Russland kriminalisiert Menschenrechtler, Omikron überrollt die Welt – und ein neues Teleskop soll auf die Geburt des Universums zurückschauen
Woche 52/2021 – das Nachrichtenbriefing aus der Republik-Redaktion und die aktuelle Corona-Lage.
Von Reto Aschwanden, Oliver Fuchs, Marie-José Kolly und Cinzia Venafro, 31.12.2021
Keine Lust auf «Breaking News» im Minutentakt? Jeden Freitag trennen wir für Sie das Wichtige vom Nichtigen.
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Russland: Gericht verfügt die Liquidierung der ältesten Organisation für Menschenrechte
Darum geht es: Das oberste Gericht Russlands hat am Dienstag die Auflösung der Menschenrechtsgruppe Memorial angeordnet. Memorial dokumentiert seit mehr als 30 Jahren Verbrechen während der Sowjetzeit und setzt sich für politische Gefangene wie etwa Alexei Nawalny ein.
Warum das wichtig ist: Das Urteil ist ein weiterer Schlag gegen die Opposition im Land. Memorial war nach eigenen Angaben die erste zivilgesellschaftliche Gruppierung, die während der Perestroika entstand. Ihr erster Vorsitzender war der Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow. Sie untersucht unter anderem das Verschwinden von Menschen in den Gulags während der Stalin-Ära. Das missfällt dem Kreml, denn Putins Strategie ist, nicht erst seit der Ukraine-Krise, ausländische Feindbilder zu kultivieren und Verbrechen einheimischer Machthaber zu tabuisieren. Wie andere Organisationen, die mit Geldern aus dem Ausland unterstützt werden, gilt Memorial als «ausländischer Agent». Diese Bezeichnung hätte die Organisation auf allen Dokumenten ausweisen müssen, was sie in einigen Fällen versäumte – und das wurde ihr nun zum Verhängnis. Im Visier der Justiz steht nicht nur die Organisation an sich, sondern auch Mitarbeiter wie der Historiker Juri Dmitrijew: Am Tag vor dem Urteil gegen Memorial erhöht ein anderes Gericht das Strafmass gegen ihn auf 15 Jahre Straflager. Der 65-Jährige soll seine Adoptivtochter sexuell missbraucht haben. Der Vorwurf gilt Beobachtern als inszeniert, die EU hatte schon nach dem ursprünglichen Urteil 2020 Dmitrijews sofortige Freilassung gefordert.
Was als Nächstes geschieht: Memorial will das Urteil anfechten und eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen. Russische Oppositionelle sehen im Urteil «einen entscheidenden Schritt» auf dem Weg von einem autoritären zu einem totalitären Regime.
Weltraum: Leistungsfähigstes Teleskop der Welt erfolgreich gestartet
Darum geht es: Am frühen Samstagnachmittag Schweizer Zeit hat in Französisch-Guayana eine Trägerrakete abgehoben. An Bord: James Webb, ein Infrarot-Teleskop, das Milliarden Jahre in die Vergangenheit blicken kann – bis zur Entstehung der ersten Sterne und Galaxien. Die hochkomplexe Maschine ist nun auf dem Weg zu ihrem Einsatzort, eineinhalb Millionen Kilometer von der Erde entfernt.
Warum das wichtig ist: Die Entwicklung des neuen Teleskops, benannt nach einem Nasa-Administrator aus der Zeit der Apollo-Missionen, zählt zu den grössten technischen Leistungen der letzten Jahre. Einmal im Einsatz, wird es neue Erkenntnisse über den Kosmos ermöglichen. Schon das Hubble-Teleskop hat spektakuläre Bilder ferner Galaxien und Gaswolken (zum Beispiel der berühmten «Säulen der Schöpfung») geliefert. James Webb kann noch tiefer und weiter zurück in den Kosmos blicken lassen. Ein Sprecher formuliert es während der Liveübertragung der Nasa mit viel Pathos: «Liftoff! Von einem tropischen Regenwald zum Rande der Zeit itself, James Webb beginnt seine Reise zurück zur Geburt des Universums.»
Was als Nächstes geschieht: Mehrere wichtige Meilensteine sind bereits geschafft. Wäre die Ariane-Trägerrakete beim Start explodiert oder hätte eine der Zündstufen versagt, wäre das 10 Milliarden Dollar teure Projekt in Sternenstaub aufgegangen. Nun beginnen, wie es die Ingenieure nennen, die «30 Tage des Terrors». Denn James Webb ist so gross, dass es sich erst im Weltraum entfalten kann, wie ein Origami-Werk. Hunderte kleine Maschinchen müssen perfekt choreografiert nacheinander ihre Arbeit tun. Geht etwas schief, gibt es keine Möglichkeit, James Webb zu reparieren. In sechs Monaten, so die Hoffnung, wird das Teleskop seine ersten Bilder zurück zur Erde senden.
