Binswanger

Grosser Kater

Die Covid-Krise zeigt uns ein zweites Jahr in Folge verblüffende Grenzen der kollektiven Handlungs­fähigkeit auf. Gegen dieses üble Gefühl gibt es keine Tablette – was also hilft?

Von Daniel Binswanger, 01.01.2022

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Sagen wir es so: Der Albtraum ist nicht vorüber. Offensichtlich gehen unsere Behörden den «Schweizer Weg» bis zum bitteren Ende.

Oder nein, ich entschuldige mich, diese beiden Sätze standen schon im Neujahrs­­kommentar, den ich 2021 schrieb. Die Dinge wiederholen sich – die Analysen ebenfalls. Auch auf der Omikron-Welle werden wir surfen, mit minimalen Massnahmen und maximalen Risiken für das Gesundheits­system, für die nicht geimpften Kinder sowie für alle vulnerablen und alle sich als unverwundbar betrachtenden Mitbürgerinnen. Beziehungs­weise: Wir werden uns von der Welle überrollen lassen.

Haben Sie gestern gefeiert? Es ist jedenfalls ein verkaterter Jahres­beginn. Nicht die Sorte Kater, die man ausschläft nach einem rauschenden Fest. Eher die Übelkeit, die einen schon im Voraus befällt, wenn man ahnt, dass es wieder nicht gut kommt. Obwohl es nicht so sein müsste. Obwohl man es doch wissen könnte. Es ist definitiv der Jahres­wechsel des Unbehagens, wie auch der Soziologe Armin Nassehi im Republik-Interview unter­strichen hat.

Um einen nicht nur düsteren Beitrag zu machen: Manchmal hilft Satire, auch wenn die Sache nicht zum Lachen ist. «Don’t Look Up» hält sich seit mehreren Tagen auf dem ersten Platz der beliebtesten Netflix-Filme in der Schweiz. Eigentlich sollte der Film eine wüste Farce über die Unfähigkeit der Menschheit sein, auf die Drohungen der Klima­erwärmung rational zu reagieren. «Doctor Strangelove» für die Öko-Apokalypse. Momentan allerdings drängen sich andere Assoziationen auf.

Einen ersten Höhepunkt bietet der Film schon kurz nach Beginn, in einer Szene, die im Oval Office spielt. Die grossartige Jennifer Lawrence hat die Rolle einer Astronomin, die soeben der Präsidentin der Vereinigten Staaten (Meryl Streep) darlegen musste, dass ein Komet auf die Erde zurast und schon bald alles Leben auf unserem Planeten zu vernichten droht. Die affektierte Präsidentin, ganz Polit-Profi, gibt in ihrer Reaktion zu bedenken, dass das Timing dieses Welt­untergangs leider gerade sehr ungünstig sei (in drei Wochen stehen Midterm-Wahlen an), und spricht dann den Satz aus, der Jennifer Lawrence die allerletzte Fassung nimmt: «Zum jetzigen Zeitpunkt werden wir abwarten und die Lage beobachten.» Nach knapp zwei Jahren Schweizer Pandemie­politik ist dieser Dialog von explosiver Komik.

Souverän ist, wer über den Ausnahme­zustand nicht entscheidet. Wer es auch in akuter Not noch schafft, ein bisschen länger stillzuhalten. Lautet so das neue Grund­prinzip des Politischen?

Natürlich: Was der Bundesrat momentan mal wieder beobachtet und worauf er von neuem wieder mit atemberaubender Zögerlichkeit reagiert, ist nicht der Welt­untergang, sondern eine Ansteckungs­welle, die schon heute Rekord­werte erreicht, in den nächsten Tagen rapide weiter ansteigen dürfte und die Überlastung der Spitäler immer massiver werden lässt.

Zwar ist im Gegensatz zum präzis berechenbaren Meteoriten­einschlag von «Don’t Look Up» die Schweizer Corona-Lage weiterhin von Ungewissheiten gekennzeichnet: Wie die Dynamik der Fallzahlen­entwicklung genau verlaufen wird, kann nicht mit Sicherheit voraus­gesagt werden. Genauso wenig, wie sich die Zahl der Hospitalisierungen exakt voraus­sehen lässt, die von der weiterhin nicht präzise geklärten Anti-Omikron-Schutz­wirkung der Impfung und von der generellen Virulenz der Infektionen abhängt. Selbst im optimistischsten Szenario werden jedoch, wie die wissenschaftliche Taskforce des Bundes­rates vorgerechnet hat, «die schweren Erkrankungen sehr stark zunehmen».

Angesichts der Tatsache, dass bereits heute vielerorts die Spitäler am Anschlag sind – und die «weiche» Triage praktiziert werden muss –, macht einen das erneute «Abwarten und Beobachten» des Bundes­rats wieder einmal fassungslos. Überraschen kann es jedoch nicht. Auch in früheren Phasen hat die Landes­regierung schliesslich nicht anders gehandelt.

Man sollte fairerweise anerkennen, dass die Corona-Strategie der Behörden sehr erfolgreich ist – solange man für «Erfolg» weder epidemiologische noch moralische Kriterien, sondern die Konsens­fähigkeit in Anschlag bringt. Gesundheits­minister Berset war noch im letzten Oktober der mit Abstand beliebteste Bundesrat, und die beiden Referenden zum Covid-Gesetz hat die Landes­regierung mit relativ grosser Zustimmung gewonnen – das zweite sogar noch etwas deutlicher als das Erste.

