«Wenn wir jetzt nicht aus der Ruhe gebracht sind, wann denn sonst?»

Das Krisenjahr 2021 geht zu Ende – nur die Krisen nicht. Der Soziologe Armin Nassehi über fatale Mutlosigkeit, die ästhetische Dimension des Politischen und die alles entscheidende Frage: Wann ist diese Pandemie vorüber?

Ein Interview von Daniel Graf und Theresa Hein, 30.12.2021

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Beschäftigt sich intensiv mit der überforderten Gesellschaft und hat doch längst nicht alle Hoffnung aufgegeben: Armin Nassehi, Soziologe. Markus Burke

Eines kann man über Armin Nassehi ganz sicher sagen: Der Mann hat ein Gespür für Timing. «Unbehagen» heisst sein aktuelles Buch, der Unter­titel verrät: eine «Theorie der überforderten Gesellschaft». Selten lag harte soziologische Theorie derart nah beim aktuellen Lebens­gefühl. Als wir ihn im Videocall sprechen, trägt der Münchner Soziologie­professor seine Überforderungs­diagnose allerdings mit bemerkens­werter Gelassenheit und geradezu unverwüstlicher Zuversicht vor. Im grossen Jahresend­gespräch wollten wir nicht zuletzt eines von ihm wissen: Wieso diese Gesellschaft es einfach nicht schafft, die Probleme zu lösen, die sich vor ihr auftürmen.

Zur Person

Armin Nassehi, geboren 1960, ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschafts­theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Natur­forscher Leopoldina und stellvertretender Vorsitzender des Bayerischen Ethikrates. 2020 wurde er in den «Expertenrat Corona» des Bundes­landes Nordrhein-Westfalen berufen, der Strategien für die Rückkehr ins soziale öffentliche Leben entwickeln sollte. Sein aktuelles Buch «Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft» erschien vor kurzem bei C. H. Beck.

Herr Nassehi, wir wollen in diesem Gespräch auf 2021 zurück­blicken. Geht das, ohne schlechte Laune zu verbreiten?
Na ja, was soll man sagen? Es gibt ja so die üblichen Sätze, die man sagt. Ein Annus horribilis! Man könnte sogar ein «n» weglassen. Das soll jetzt natürlich nicht ins Interview … Ernsthafte Antwort: Es ist natürlich ein Krisenjahr gewesen und ein Jahr, in dem sich viele Befürchtungen erfüllt haben. Und das meint nicht nur, dass jetzt irgend­welche Omikron-Wellen oder so wieder hochgehen, sondern dass ganz offensichtlich die Reaktions­möglichkeiten, die wir so gerne hätten, nicht funktioniert haben. Wir sind wieder in die gleichen Fallen getappt wie schon zuvor. Das kann einen ja fast beruhigen. Diese Gesellschaft scheint sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, selbst wenn schlimme Dinge passieren. Darin könnte auch etwas Positives liegen.

Ihr aktuelles Buch trägt den Titel «Unbehagen». Und alles, was Sie jetzt gesagt haben, läuft auf den Kern dieses Unbehagens hinaus, das auch uns umtreibt: Warum schafft es die Gesellschaft nicht, die Probleme zu lösen, obwohl ja eigentlich alles Wissen dafür zur Verfügung steht?
Ja, wir haben eigentlich eine unglaublich hohe Problemlösungs­kompetenz. Wenn man sich mal vorstellt, was alles geschafft wurde: Wir haben die Produktion aufrecht­erhalten trotz Krise, es ist gelungen, das Gesundheits­system aufrecht­zuerhalten und Impfstoffe zu entwickeln. Zum Ärger aller Rechts­radikalen in Deutschland haben das türkische Einwanderer-Abkömmlinge geschafft. Also es gibt eine ganze Menge an Problem­lösungs­kapazitäten, nur deshalb fallen uns ja auch die Divergenzen so auf. Wir sind wissenschaftlich toll, wir sind medizinisch toll, und trotzdem sterben mehr Leute, als sein müsste. Wir sind ökonomisch unglaublich gut, logistisch unglaublich gut, und trotzdem gibt es diese soziale Ungleichheit, trotzdem sterben immer noch Menschen an Hunger. Es wäre also falsch zu sagen, diese Gesellschaft könne gar nichts, die kann wahnsinnig viel. Und genau deshalb lohnt es sich, die Frage zu stellen, warum trotzdem so viel misslingt.

Diese Frage kann man moralisch zuspitzen. Sie tun das auch im Buch, indem Sie aus der wissenschaftlichen Grundsatz­frage die «Soziodizee»-Frage machen, also die Frage nach der Legitimation der sozialen Ordnung, wie sie ist, in Anspielung auf die Theodizee. Warum lassen wir so viel Leid zu, obwohl wir alles Wissen parat hätten, um Krisen zu lösen?
Ich stelle die Frage ein bisschen anders. Moralisch würde man fragen: Warum haben Sie gestern nicht die Welt gerettet, sondern nur irgendwo ein Glas Rotwein getrunken? Mich interessiert die Frage, warum die Gesellschaft dies und jenes nicht schafft, warum die Gesellschaft das zulässt, warum zum Beispiel Volks­wirtschaften erfolgreich sein können und Leute trotzdem nicht versorgen. Es ist ja nicht so, dass da Leute sitzen und sagen: Ach, das ist uns eigentlich egal. Sondern selbst denen, denen es nicht egal ist, gelingt die Problem­lösung nicht so, wie man es gerne hätte. Die Theodizee-Frage wurde dadurch gelöst, dass man gesagt hat, das Leid auf der Welt sei eine Prüfung Gottes. So haben die Theologen das aufgelöst, und Leibniz hat gesagt, wir leben schon in der besten aller Welten.