Migration: Und wieder ertrinken viele Menschen im Mittelmeer
Darum geht es: Kurz vor Weihnachten sind bei Bootsunglücken in der Ägäis mehr als 30 Menschen gestorben. In einem Fall wurden 16 Leichen geborgen, darunter die von 3 Frauen und einem Baby. Beim Kentern eines anderen Flüchtlingsboots starben mindestens 11 Menschen, 90 konnten von der Küstenwache und von Fischerbooten an die Küste gerettet werden – darunter 27 Kinder und 11 Frauen. Im zentralen Mittelmeer erhielt ein Schiff der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen mit 558 geretteten Migranten an Bord Anfang Woche die Erlaubnis, einen sizilianischen Hafen anzulaufen. Das deutsche Schiff Sea-Watch 3 mit 440 Menschen an Bord hingegen wartet immer noch auf einen sicheren Hafen.
Warum das wichtig ist: Das Mittelmeer wurde auch dieses Jahr wieder zum Massengrab: Laut Angaben des Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind von Januar bis November mindestens 2500 Menschen beim Versuch, in die EU zu gelangen, verstorben. Allein auf der zentralen Mittelmeerroute von Libyen nach Italien sind rund 1500 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 30’000 wurden auf dem Meer aufgegriffen und nach Afrika zurückgebracht – wo sie vielfach in Lagern verschwinden. Schmuggler setzen vermehrt Segelboote ein, um die Migranten nach Italien zu bringen. Damit wollen sie die in Griechenland praktizierten Pushbacks, illegale Rückschaffungen, umgehen. Pushbacks sind zwar völkerrechtlich verboten, aber ständige Praxis. Auch in Polen trieben die Behörden Migranten, die von den belarussischen Behörden zu Tausenden an die Grenze transportiert worden waren, mit Gewalt zurück.
Was als Nächstes geschieht: Europas Antwort auf das Flüchtlingselend im Mittelmeer und an der belarussisch-polnischen Grenze sind schärfere Regeln. In Polen haben die Behörden Abschiebungen erleichtert. Tragödien spielen sich auch an der EU-Aussengrenze zwischen Frankreich und Grossbritannien ab. Ende November starben mindestens 27 Menschen, die in einem Schlauchboot den Ärmelkanal überqueren wollten. Der Papst prangerte bei einem Besuch auf Zypern Anfang Dezember die Gleichgültigkeit gegenüber dem Ertrinken von Migranten an: «Dieses Sich-daran-Gewöhnen ist eine schlimme Krankheit!» In der Schweiz rechnen die Behörden 2022 mit bis zu 25’000 neuen Asylgesuchen. 2021 waren es bis Ende November rund 13’000.
Omikron: Hochansteckende Variante überrollt die Welt
Darum geht es: Aktuell stecken sich rund um den Globus Tag für Tag mehr Menschen an als je zuvor in der Corona-Pandemie. Umgerechnet auf die Bevölkerung ist weltweit kein Land stärker betroffen als Dänemark (das im Herbst die Pandemie noch für «beendet» erklärt hatte). Allerdings ist die Lage in den Spitälern wegen der extrem hohen Impfquote im Land bisher unter Kontrolle geblieben. Die Schweiz belegt aktuell Platz sieben auf dieser Rangliste. Einen grossen Anteil an dieser Entwicklung dürften der Winter auf der Nordhalbkugel sowie die hochansteckende Omikron-Variante haben.
Warum das wichtig ist: Gerade einmal fünf Wochen ist es her, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO der neuen Corona-Variante den Namen Omikron gab und sie als besorgniserregend einstufte. Heute hat sie in vielen Ländern ihre Konkurrentinnen bereits verdrängt – auch in der Schweiz bestimmt sie gemäss der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes nun das Infektionsgeschehen. Die WHO hat diese Woche gewarnt, dass Omikron Gesundheitssysteme an den Rand des Zusammenbruchs bringen könnte und darüber hinaus.
