Am Gericht

Bolsonaro und der Ökozid

Ist die Zerstörung des Regen­waldes ein Fall für den Internationalen Straf­gerichts­hof? Ja, findet ein österreichischer Unternehmer – und will Brasiliens Präsidenten verklagen.

Von Susi Stühlinger, 05.01.2022

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Als der Wiener Tech-Unternehmer Johannes Wesemann im Jahr 2019 auf den Bildschirmen den Regenwald brennen sah, entschloss er sich, diesmal nicht einfach zuzuschauen. «Ich bin zu meinem Anwalt gegangen und sagte: ‹Wolfram, ich möchte gerne gegen den Bolsonaro klagen.›»

So erzählt es der ehemalige General Manager von Uber Österreich, rosa Pulli und rote Skimütze, zugeschaltet von einem Ort, der aussieht wie eine alpine Ferien­wohnung. Im Nachgang zu seiner ersten, unmittelbaren Reaktion «eines pubertierenden Fünfzehn­jährigen», wie er selbst sagt, habe er sich vertieft mit der Situation auseinander­gesetzt. Wobei er gedanklich relativ schnell beim Internationalen Straf­gerichts­hof landete und «gelinde gesagt ein bisschen erstaunt» war, «dass wir dort kein Umwelt­verbrechen haben».

Ort: Den Haag, Niederlande
Zeit: Ungewiss
Fall-Nr.: Offen
Thema: Verbrechen gegen die Umwelt

Das Römische Statut des Internationalen Straf­gerichts­hofs umfasst derzeit vier Straf­tat­bestände: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegs­verbrechen und das Verbrechen der Aggression. Dazu soll sich nun ein fünfter Tatbestand gesellen. Die internationale Nicht­regierungs­organisation Stop Ecocide hat ein zwölf­köpfiges Gremium aus Juristinnen und Rechts­wissenschaftlern beauftragt, herauszufinden, wie schwere Umwelt­verbrechen am besten im internationalen Strafrecht verankert werden könnten.

Dem Unternehmer Johannes Wesemann ist das alles zu langwierig. Doch dazu später mehr.

Ökozid bedeutet: «rechts­widrige oder willkürliche Handlungen, mit dem Wissen begangen, dass eine erhebliche Wahrscheinlichkeit schwerer und entweder weitreichender oder langfristiger Schäden für die Umwelt besteht, die durch diese Handlungen verursacht werden». Das ist die deutsche Version der sogenannten Legaldefinition, die das zuvor erwähnte Experten­gremium im Juni 2021 der Öffentlichkeit vorstellte.

Unterstützt wird das Unterfangen von vielen prominenten Persönlichkeiten – zum Beispiel Primaten­forscherin Jane Goodall, Musiker Paul McCartney, Papst Franziskus. Am Anfang der Geschichte steht allerdings eine einzelne Frau: die 2019 verstorbene schottische Juristin Polly Higgins.

Der erste Ökozid: Der Einsatz von Agent Orange

Der Begriff des Ökozids kursiert schon seit den Siebziger­jahren, seit die USA in Vietnam das Entlaubungs­mittel Agent Orange einsetzten, mit katastrophalen Folgen für Mensch und Natur. Ein Mann namens Arthur Galston, Entdecker jener Chemikalie, die später zu Agent Orange weiter­entwickelt wurde, schlug als Erster ein internationales Abkommen zum Verbot des Ökozids vor. Und der schwedische Minister­präsident Olof Palme bezeichnete den Vietnam­krieg in seiner Eröffnungs­rede der Stockholmer Uno-Umwelt­konferenz von 1972 explizit als Ökozid.

Doch es war Polly Higgins, die 2010 bei den Vereinten Nationen einen Antrag vorlegte, Ökozid als fünften Tatbestand ins Römische Statut aufzunehmen – ein Anliegen, für das sie bis zu ihrem Tod mit ganzer Seele kämpfte.

Hermann Ott, Leiter des deutschen Büros der internationalen Umwelt­organisation Client Earth und ehemaliger Bundestags­abgeordneter der Grünen, gestand kürzlich in einer von Stop Ecocide Deutschland organisierten Diskussions­runde, dass Polly Higgins ihn in seiner Zeit als Abgeordneten kontaktiert, aber vergeblich um Unterstützung gebeten habe. «Damals habe ich das, das muss ich zu meiner Schande gestehen, für nicht unterstützens­wert gehalten, weil ich dachte, das geht so weit über alles hinaus, was ansonsten politisch gefordert wird.»