Freispruch für Gott also bei Leibniz. Aber gibt es auch den Freispruch für die heutige Gesellschaft?
Mich interessieren gerade die Formulierungen, mit denen man sich da behilft: Wir müssen zusammen­halten, wir brauchen mehr Gemeinschaft, wir brauchen mehr Moral. Als nun die neue deutsche Regierung ins Amt kam, hiess es: Wir müssen jetzt handeln. Das sind die Formeln, mit denen man eigentlich die Komplexität der Probleme wegdenkt. Wir erzählen uns ständig solche Geschichten: Wenn nur der Kapitalismus weg ist, dann wird schon alles gut. Wenn nur diese Regierung abgewählt ist, dann wird schon alles gut. Wenn wir nur die richtigen Theorien verwenden oder wenn wir mehr zusammenhalten, wird alles gut. Je mehr man Zusammen­halt beschwören muss, umso pathologischer wird es meistens.

Jetzt haben Sie gut soziologisch beobachtet, welche Antworten andere geben. Was wäre denn Ihre Antwort auf diese bohrende Warum-Frage? Die werden wir ja nicht los!
In der Tat. Und ich säe in dem Buch nirgendwo auch nur den Verdacht einer Erwartung, dass ich die Antwort wüsste. Die Idee ist vielmehr, dass man aus den Erfolgs­bedingungen der Moderne ein bisschen was lernen kann.

Zum Beispiel?
Dass es durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft zu so etwas wie Emanzipations­prozessen kommt. Dass zum Beispiel Wissenschaft nur noch wissenschaftliche Probleme lösen muss. Das ist ja eigentlich eine tolle Sache. Stellen Sie sich vor, ich müsste bei jedem Satz von mir noch fragen, ob das auch meinem Landes­fürsten passt. Da müsste ich bei jedem Satz Herrn Söder im Kopf haben. Oder die Medizin müsste gleichzeitig auch noch gottgefällig sein. Dass man die Dinge voneinander trennte, hat allerdings auch Probleme produziert. Die einzelnen Teile waren so erfolgreich, dass sie eigentlich nicht korrigierbar waren. Die Koordinations­fähigkeit ist weg, und auch die Fähigkeit zur Kommunikation zwischen diesen unter­schiedlichen Sphären ist sehr viel schwieriger geworden.

Etwa zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit.
Genau. Die Frage ist: Wo gibt es eigentlich Übersetzungs­leistungen? Wie lassen sich wissenschaftliche, ökonomische, politische Restriktionen gleichzeitig verarbeiten, wenn es um Lösungs­konzepte geht? Und auch da war die Moderne ganz erfolgreich. Die soziale Markt­wirtschaft war so etwas, der Sozialstaat, das ganze Wohlfahrts­system mit gesetzlicher Kranken­kasse, Arbeitslosen­versicherung und so weiter. Das war aber natürlich klassisch für die Industrie­gesellschaft. Dafür brauchen wir heute was Neues oder wenigstens Ergänzendes.

Das heisst, die Differenzierung ist gleichzeitig der Grund für die Über­forderung der Gesellschaft?
Die Differenzierung ist gleichzeitig das Problem und die Lösung. Und die Frage ist: Was folgt daraus? Ganz konkret etwa: Wie funktioniert zum Beispiel wissenschaftliche Politik­beratung? Der neue Kanzler kann nicht hingehen und sagen, also in den Rankings der Fach­zeitschriften ist das, was ich hier sehe, ganz klar das richtige Ergebnis, deshalb entscheiden wir das jetzt so. Das interessiert die Wähler überhaupt nicht. Die interessiert: Was ist plausibel oder nicht. Und den Kanzler interessiert: Kann ich damit Punkte machen oder nicht? Dieser Tage gab es in München eine Demonstration von Massnahmen­gegnern, gegen die noch nicht einmal das Gewalt­monopol des Staates durchgesetzt wurde. Jede linke Demo wäre platt­gemacht worden. Aber hier lassen sich 500 Polizisten überrennen von irgendwelchen Spinnern, ohne dass diese kriminalisiert werden. Das ist mir unbegreiflich. Aber das sind eben unterschiedliche Logiken. Wenn ich als Wissenschaftler Politiker berate, kann ich nicht kontrollieren, was die daraus machen.