Was als Nächstes geschieht: Es gibt Lichtblicke – denn die Hinweise verdichten sich, dass diese Variante von Sars-CoV-2 deutlich weniger Menschen so krank macht, dass sie ins Spital müssen (mehr dazu im aktuellen Covid-19-Uhr-Newsletter). Und in Südafrika, wo die Variante zuerst entdeckt wurde, sind die Infektionszahlen extrem heftig gestiegen, aber sie sanken danach auch wieder genauso schnell.
Der Corona-Lagebericht
Nach kurzer Stagnation steigen sie wieder, die Fallzahlen. An dieser Stelle neue Rekorde zu vermelden, wäre mittlerweile redundant, wären sie nicht so deutlich:
17’634 neue Fälle vermeldete das Bundesamt für Gesundheit am Mittwoch, kurz bevor der Gesundheitsminister Alain Berset twitterte, zurzeit werde es «keine weitergehenden Covid-19-Massnahmen des Bundes» geben.
19’032 neue Fälle waren es am Donnerstag. (Und vermutlich sind es noch viel mehr Infektionen: Die Positivitätsrate ist im Moment sehr hoch, was bedeutet, dass sich viele Infizierte nicht testen.)
Und heute Freitag? Warten wir auf die Daten, die jeweils nachmittags publiziert werden. Mit der neuen Virusvariante Omikron, die sich noch einmal bedeutend schneller überträgt als das hochansteckende Delta, wird der Tag aber kaum gute Nachrichten bringen.
Die Zahlen werden nicht direkt in die folgende Grafik übersetzt, da diese für jeden Tag das Mittel der vergangenen 7 Tage abbildet und die letzten – noch unvollständigen – Tage nicht mit aufnimmt.
Künftig dürfte ein Rekord den anderen jagen, denn Omikron verantwortet nun schätzungsweise mehr als 50 Prozent der Infektionen. Damit hat die neue Virusvariante den Fuss nicht nur in der Tür, sie steht mitten in der Stube. Ihr Verbreitungstempo führt dazu, dass – bei gleichbleibenden Kontakten – die Fallzahlen bedeutend schneller zunehmen als bei früheren Varianten wie Delta, Alpha oder dem sogenannten Wildtyp des Virus vom Frühling 2020. Die wissenschaftliche Taskforce schätzte anfangs Woche, dass damit Fallzahlen von mehr als 20’000 pro Tag «in der ersten Januarhälfte 2022 plausibel» seien.
Dieses schnelle Wachstum lässt erwarten, dass auch die Kurven, die Spitaleintritte und Todesfälle beschreiben, bald wieder nach oben streben werden. Denn auch wenn Omikron, wie erhofft, tatsächlich mildere Verläufe verursachen sollte: Derart viele neue Fälle werden mehr Hospitalisationen nach sich ziehen, besonders in der Schweiz, wo erst 67 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind.
Nebst einer Überlastung des Gesundheitssystems drohen damit auch Ausfälle in anderen Bereichen der Infrastruktur: Denn auch wer nicht gerade spitalreif ist, sondern daheim im Bett liegt, kann seiner Arbeit – im Altersheim, in der Kita, im Elektrizitätswerk – nicht nachkommen. Was dagegen nützt, wissen wir alle. Was mit Blick auf Omikron besonders wichtig ist:
und mit einer Drittimpfung dürfte der Infektionsschutz gegen Omikron sehr viel höher sein als mit zwei Dosen.
Keine Frage, die Lage ist düster. Schauen Sie gut zu sich, geniessen Sie dieses Neujahrswochenende mit Ihren Allerliebsten – und bleiben Sie gesund. Wenn Sie noch keine Menü-Idee haben, inspiriert Sie vielleicht das Weihnachtsfeuerwerk unseres Hauskulinarikers Michael Rüegg. Und falls Sie mögen: Was wir bisher zu Omikron wissen, steht ausführlich in unserem Covid-19-Uhr-Newsletter vom vergangenen Montag.
Zum Schluss: Botox für Kamele
Die Meldung hat schon drei Wochen auf dem Buckel, bleibt aber erwähnenswert. Es geht um einen Schönheitswettbewerb für Kamele. Das allein ist nichts Besonderes, schliesslich gibt es hierzulande auch Beauty-Contests für Kühe. Beim King Abdulaziz Camel Festival in Saudiarabien aber kämpfen die Tierhalter mit allen Mitteln um den Sieg – auch unlauteren. So wurden dieses Jahr laut einer Mitteilung der königlichen saudischen Nachrichtenagentur 40 Kamele disqualifiziert. Um die Tiere noch schöner zu machen, wurden ihnen Lippen aufgespritzt, Nasen gerichtet, Gesichter gestrafft und Höcker aufgerichtet. Den verantwortlichen Züchtern drohen strenge Sanktionen – wobei Saudiarabien letztes Jahr die Prügelstrafe abgeschafft hat.