Heute, da die Klimakrise allgegenwärtig ist, sieht er das anders: «Ein solcher Straf­tatbestand hätte sicher eine general­präventive Wirkung – aber ebenso ist damit ein Bewusstseins­wandel verbunden.»

Die Herausforderung sei es, die Wahrnehmung der Menschen über ihre eigene Stellung in der Welt zu verändern.

Die Natur als ein eigenständiges Gut

Anni Pues, Expertin für internationales Straf­recht, teilt diese Ansicht: «Bisher ist das Römische Statut klar anthropo­zentrisch ausgelegt. Aber das reicht nicht. Es muss ein normativer Wandel stattfinden, indem anerkannt wird, dass die Natur, das Ökosystem als solches, ein Schutz­objekt ist – nicht nur, um uns Menschen zu dienen, sondern als eigenständiges Gut, das es zu schützen gilt.»

Genau das ist in der vorliegenden Definition enthalten. «Was den Straf­tatbestand des Ökozids auszeichnet», sagt Hermann Ott, «ist, dass keinerlei Menschen beteiligt sein müssen als Opfer, sondern dass die Ökosysteme als solches geschützt werden.» Anders als im bestehenden internationalen Strafrecht könnte es demnach als strafbar gelten, wenn zum Beispiel durch eine bestimmte, einer individuellen Person zuzuordnende Handlung eine Tierart ausgerottet würde.

Bis der Tatbestand ins Römische Statut Eingang findet, dürfte es allerdings dauern – wenn es denn überhaupt geschieht. Zwar hat das Anliegen auch auf politischer Ebene prominente Fürsprecher, etwa den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Doch um in den Katalog der internationalen Verbrechen aufgenommen zu werden, braucht es die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Vertrags­parteien des Römischen Statuts.

Angesprochen auf die Chancen, dass das tatsächlich passiert, sagt Anni Pues: «Die sind leider klein – ich hoffe, ich liege falsch.»

Die Verfahren dauern zu lange

Und selbst wenn sich die entsprechenden Mehrheiten finden liessen: Die Kriminalisierung eines bestimmten Verhaltens auf internationaler Ebene, sagt Anni Pues, habe vor allem Symbol­charakter. «Dieser Symbol­charakter ist wichtig, und darum unterstütze ich grundsätzlich die Idee, den Tat­bestand des Ökozids einzuführen. Das als solches wird aber kein effektives Mittel sein, um wirklich substanzielle Veränderungen zu erreichen.»

Das liegt einerseits daran, dass ohnehin nur die aller­schwersten Umwelt­sünden überhaupt in den Zuständigkeits­bereich des Internationalen Straf­gerichts­hofs fallen würden.

Überdies, so Anni Pues weiter: «Der Internationale Straf­gerichts­hof wird lange brauchen. Wie lange dauert es, bis ein internationaler Vertrag angepasst ist? Wie lange dauert es danach, bis eine Anpassung des Vertrags dann auch in Kraft tritt? Das kürzlich geschaffene Verbrechen der Aggression hat sehr deutlich gemacht, wie lange es dauern kann: Vom Beschluss der Vertrags­staaten im Jahr 2010 bis zum Inkraft­treten sind acht Jahre vergangen. Und selbst wenn der Tat­bestand in Kraft getreten ist, wird es bei jeder Untersuchung lange dauern, bis es irgendwelche Urteile gibt. Diese Zeit­leiste zeigt an, wie sehr wir hier allein auf dieser Ebene ein Problem haben.»

Und genau das dauerte Johannes Wesemann zu lange.

Als er im Zuge seiner Recherchen vom Projekt «Stop Ecocide» erfuhr, habe er sich gedacht: «Das muss man unterstützen, aber als Unternehmer, der bin ich nun mal, habe ich ein Problem mit dieser Situation.» Mit dem langwierigen Prozess zur Schaffung des neuen Tat­bestands habe man «in mehreren Jahren vielleicht ein juristisches Instrument zur Hand, um dann mit juristischen Mitteln ein Problem zu bekämpfen, das bereits heute vor unserer Haustür steht.»

Deshalb habe er sich für den gewählten Weg entschieden: «Wir haben einfach keine Zeit, um zu warten.»