Wie entsteht denn die Plausibilität, von der Sie eben sprachen?
Plausibel ist politisch das, was die Öffentlichkeit versteht und was Gefolgschaft produziert. Macht kann man nicht daran erkennen, ob ich eine bestimmte Position habe, sondern ob die anderen mitmachen und tun, wie ihnen geheissen. Plausibilität ist eine Übersetzungs­leistung. Ein Arzt wird nicht plausibel dadurch, dass er sagt: Das steht schon in der «Harvard Medical Tribune», was ich Ihnen jetzt verschreibe. Sondern er muss Ihnen plausibel machen, das wird Ihnen helfen. Und er muss sich im besseren Fall in Ihre Situation versetzen können. Das sind nicht nur irgend­welche Geschichten, das ist das, was die Kommunikation in der Gesellschaft ausmacht. Die Frage lautet immer: Wie übersetze ich das?

Wurden in der Pandemie­bekämpfung Fehler gemacht bei dieser Übersetzung? Hat man deshalb die Impf­verweigerer nicht gekriegt?
Fehler werden immer gemacht. Sprechen Sie mal mit professionellen Text­übersetzern. Die sagen, das Interessante sei, welche Art von Fehlern man macht. Die sagen nicht, es gibt keine. Die spannende Frage ist deshalb: Welche Abweichungen sind eigentlich denkbar? Bei Lyrik­übersetzungen ändern sie ja bisweilen sogar den semantischen Gehalt.

Das liegt aber daran, dass die Übersetzung einen anderen Zweck hat, der ist dann ein rein ästhetischer.
Das Ästhetische ist auch politisch ganz entscheidend. Plausibilität muss dargestellt werden. Ein Politiker muss darstellen. Ein Unter­nehmen muss seine Produkte darstellen. Wenn ich mich verliebe, muss ich mich dem Gegenüber darstellen. Diese Plausibilitäten muss man gewisser­massen erzeugen.

Und da wurden in der Covid-Krise Fehler gemacht?
Es hat grosse Probleme mit Inkonsistenz gegeben. Vor einem Jahr hat man Anfang November gesagt: Eigentlich müssten wir harte Massnahmen ergreifen, aber wir wollen Weihnachten nicht kaputt­machen. Kommunikations­experten würden sagen: In diesem Satz sind so viele Botschaften drin, die sich gegenseitig widersprechen, dass kein Mensch mehr weiss, was damit gemeint ist. Als würde man in der Werbung sagen, dieser neue Mercedes ist total super und hat sogar vier Räder, aber eigentlich sollte man nicht Auto fahren. Das hört sich jetzt so an, als sei das nur ein ästhetischer Fehler.

Und dem ist nicht so?
Keineswegs, daran hängen auch die Inhalte. Die Übersetzungs­leistung hinzukriegen, ist das Entscheidende. Ein wunderbares Beispiel ist doch der ästhetische Wandel von Karl Lauterbach, seit er deutscher Gesundheits­minister ist. Ich will das gar nicht moralisieren, ich finde, Karl Lauterbach ist ein wahnsinnig kluger Wissenschaftler. Er nervt mit Recht, auf hohem Niveau, also ich finde den wirklich klasse. Aber es ist hochgradig spannend, wie viel Freiheit in der Kommunikation er auf einmal verloren hat, weil er nun als Mitglied einer Koalitions­regierung agieren muss.

Sie brachten eben dieses Weihnachts-Beispiel: Wir wollen eigentlich Massnahmen erlassen, aber wir müssen jetzt noch die Festtage retten. Was bei den Bürgerinnen ankommt, ist die wahnsinnige Trägheit des politischen Apparats. Wie kann es sein, dass der so wenig lernfähig ist?
Das politische System ist durchaus lernfähig im Hinblick auf politische Probleme. Zum Beispiel: Wie reagiert man auf Loyalitäts­verlust? Die CDU hat die Bundestags­wahl verloren, weil sie lernfähig war. Sie hat gelernt: Wir verlieren am rechten Rand, also wettern wir jetzt mal gegen die Linken und machen eine Rote-Socken-Kampagne. So ein Quatsch! Olaf Scholz kann man alles nachsagen, aber eine Rote-Socken-Kampagne gegen ihn? Und den Grünen nachsagen, sie seien nicht bürgerlich oder mittig genug, das ist lächerlich. Nichts ist bürgerlicher als die Grünen. Da kommt selbst die Union nicht mit.

Das war ein Beispiel für Lernfähigkeit?
Die Union hat sich nach der Bundestags­wahl als lernfähig erwiesen, aber sie hat die falschen Lehren gezogen. Ähnlich war das mit dieser Weihnachts-Geschichte: Man hat gelernt: Weihnachten retten ist wichtig. Und man tut das dann. In der Covid-Krise war keine Lernfähigkeit da. Ich bin Mitglied des Bayerischen Ethikrats, wir haben am 10. Juni der Bayerischen Staats­regierung eine Stellung­nahme vorgelegt, wo wir alles voraus­gesagt haben, was jetzt passiert ist. Und wir haben es im persönlichen Gespräch noch drastischer formuliert. Dass man zum Beispiel das Boostern vorbereiten muss, vor allem in den Alten­heimen. Und jetzt wundert man sich, dass die Logistik so schwer anläuft. Man konnte das alles wissen, 2020 war es das Gleiche. Über die Impfpflicht nachzudenken, während die Inzidenzen hoch sind, ist Quatsch, das ist der falsche Zeitpunkt. Darüber muss man nachdenken, wenn die Zahlen fast bei null sind. Man lernt also oft das, was man gerne lernen will.