Was sonst noch wichtig war
Deutschland: Der Bundestag muss sofort Massnahmen treffen, um Menschen mit Behinderungen zu schützen, falls es in Spitälern zu Triagen kommt. Das hat das Bundesverfassungsgericht aufgrund einer Klage von 9 Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen entschieden.
Österreich: Neuer Job für Ex-Kanzler Sebastian Kurz: Er wird «Global Strategist» bei der US-amerikanischen Investmentfirma Thiel Capital, einem Unternehmen des Investors Peter Thiel, der auch Mitgründer der umstrittenen Big-Data-Firma Palantir Technologies ist.
Polen: Nach Grossdemonstrationen in mehreren Städten hat Staatspräsident Andrzej Duda sein Veto gegen ein neues Mediengesetz eingelegt. Nicht nur die Protestierenden im Land, auch die EU und die USA betrachten das neue Gesetz als Gefahr für die Medienfreiheit.
Grossbritannien: Ein Jahr nach dem Brexit sind über 60 Prozent der Briten der Meinung, der EU-Austritt sei schlecht oder schlechter als erwartet verlaufen. Auch 42 Prozent der Leute, die für «leave» stimmten, sind unzufrieden mit dem bisherigen Verlauf des Ausscheidens.
Südafrika: Desmond Tutu ist 90-jährig gestorben. Der ehemalige Erzbischof von Kapstadt war einer der bekanntesten Anti-Apartheid-Kämpfer und erhielt 1984 den Friedensnobelpreis. Ab 1995 sass er der Wahrheits- und Versöhnungskommission vor, später kritisierte er Korruption und Machtmissbrauch in der Regierungspartei ANC.
Somalia: Staatspräsident Abdullah Farmajo hat den Premierminister Mohamed Hussein Roble entlassen. Er wirft ihm Korruption und Amtsmissbrauch vor. In Somalia sind seit Monaten Neuwahlen überfällig. Die politische Krise dürfte die Sicherheitslage weiter verschlechtern, islamistische Milizen kontrollieren weite Teile des Landes.
Burma: Soldaten haben in einem Dorf im Südosten des Landes mehr als 30 Menschen getötet und verbrannt, darunter Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. Die Militärjunta spricht von einem Einsatz gegen «Terroristen». Die Uno verlangt eine Untersuchung des Vorfalls.
Hongkong: Nach der Verhaftung von Chefredaktoren und ehemaligen Vorstandsmitgliedern hat das unabhängige Onlinemedium «Stand News» seine Arbeit eingestellt. Die Behörden werfen dem Medium vor «aufrührerische Texte» veröffentlicht zu haben.
USA: Ghislaine Maxwell ist von einem Gericht in New York unter anderem wegen Menschenhandels mit Minderjährigen zu Missbrauchszwecken verurteilt worden. Maxwell war die Vertraute des Investors Jeffrey Epstein, der über Jahre hinweg junge Frauen missbraucht haben soll.
Die Top-Storys
Auf der Intensivstation Es gab im Verlauf dieser Pandemie Dutzende dramatische Dokumentationen aus den Intensivstationen. Keine war zu viel. So auch nicht der Text von Michael Schilliger in der NZZ: Er erzählt von Patienten, die wegen eines Gipfeli mit Konfi weinen, und beschreibt, wie ein Intensivbett einer Werkbank gleicht.
Nach der Evakuierung Über Jahre haben sie in Afghanistan für die Schweiz gearbeitet. Bis die Taliban Kabul einnahmen und sie in Lebensgefahr gerieten. Gegenüber «Watson» berichten ehemalige Angestellte des Schweizer Kooperationsbüros der Deza in Kabul, wie ihnen die Flucht aus Afghanistan gelang und warum sie sich von der Schweiz im Stich gelassen fühlen.
In der toten Woche Fühlen Sie sich gerade auch etwas eigenartig? Festgeklemmt zwischen den Jahren, gefangen in einer Zeit, in welcher der am häufigsten gesprochene Satz sein muss: Im nächsten Jahr dann? Im «Atlantic» beschreibt Helena Fitzgerald die, wie sie sie nennt, dead week: die tote Woche und was ihren Zauber ausmacht.
Illustration: Till Lauer