Die Anzeige gegen Bolsonaro ist fast 300 Seiten dick

Und so hat Johannes Wesemann mit der von ihm gegründeten Organisation All Rise beim Internationalen Straf­gerichts­hof eine Anzeige gegen den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro eingereicht, beruhend auf dem bereits im Römischen Statut verankerten Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Anzeige umfasst fast 300 Seiten, inklusive zweier Fallstudien.

Der Vorwurf: Die durch die Regierungs­politik geförderte Abholzung des Amazonas fordert Menschen­leben, führt zu Verfolgung und Vertreibung der indigenen Bevölkerung und hat überdies weitreichende Implikationen, nicht nur für den Amazonas, sondern letztlich für das ganze Weltklima.

Wesemann fasst das wie folgt zusammen: «Umwelt­zerstörung in Brasilien + Umwelt­schützer in Brasilien treten dagegen an und werden umgebracht = Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sehr verkürzt ausgedrückt. Und da glauben wir, dass das juristisch durchaus ein gangbarer Weg wäre.»

Im Team von All Rise arbeiten namhafte Wissenschaftlerinnen, etwa die Klimatologin und Physikerin Friederike Otto, federführend in der Attributions­forschung, die sich mit der Frage beschäftigt, wie sich Kausal­zusammenhänge zwischen bestimmten Handlungen und dem Klima­wandel und seinen Folgen herstellen lässt; als Berater fungierte unter anderem der kürzlich verstorbene Ökologe Thomas Lovejoy, der den Begriff der Biodiversität geprägt hat.

Johannes Wesemann glaubt, dass der Kampf gegen den Klima­wandel hauptsächlich vor den Gerichten stattfinden wird: «Wir brauchen unverhandelbare Ergebnisse. Die wird die Politik nicht herbei­führen. Wir müssen bestehendes Recht testen, ob es ausreicht, um solche Ergebnisse zu zeitigen. Reicht es nicht aus, dann müssen wir das Gesetz ändern.»

Bestehendes Recht – in diesem Fall der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit – verlangt: dass bestimmte Handlungen, wie etwa vorsätzliche Tötung «im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivil­bevölkerung und in Kenntnis des Angriffs» begangen werden.

Ein «kreativer» Versuch

Der ausgedehnte Angriff, so wird in der Anzeige argumentiert, liege gerade auch in der weit­reichenden Umwelt­zerstörung, die im Zuge der Abholzung des Amazonas statt­findet – und die in der Ermordung von Vertreterinnen indigener Gruppierungen und Umwelt­aktivisten resultiert. Was die Anzeige gegen Bolsonaro detailliert dokumentiert.

Historisch betrachtet, ist dies eine durchwegs neue Interpretation des Tatbestands, der bislang zumeist in Situationen bewaffneter Konflikte angewendet wurde.

Anni Pues sagt: «Aus einer rein dogmatischen Perspektive halte ich es für extrem schwierig, die in der Anzeige gewählte Interpretation zu verteidigen. Sie ist kreativ. Und als jemand, dem Umwelt­schutz am Herzen liegt, würde ich es gerne sehen, dass das Römische Statut weit ausgelegt wird. Gleichzeitig sind die Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom Charakter her anthropo­zentrisch angelegt – es sind die Menschen als solche, die als Schutzgut im Zentrum stehen. Das ist das Schwierige. Natürlich hat die Zerstörung des Amazonas auch Auswirkungen auf die Menschen. Aber ob das ausreicht, zu sagen, die Attacke richtet sich eigentlich gegen die Menschen und nicht gegen den Amazonas?»

Und weiter: «Wie gross das Ausmass der Gewalt im Amazonas­gebiet tatsächlich ist, bleibt uns vermutlich verschlossen. Ich halte es für wahrscheinlich, dass eine Menge an unsichtbarer Gewalt stattfindet, die wirklich ganz konkret auch anthropo­zentrische Gewalt ist. Insofern wage ich es nicht, von der Hand zu weisen, dass genug Substanz in dieser Beschwerde sein mag – jedenfalls, um eine Voruntersuchung einzuleiten. Und um dann wirklich genauer hinschauen zu können und mehr Material dazu zu sammeln, inwieweit es eben auch eine Attacke gegen die indigenen Völker ist, die im Amazonas leben.»