Warum geschah das nicht?
Das ist nicht zumutbar. Deshalb wird es beim Klima­wandel auch so sein: Die drastischen Massnahmen werden erst kommen, wenn der Meeres­spiegel so stark steigt, dass die Urlauber das im Sommer sehen. Und Aufklärung hilft da nicht. Da kann ich als Wissenschaftler zehnmal hingehen und sagen, wir müssen jetzt im Sommer dies und das und jenes vorbereiten. Dann sind Sie natürlich ein Schwarz­maler oder übertreiben.

Sie haben von den falschen Lehren der CDU gesprochen. Könnte es nicht sein, dass auch die Theorie von der Nicht­zumutbarkeit eine falsche Lehre ist? Unterschätzt die Politik die Wählerschaft?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Zustimmungs­raten für noch schärfere Regeln waren in der Bevölkerung höher als der Mut der Politik, sie durch­zusetzen. Das gilt übrigens auch jetzt. Das Schlimmste, was in einer Demokratie für Entscheidungs­träger passieren kann, ist, dass man abgewählt wird. Diese Art von Risiko­bereitschaft würde aber bedeuten, zumindest eine Idee davon zu haben, dass die jetzige Entscheidung nicht vollständig kontrollieren kann, was passiert. Wenn man sich die Wissenschafts­geschichte anguckt, dann sehen wir, dass wir gerade nicht die verehren, die einen Gedanken noch das zehnte Mal wiederholen. Sondern wir finden die toll, die abgewichen sind. In der Kunst­geschichte ist es genauso. Michelangelo zum Beispiel hat eigentlich alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte damals. Ästhetisch, politisch, religiös. Und ich will jetzt damit nicht sagen, dass jeder ein Michelangelo werden soll. Aber Risiko­bereitschaft ist nötig. Das heisst nicht, etwas besonders Gefährliches zu tun. Sondern sich Gedanken zu machen und Lernfähigkeit zu organisieren. Um auf das «zu spät» in der Covid-Krise zurück­zukommen: Da herrschte einfach Mutlosigkeit.

Wie erklären Sie sich die Mutlosigkeit vor dem Hinter­grund, dass diese Politiker nicht nur ein demokratisch legitimiertes Mandat haben, sondern dass auch, wie Sie vorhin erwähnten, überwältigend hohe Zustimmungs­werte für stärkere Massnahmen da waren in der Bevölkerung?
Ja, das ist nun wirklich schwer zu erklären. Interessanter­weise gilt das für alle politischen Akteure. Also man kann nicht einmal sagen, eine Partei habe es verbockt, sondern es gilt für alle. Womöglich hängt das auch damit zusammen, dass es innerhalb des politischen Systems zu wenig Möglichkeiten zur Reflexion des Macht­kreislaufs gibt. Unter Macht­kreislauf versteht man in der Soziologie, dass Macht ausgeübt wird und dann in die Gesellschaft zurückwirkt. Dort wird sie verarbeitet und kommt als eine Art Loyalität wieder zurück. Das unterschätzt die Politik wahrscheinlich. Politik braucht mehr Risiko­bereitschaft.

Welche Rolle haben in der Covid-Krise die Medien bei dieser Risiko­losigkeit gespielt?
Wahrscheinlich gab es noch nie eine Pandemie, in der die Öffentlichkeit sich so stark öffentlich selbst beobachtet hat. Wie denn auch? Bei der Spanischen Grippe hatten die wenigsten Leute ein iPhone. Also: Totale Selbst­beobachtung, das ist das eine. Das andere: Nie konnte man besser informiert sein. Gleichzeitig haben wir natürlich Medien, die permanent die Kakofonie befördern. Da wird ja nicht nur in eine, da wird in jede Richtung geschossen. Das befördert noch einmal die Risiko­losigkeit von Politik. Ich hatte bisweilen das Gefühl, man hat womöglich mehr Sorge darum, was die «Bild»-Zeitung zu einer bestimmten Entscheidung sagt. Deren Resonanz kommt ja auch schneller als eine gesellschaftliche Reaktion. Und da ist dann auf einmal der Hinweis, dass ich im Supermarkt eine Maske tragen muss, eine «Freiheits­einschränkung», die Rechts-vor-links-Regel im Strassen­verkehr aber nicht. Dabei ist die ebenso lebens­erhaltend wie die Maske. Fahren Sie mal unter Missachtung der Rechts-vor-links-Regel mit dem Fahrrad durch eine Grossstadt.