Ohne Zweifel: Wir haben die Pandemie­politik, die der demokratischen Willens­bildung entspricht. Aus diesem Blickwinkel erscheint die Unbelehrbarkeit der Schweizer Verantwortungs­träger gar nicht mehr so unerklärlich. Weshalb soll aus ihrer Perspektive heute eine Haltung falsch sein, die im letzten Winter keine untragbaren politischen Kosten hatte?

Es hat sich eine Pandemie­strategie konsolidiert, die mit enormem Leid, überquellenden Intensiv­stationen und hohen Todes­zahlen offenbar auch dann bestens leben kann, wenn geeignete Massnahmen dieses Leid vermeiden beziehungs­weise vermindern könnten. Dieser Befund wird immer erdrückender – und lässt die heutige Situation trotz allem anders erscheinen als diejenige vor einem Jahr.

Damals mochte man einerseits schockiert sein über die Passivität, mit der die Regierung sich von der zweiten Welle überrollen liess, und hatte andererseits den hoffnungs­vollen Ausblick auf die Impfung. Heute erscheint das ernüchternde Corona-Management weniger wie ein Regierungs- als wie ein System­versagen. Wir haben lernen müssen, dass uns selbst die Glanz­leistungen der Wissenschaft vor den Defiziten der Politik nicht beschützen können. Das Mindest­mass an kollektiver Vernunft und gemeinsamer Verantwortung, das wir mobilisieren müssten, um die Covid-Opfer so weit als möglich zu minimieren, ist schlicht nicht in Reichweite.

Systemversagen mit Todes­folge: So lautet die Kurzformel für die politische Selbst­erkenntnis, mit der uns Covid-19 konfrontiert.

Natürlich trifft es nicht nur auf die Pandemie­politik zu, dass letztlich Fragen von Leben und Tod verhandelt werden. In einer beeindruckenden Studie haben zum Beispiel Anne Case und Angus Deaton 2020 gezeigt, wie die wirtschafts­politischen Veränderungen seit den 1970er-Jahren in den USA nicht nur zu einer Stagnation der Niedrig­löhne, sondern auch zu einem markanten Sinken der Lebens­erwartung schlecht qualifizierter US-Amerikaner geführt haben. In der Klima­politik geht es ohnehin sehr buchstäblich um die Erhaltung unseres Lebens­raumes. Aber in diesen Politik­feldern haben wir es mit ganz anderen Zeit­horizonten zu tun. Die Folgen heutiger Weichen­stellungen manifestieren sich erst Jahrzehnte später. Entscheidungen über die Covid-Strategie hingegen haben schon nach ein paar Wochen allermassivste Konsequenzen. Das verleiht dem System­versagen eine andere Qualität: eine brutale Offensichtlichkeit.

Die längerfristige Frage wird sein, wie die Gesellschaft diesen Befund verdaut. Der Politik­wissenschaftler Anton Jäger spricht von einer neuen Ära der «Hyper­­politisierung», die man wohl als Reaktion verstehen muss. Die Auseinander­setzungen werden heftiger, die «Spaltung» der Gesellschaft nimmt zu und wird von den verschiedensten Kräften bewirtschaftet (am allermeisten von denen, welche sich als Opfer dieser Spaltung darstellen). Bemerkenswert ist allerdings: Die Hyper­politisierung findet fast ausschliesslich in den Diskursen und medialen Erregungs­blasen statt und schlägt sich bisher nirgendwo in einer konsistenten politischen Agenda nieder. Im Gegenteil: Das Ergebnis ist, wie Nils Markwardt in einem brillanten Essay in der Republik darlegte, eine immer haltlosere ideologische Konfusion.

Die Impffrage erscheint in dieser Hinsicht paradigmatisch. Die grossen rechts­populistischen Parteien sind in vielen Ländern einen politischen Pakt mit den Impf­gegnerinnen eingegangen, bekennen sich gleichzeitig aber dennoch zum Impfen. Das ist der Fall in den USA, wo Trump sowohl das hohe Lied auf die Impfung singt als auch ruchlos den Impf­widerstand instrumentalisiert. Es ist der Fall in der Schweiz, wo die SVP-Spitzen Appelle zur Impfung lancieren und der politische Pakt mit Massnahmen- und Impf­gegnern trotzdem die neue Vorwärts­strategie darstellt. Es scheint gerade alles und sein Gegenteil simultan vertreten werden zu können. Hauptsache Radau. Diese Hyper­politisierung geht einher mit einer schwindel­erregenden politischen Lähmung – welche die Erregung wiederum anheizt.

Wie destruktiv kann diese Spirale werden? Es ist die politische Schicksals­frage unserer Epoche. Betuliche Aufrufe zu Verständnis und Dialog werden sie nicht beantworten. Sondern die Wieder­herstellung der Handlungs­fähigkeit.

Mit einer Portion Glück wird im nächsten Herbst Covid-19 endemisch geworden und der Albtraum wenigstens in diesem Sinne vorüber sein. Noch einmal wiederholen wird sich der Neujahrs­kommentar dann nicht. Bleiben wird die brutale Erfahrung unserer politischen Über­forderung. Sie wird uns noch lange beschäftigen.

Illustration: Alex Solman

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