In kleinen Schritten denken

Das ist es auch, was All Rise als erstes Ziel anstrebt: eine sogenannte Voruntersuchung, in der das Büro des Chef­anklägers Beweis­material zusammen­trägt, um dann zu entscheiden, ob eine formelle Untersuchung der Situation in Angriff genommen werden soll. Solche Voruntersuchungen hat Fatou Bensouda, die Vorgängerin des amtierenden Chef­anklägers, am Internationalen Straf­gerichts­hof beispiels­weise in Bezug auf die mutmasslichen Verbrechen von US-Soldaten in Afghanistan eingeleitet.

Karim Khan, der seit Juni 2020 als neuer Chefankläger amtet, verzichtete jedoch darauf, anschliessend eine formelle Untersuchung zu eröffnen.

Anni Pues glaubt, dass der Straf­gerichts­hof in Sachen Bolsonaro durchaus gewillt wäre, eine Voruntersuchung einzuleiten: «Es würde mich überraschen, wenn der Chef­ankläger das nicht täte.» Dass es aber zu einem vollen Ermittlungs­verfahren kommt, bezweifelt sie: «Da bin ich nicht besonders optimistisch.»

Johannes Wesemann, realistisch betrachtet – kommt es zu einer Anklage?

Wesemann: «Ich glaube es auf jeden Fall. Wobei, die Anklage ist so weit weg. Ich muss in Schritten denken. Im nächsten Schritt kriegen wir die Vorab­untersuchung gebacken.»

Nachgehakt, ob es gerade unter dem neuen Chef­ankläger klappen wird, der als pragmatischer, oder anders gesagt, weniger wagemutig gilt als seine Vorgängerin, sagt Wesemann: «Die Sorge, dass es nicht funktioniert, die ist vom ersten Tag an da gewesen und ist es bis heute. Das heisst, ich kann Ihnen überhaupt kein fachliches Argument bieten, um genau diese Sorge zu entkräften. Aber was ist die Alternative?»

Wesemann sagt gegen Ende des Gesprächs: «Wir glauben, dass unsere Anzeige einfach ein weiteres Puzzle­teilchen ist. Wenn es uns gelingt, über die Vorab­untersuchung hinaus­zugehen, dann beweist das, dass unser juristischer Weg funktionieren kann. Lehnt der Gerichts­hof ab, dann muss das Römische Statut verändert werden. Unverhandelbare Ergebnisse. In jedem Fall werden wir weitere solche Anzeigen oder Klagen einreichen, beim Straf­gerichts­hof oder vor anderen Gerichten.»

Puzzleteilchen – dieses Wort kommt immer wieder auf.

Die grösste Investoren­vereinigung ist mit an Bord

Anni Pues zum Beispiel sagt in Bezug auf die Initiative zur Verankerung des Ökozids im internationalen Strafrecht: «Die Einführung des Straf­tat­bestands kann nur ein ganz kleiner Teil sein. Da muss ein Wandel geschehen, der sich auf verschiedenen Ebenen vollzieht. Und das passiert ja auch, indem Aktivistinnen mit ganz unterschiedlichen Klagen versuchen, das Recht fortzuentwickeln.»

In diesem Kontext sehe sie die Anzeige in Sachen Amazonas. «Das ist Teil einer grösseren Bewegung, die versucht, das Recht auch als Waffe zu nutzen.»

Und auch wenn die Bestrebungen mit Blick auf den Internationalen Straf­gerichts­hof nicht von Erfolg gekrönt sein dürften: «Schon das Nutzen des Wortes Ökozid hat eine ganz grosse Wirkung. Denn wenn Verantwortliche nur schon die Möglichkeit sehen, dass sich so etwas durchsetzen könnte, verändert das Entscheidungen», sagt Wolf Hingst, Leiter der deutschen Niederlassung von Stop Ecocide.

Die weltweit grösste Investoren­vereinigung, die über die Hälfte aller investierten Vermögens­werte vertritt, hat sich kürzlich für die Kriminalisierung von Ökozid ausgesprochen.

Die Welt ist damit freilich noch nicht gerettet.

Trotzdem.

In der Schweiz ist der Appetit auf eine Erweiterung des Römischen Statuts allerdings bescheiden. Auf zwei Interpellationen der Grünen-Politikerin Adèle Thorens Goumaz antwortete der Bundesrat, dass er zwar Verschärfungen im Umweltrecht prüfe, eine Erweiterung des Römischen Statuts halte er indessen nicht für angezeigt.

«Man kann einfach nur stur bleiben. Dranbleiben», sagt Johannes Wesemann. «Es muss wehtun.»

Illustration: Till Lauer

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