Die Covid-Krise wurde von Beginn an auch als Folie, als Lackmustest für die Klimakrise verstanden. Auch wenn wir noch mittendrin sind: Welche Lehren lassen sich aus der einen für die andere Krise ziehen?
Ich habe mich schon zu Beginn der Covid-Krise dagegen gewehrt, das starke Durch­regieren, das es im Frühjahr 2020 gegeben hat, als Modell für andere Krisen zu nehmen. Andere Kollegen sehen das anders. Aber die Idee zu Beginn der Krise ist immer die des Temporären gewesen: Ein Lockdown ist möglich, aber danach muss man wieder lockern. Bloss: In dem Moment, in dem man dann anfing zu lockern, hat man festgestellt, dass die Gesellschaft ihre Eigen­dynamik wieder hat anspringen lassen. Dann war es auf einmal unglaublich schwierig, das Verhalten der Menschen zu kontrollieren. Deswegen kann man den Beginn der Covid-Krise nicht als Blaupause für die Klimakrise nehmen, denn es dient noch nicht mal als Blaupause für die Covid-Krise. Was soll man denn auch machen? Soll man alles verstaatlichen, was CO2 produziert? Weil: Das wäre ja die Konsequenz. Und soll man glauben, dass der Staat dann alles richtig macht? Wird der Staat die richtigen Produkte entwickeln? Da habe ich doch meine Zweifel.

Aber wenn man sagt, als Eins-zu-eins-Vorlage taugt die Covid-Krise nicht zur Lösung der Klimakrise, kann man nicht zumindest einige Lehren daraus ziehen?
Bevor man anfängt Lehren zu ziehen, muss man sich fragen: Wo ist der Reflexions­punkt, der in der Gesellschaft Folgen hinterlässt? Die Gesellschaft braucht diese Orte. Ein Beispiel sind Familien­unternehmen, weil sie das Soziale mit dem Ökonomischen anders verbinden als eine Aktien­gesellschaft. Ich will das nicht romantisieren, nur sagen: An diesen Orten entsteht etwas anderes, weil unterschiedliche Logiken zusammentreffen – eine Familien­logik und eine ökonomische Logik. Es geht um Orte, wo Leute zusammen­kommen und auf Augenhöhe miteinander reden müssen, um ein Ziel zu erreichen. Etwas Neues entstehen lassen, indem man versteht, dass der andere Restriktionen hat, für die er nichts kann. Da geht es nicht um Moral, sondern um Lösungs­orientierung. In modernen Gesellschaften war es die Demokratie, die es geschafft hat, diese unter­schiedlichen Formen zusammen­zubringen. Die Opposition als Teil des politischen Systems einzubinden, war so ein Gedanke. Das Parlament also ist so ein Ort, aber wir brauchen auch andere. Initiativen, um Leute zusammen­zubringen, die dann den einen riskanten Gedanken tatsächlich mal hinkriegen könnten.

Bleiben wir noch ein bisschen bei der Klimakrise. Sie stehen grund­sätzlich den Appellen ans Handeln sehr skeptisch gegenüber, jedenfalls in der Form, wie sie Greta Thunberg oder Fridays for Future vortragen.
«I want you to panic» ist total super für eine Protest­bewegung! Das kann man gar nicht besser machen. Als sei es von einer Agentur entworfen worden. Manche unterstellen das sogar, ich glaube das nicht, dafür ist es einfach zu gut. Eine Protest­bewegung muss immer übertreiben, muss unterschiedliche Leute einbinden können, muss immer ein schlechtes Gewissen machen. Das können die perfekt. Aber die Frage ist: Wie übersetzt man das in Politik? Was den Klimawandel angeht, gelte ich immer als der konservative Bremser, der sagt: «Ihr dürft den Leuten nicht so viel zumuten.» Zu Leuten, die sagen: «Ihr müsst handeln, ihr müsst was tun, am besten gestern schon», sage ich immer: Das ist schön gesagt, aber das ist ein Mythos. Durch Einsicht ist noch nie irgend­etwas wirklich geändert worden. Erst wenn sich Handlungs­formen langsam ändern und bewähren, kommt die Einsicht. Danach.

Aber für so einen Prozess ist die Zeit doch gar nicht da. Seit der Club of Rome 1972 seine Studie «Die Grenzen des Wachstums» veröffentlicht hat, ist einige Zeit vergangen, und das mit der evolutionären Entwicklung, für die Sie plädieren, hat ja nicht so ganz geklappt.
Das würde ich so nicht sagen. Was ökologische Fragen angeht, hat sich unglaublich viel verändert. Man kann das vielleicht an anderen Beispielen deutlich machen: Es gab noch nie so grosse Konflikte, was Gender­fragen und Migration betrifft, wie heute. Konflikte kommen in dem Moment auf, in dem man sieht, dass sich etwas evolutionär geändert hat, und zwar radikal. Radikal heisst, dass in der Gesellschaft jetzt diejenigen, die man vorher geschützt hat, selber reden. Das ist doch bei den ökologischen Fragen ganz genau so: Evolutionär hat sich viel getan. Dass wir keine Zeit haben, ist das strukturelle Problem. Die Trägheit der Gesellschaft ist aber trotzdem da. Das muss man wenigstens empirisch zur Kenntnis nehmen, man kann es nicht einfach normativ wegwischen. Allein die Tatsache, dass ich sage, wir müssen bis 2030 Ziel X erreichen, heisst ja noch nicht, dass das dadurch auch möglich ist. Es stimmt, wir haben die Zeit nicht, und wir werden auch in den Klimawandel viel stärker reinrutschen, als wir uns das jemals wünschen würden. Deshalb ist es umso dringlicher, sich Konzepte auszudenken, mit denen wir überhaupt auf diesen Weg kommen.

