: Sie verlange in diesem Monat nur einen Rappen für den ersten Tag und, falls der Herr Bundesrat zufrieden sei, jeweils das Doppelte am nächsten.

Hauser war sehr angetan von der fleissigen Witwe, bis sie ihm am Ende des Monats die Rechnung lieferte.

Sie sah so aus:

1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512, 1024, 2048, 4096, 8192, 16’384, 32’768, 65’536, 131’072, 262’144, 524’288, 1’048’576, 2’097’152, 4’194’304, 8’388’608, 16’777’216, 33’554’432, 67’108’864, 134’217’728, 268’435’456, 536’870’912, und am 31. Tag 1’073’741’824 Rappen -> summa summarum 2’147’483’647 Rappen – oder 21’474’836.47 Franken.

Bundesrat Hauser hatte also ein Fünftel des Jahres­budgets der Schweizerischen Eidgenossenschaft für einen Monat Korrespondenz ausgegeben. Am Tag nach der Beichte im Gesamt­bundesrat brach er zusammen und starb einen Tag später, am 22. Oktober 1902.

Die Geheimpolizei verhaftete die Witwe, aber Vertrag war Vertrag. Schliesslich einigte man sich: Die Eidgenossenschaft erfüllte ihre Verpflichtungen, im Gegenzug verliess die Witwe das Land und schwor Stillschweigen.

Im Jahr darauf kaufte eine ältere unbekannte Dame in Stockholm für den ungeheuren Betrag von 1 Million Kronen das grösste Stadthaus. Niemand kannte ihren Namen, aber wegen ihres Reichtums nannten sie die Gassen­jungen Omi Kron.

So oder ähnlich hat sich das zugetragen. Oder vielleicht auch nicht.

Bleiben Sie jedenfalls umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Oliver Fuchs und Constantin Seibt

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Nach 40 Jahren erfolgloser Suche scheint eine Impfung gegen HIV übrigens endlich, endlich in Reichweite. Mitte Dezember vermeldeten die amerikanischen Nationalen Gesundheits­institute: Ein Kandidat habe sich in Tier­versuchen als sehr erfolg­versprechend erwiesen. Er basiert auf einer neuen, aufregenden Technologie, die Ihnen bekannt vorkommen dürfte.

PPPPS: Nochmals – wenn Sie des Englischen mächtig sind – die dringende Leseempfehlung für «Making Paxlovid» von Derek Lowe. Der Mann schreibt derart anschaulich über pharmakologische Molekular­chemie, dass sogar Laien wie wir ein Viertel davon verstehen. Zum Beispiel darüber, warum Pfizer die vielen Reagenzien für Paxlovid nicht einfach selber brauen kann: «Das wäre, wie wenn Sie selber Weizen anbauen würden, um sich ein Brot zu backen.»

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