Aber Sie können auch kein Konzept vorschlagen, wenn Sie normativ nicht wissen, wo Sie hinwollen.
Ich weiss das ja: Wir wollen diesen Scheiss-Klimawandel lösen. Aber wir wissen auch, dass die Normativität selbst noch nicht die Sache macht. Wir wissen zum Beispiel ziemlich genau, dass unser Verhalten sich sehr selten durch Einsicht ändert. Sondern dadurch, dass sich Handlungs­formen bewähren. Ein kleines Beispiel ist der öffentliche Personen­nahverkehr. Was schafft den Anreiz, nicht mit dem Auto in der Stadt zu fahren? Das funktioniert dann, wenn das Angebot an öffentlichem Nahverkehr so beschaffen ist, dass er auch ästhetisch funktioniert. Es darf gewisser­massen nicht der «soziale Abstieg» sein, mit den Öffentlichen zu fahren, sondern es muss Prestige besitzen. Das hört sich an wie eine Petitesse, ist aber keine. Es ist, was unser Verhalten verändert. Vegetarisches Essen hiess vor kurzem noch: Du kriegst halt nur die Beilagen. Das hat sich geändert. Und die Leute sind nicht nur Vegetarier geworden, weil sie gesundheits- oder klimabewusst sind, sondern weil es ein anderes Prestige bekommen hat. Ich glaube, dass viele Probleme so zu lösen sind.

Sie haben die Frauenrechte angesprochen. Das hat ja nun siebzig Jahre lang gedauert, bis im bundes­deutschen Kabinett eine paritätische Verteilung zustande kam. Glauben Sie, dass es bei der Klimakrise schneller geht?
Davon bin ich überzeugt. Wir sind ja bereits sehr deutlich in der Phase der Transformation – und nicht nur der Anpassung. Wir hören jetzt lautstarke Stimmen aus der Industrie, die sagen: Gebt uns endlich die Regeln, die wir brauchen, weil wir den kapitalistischen Wettbewerb nur aufrecht­erhalten können, wenn es klare Regeln für alle gibt. Die Unternehmen interessiert primär nicht der Klimawandel, sondern dass sie konkurrenz­fähig bleiben können. Ein sehr hilfreicher Satz ist hingegen, dass die grosse moralische Regel nicht hilft. Auch der Hinweis darauf, dass die verschiedenen Kompetenzen anders aufeinander bezogen werden müssen. Und als drittes vielleicht hilfreiches Leitprinzip: Wir werden die Gesellschaft nicht in ihrer Grund­struktur verändern, sondern wir müssen diese Struktur ausnutzen. Wie bei asiatischen Kampf­techniken: die Bewegung des Gegners verwenden, um ihn zu Boden zu bringen. Also nicht schlagen, sondern quasi mitgehen. Man muss die Strukturen in Anspruch nehmen, die da sind. Neue gibt es erst, wenn die alten verbraucht sind.

Das mit den Regeln klingt ja schon anders als die viel beschworene technische Innovation als Allheil­mittel. Könnte es nicht auch sein, dass zum realistischen Erreichen der Ziele auch die eine oder andere schmerzhafte Verzichts­regel unabdingbar ist?
Zunächst: Die technische Innovation fällt nicht vom Himmel. Die müssen Sie manchmal erzwingen oder ermöglichen, also fördern. Ein Unternehmen wird nicht aus freien Stücken die Technologie ändern, sondern nur, wenn der Markt es notwendig macht.

Oder wenn die Politik es vorschreibt.
Das sage ich doch gerade.

Sie sagten, wenn der Markt es notwendig macht.
Verboten werden die Sachen ja nicht im strengen Sinne. Die Autoindustrie darf wahrscheinlich auch nach dem Verbot des Verkaufs von Benzin­fahrzeugen Benzin­fahrzeuge produzieren, sie darf sie dann nur nicht mehr verkaufen. Das meine ich mit dem Markt. Das Unter­nehmen kennt nur den Markt.

Aber das ist letztlich ja keine Markt­frage in dem Sinne, dass die Nachfrage nach dem Benzin­motor nachlässt. Sondern da wird eine politische Entscheidung normativ getroffen und eine neue Spielregel geschaffen.
Die Spielregel gibt es ja schon, 2030 soll kein Verbrenner mehr verkauft werden in Europa. Das ist auch richtig so. Und das produziert Innovationen noch und noch. Dann kommen wir auch endlich weg von der Idee, dass man als Erstes mit einer elektrischen S-Klasse anfängt. Die sieht super aus, hilft aber niemandem. Es hilft vielleicht dem Prestige der Marke, aber es braucht Produkte, die Normal­verdiener kaufen können. Woran ich nicht glaube, ist der Appell an den individuellen Verzicht. Das ist das Predigen an die Gläubigen. Die anderen werden Sie so nie erreichen. Der Verzicht muss wie ein Gewinn aussehen. Es gibt in der ganzen Bewegung so etwas Protestantisches. Der Protestant, also nicht der reale, sondern idealtypisch überzeichnet, möchte ja im Vergleich zum Katholiken nicht nur das richtige Verhalten, sondern auch noch das richtige Motiv dazu.

Sie nicht?
Mir reicht es schon, das Verhalten zu ändern. Das Motiv kommt dann schon nach. Sie haben doch mit allen sozialen Innovationen der letzten Generationen gesehen, dass die etablierte Wirtschaft immer dagegen wettert: Das wird uns zerstören. Erinnern Sie sich noch an die Diskussion um den Mindest­lohn in Deutschland? Es ist noch nicht lange her, da haben manche Leute gesagt, das wird 800’000 Arbeitsplätze in Deutschland vernichten. Nichts hat es vernichtet! Ganz im Gegenteil. Und auch die Erhöhung jetzt auf 12 oder 13 Euro, das steckt eine Volks­wirtschaft mal eben so weg. Aber Verzicht? Ja gut, vielleicht wird es den einen oder anderen Verzicht geben müssen, aber den muss man gut verpacken. Ich komme ja am Ende des Buches darauf zu sprechen, dass man sich die Konsum­logik zum Vorbild nehmen soll.

«Man kann den Beginn der Covid-Krise nicht als Blaupause für die Klimakrise nehmen, denn es dient noch nicht mal als Blaupause für die Covid-Krise.» Markus Burke

Wie viele Drohbriefe haben Sie da eigentlich von linken Fach­kolleginnen bekommen?
Erstaunlicherweise viel Zustimmung! Das Argument ist ja nicht, mehr zu konsumieren. Das wäre widersinnig. Sondern das Argument ist: Wir müssen ernst nehmen, dass unsere Verhaltens­steuerung sehr stark über Faktoren läuft, die unserem Konsum­verhalten ähneln. Wir kleiden uns zum Beispiel modisch, das heisst, wir gucken, ob das gut aussieht, ob wir uns darin wohlfühlen, ob das eine bestimmte Form von Anmutung hat. Marken­namen funktionieren ganz offensichtlich. Wir Akademiker machen uns zwar gern darüber lustig, aber das gilt für uns genauso. Warum soll man sich das nicht zunutze machen? Am besten wissen das die Kirchen. Die katholische Kirche ist seit ihrem Bestehen die beste Marketing­agentur …

 da sieht es mit dem Image-Marketing aber momentan nicht so gut aus …
… darauf wollte ich gerade hinaus. Heute kann sie das nicht mehr aufrecht­erhalten, weil man offensichtlich an den eigenen Standards gescheitert ist. Das ist doch eigentlich ein sehr schönes Lehr­beispiel dafür, dass nicht jeder Marketing­trick auch klappt. Und natürlich würde ich die Kirche nicht allein auf Marketing zurück­führen. Aber auch die Kirche funktioniert vor allem ästhetisch.

Haben Sie als Katholik noch ein paar Verpackungs­tipps für Politikerinnen in der Schweiz und anderswo?
Es geht ja nicht um Verpackungs­tricks. Aber das Katholische hat sich damit zufrieden­gegeben, wenn man nach aussen Wohl­verhalten gezeigt hat. Der Protestant hingegen möchte den ganzen Menschen erreichen und muss ihm dafür erst mal einen expliziten eigenen Willen einpflanzen. Die ästhetische Dimension des Ethischen und des Politischen würde ich allerdings nicht unterschätzen. Wenn es politisch um etwas geht, dann werden immer ästhetische Argumente ausgepackt. Man personalisiert Politik, man macht Wahlkämpfe ohne eine inhaltliche Aussage, aber mit einer starken Ästhetik. Olaf Scholz hat die Wahl gewonnen, weil er inhaltlich eigentlich nichts gesagt hat, aber eine Ästhetik gewählt hat, die sehr klug gemacht war zwischen den Siebziger­jahren und jetzt. Das war schon richtig cool. Und die CDU hat die Wahl verloren, weil sie eine Ästhetik der Fünfziger­jahre hatte. Als ich diese Plakate gesehen habe, habe ich gedacht, da könnt ihr doch eigentlich eure Listen gleich wieder einpacken. Das ist doch peinlich gewesen!

Die neue Koalition hat ja auch gleich mal mit Ästhetik angefangen, nicht mit Inhalten.
Ja, mit diesem tollen Bild, bei dem noch nicht mal versucht wurde zu verheimlichen, dass das jetzt eine Inszenierung ist. Wozu dann wiederum eine Form von Selbst­ironie gehört, die auch bereits wieder eine Inszenierung ist. Das finde ich schon vergleichs­weise klug. Besser als die Leute, die denken, dass alles super authentisch sein muss, denn das ist eben auch nur eine Inszenierung.

Vielleicht müssen wir doch noch mal ein bisschen schlechte Laune machen. 2021 hat mit dem Sturm aufs Kapitol begonnen, es endet mit Säbel­rasseln in Russland. Dazwischen: Afghanistan-Desaster, Extremwetter-Katastrophen mit Verheerungen etwa in Deutschland und den USA. Antidemokratische Entwicklungen in der Türkei, Polen, Burma, Menschenrechts­verletzungen in China und, und, und. Wir haben jetzt endlos viel vergessen. Unwissenschaftliche Frage: Wie bewahrt sich nicht der Forscher, sondern der Mensch Armin Nassehi im Sturm dieser Nachrichten seine Resilienz, ohne abzustumpfen?
Jetzt doch authentische Antworten, oder?

Unbedingt!
Also ganz ehrlich, ich bin da … All die Beispiele, die Sie genannt haben, würde ich in Forschungs­fragen übersetzen. Persönlich macht das eigentlich gar nichts mit mir. Ich habe ein paar Interessen, die mir wirklich wichtig sind. Dieses Klimawandel-Thema zum Beispiel interessiert mich vor allem als die Frage nach dem Scharnier zwischen den Funktions­systemen. Das ist eine sehr persönliche Antwort, aber ich kann gar nichts anderes, ich will auch gar nichts anderes machen. Schon sehr lange forsche ich über Tod und Sterben, Palliativ­medizin und so weiter. Da werde ich oft gefragt: Wie hältst du das denn eigentlich aus? Früher habe ich dann etwas religiös gesagt: Warum denn, du bist doch auch sterblich, wie hältst du das denn aus? Fragen Sie mal den Arzt auf der Station, wie der das aushält, den ganzen Tag mit Kranken zu tun zu haben. Das Problem ist: Wie kriegt man eine anständige Sach­orientierung hin? Und ich muss sagen, ich bin so super skeptisch meinem Fach gegenüber. Da läuft vieles einfach in die falsche Richtung. Dagegen will ich ein bisschen kämpfen.

Wenn wir mal ins kommende Jahr blicken: Wann, glauben Sie, ist diese Pandemie vorbei?
Ich gebe gleich eine ernsthafte Antwort, aber ich habe letztens einen tollen Witz gelesen, der hiess: «Twenty twenty-two» hört sich an wie «twenty twenty, too»: Das ist auch 2020.

Da ist leider was dran.
Aber zu der Frage, wann ist alles vorbei? Also das Virus wird nicht verschwinden, damit werden wir leben. Für diesen Satz ist man im Jahr 2020 fast geköpft worden. Die Pandemie jedenfalls ist erst vorbei, wenn ihre Bekämpfung zur Routine geworden ist. Die Voraus­setzung ist, dass sich die Todes­zahlen in einer Form einpendeln, wie sie tolerierbar sind, wie bei der Grippe oder so. Sie ist vorbei, wenn man vulnerable Gruppen wirklich gut schützen kann und wenn das Impfen zur Routine wird. Also wenn wir nicht Impf­kampagnen brauchen, damit Impfungen stattfinden, sondern wenn das quasi mitläuft mit der Vorsorge­untersuchung oder mit der Einschulung oder wo auch immer. Also nicht, wenn das Virus weg ist, sondern wenn es zu einer ganz normalen Sache geworden ist, mit der man keine Schlag­zeilen mehr machen kann. Die Krise wird nicht vorbei sein durch Dekret. Und sie wird auch nicht auf einmal weg sein. Die wird nicht einfach verschwinden, man muss sie weiter bearbeiten.

Und gesellschaftlich?
Ich fürchte, dass es eine Militarisierung der Corona-Massnahmen­gegner geben wird. Manche haben schon von einer Corona-RAF gesprochen. Ich kann mir vorstellen, dass einige der ganz harten Szene bleiben werden und womöglich die Schwelle zur Gewalt überschreiten. Aber das hat dann mit der Pandemie nichts mehr zu tun. Ich glaube übrigens nicht, dass die Pandemie grosse Spuren in der gesellschaftlichen Selbst­beschreibung hinterlassen wird. Die Routinen, mit denen wir diese Pandemie bewältigen, sind den Routinen von zuvor nicht so unähnlich. Wie ich am Anfang des Gesprächs als eine Art Bonmot gesagt habe: Diese Gesellschaft lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Das missverstehen die Leute immer als: Die Menschen würden sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Die lassen sich natürlich aus der Ruhe bringen! Wenn wir jetzt nicht aus der Ruhe gebracht sind, wann denn sonst?

Vielleicht zum Abschluss noch mal: Diese dauerüberforderte Gesellschaft, worin ist die denn, bei allen Problemen, richtig gut?
Das ist ja das Schöne: in allem eigentlich. Es gab noch nie so tolle Medizin. Es gab noch nie so freie Meinungs­äusserung, so viel Gleich­berechtigung, so viele Informations­möglichkeiten. Ja, und es gab gleichzeitig noch nie so viele Zweifel an der Gesellschaft! Das hängt, glaube ich, unmittelbar miteinander zusammen. Weil die Eindeutigkeiten weg sind. Das sind die Kosten dieser Erfolge. Die Industrie­gesellschaft hat Institutionen entwickelt, die Kontinuitäten produziert haben. Welche Art von Institution brauchen wir dafür heute? Der lebenslange Arbeits­platz wird es nicht mehr sein, die lebenslange Familie vielleicht auch nicht. Dafür muss man funktionale Äquivalente finden. Das ist die Aufgabe. Die Frage, was gelungenes Leben eigentlich ist, stellt sich ja in den unter­schiedlichen Welten immer neu.

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