

Corona, CO2-Gesetz, Beziehung zur EU – ein schwieriges Jahr im Rückblick
Im letzten Briefing des Jahres schaut die Republik zurück und erklärt, was uns nächstes Jahr in der Schweizer Politik erwartet.
Von Reto Aschwanden, Elia Blülle, Dennis Bühler, Adrienne Fichter, Lukas Häuptli, Brigitte Hürlimann, Priscilla Imboden und Cinzia Venafro, 30.12.2021
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Vor einem Jahr gab es Hoffnung. Kurz vor Weihnachten 2020 erhielten die ersten Menschen in der Schweiz die Corona-Impfung. Bald würde das Virus dank der Immunisierung der Bevölkerung seinen Schrecken verlieren. Doch es kam anders. Die Impfung bewahrte viele Menschen vor einer schweren Krankheit und dem Tod. Doch sie löste auch erbitterten Widerstand aus.
Im zweiten Pandemiejahr litt der gesellschaftliche Zusammenhalt. Corona-Skeptiker, Impfgegnerinnen und Massnahmenkritiker marschierten mit Trycheln und grosser Wut im Bauch durch Dörfer, Städte und immer wieder Richtung Bundeshaus. Es ist eine Minderheit, doch sie fand viel Gehör in den Medien. Und sie brachte die Stimmbevölkerung mit Referenden gegen das Covid-Gesetz gleich zweimal an die Urne. Im Juni stimmten 60 Prozent Ja, Ende November sogar 62 Prozent, was nur wenige Prozentpunkte unter dem Anteil der damals doppelt Geimpften liegt.
Die klaren Abstimmungsresultate lassen die Massnahmengegner nicht einfach verschwinden. Zwar ist von radikalen Aktivisten wie Nicolas A. Rimoldi und seinem Verein Mass-voll seit Ende November nicht mehr viel zu hören. Doch die «Freunde der Verfassung» dürften weiterhin eine Rolle spielen in der Schweizer Politik. Der Verein hat gezeigt, dass er fähig ist, Referenden zustande zu bringen – nicht nur beim Covid-Gesetz, auch gegen das Anti-Terror-Gesetz und die Medienförderung sammelte er viele Stimmen – und ist damit eine ernst zu nehmende politische Kraft geworden.
Wenig überzeugend agierte auch im zweiten Pandemiejahr der Bundesrat. Einmal mehr zögerte er Entscheide hinaus, schob die Verantwortung an die Kantone ab und reagierte auf neue Wellen erst, wenn Ärztinnen und Pflegern in den Spitälern das Wasser schon wieder bis zum Hals stand. Die Massnahmen sind mal lockerer, mal strenger, während die Impfquote auf einem im internationalen Vergleich tiefen Niveau verharrt, da halfen weder wiederholte Appelle noch eine nationale Impfwoche Anfang November.
Immerhin: In der Wintersession hat das Parlament den Weg frei gemacht für eine Verlängerung der Unterstützungsmassnahmen: Es gibt weiterhin Erwerbsersatz, Kurzarbeitsentschädigung, und auch der Kultur- und Sportsektor erhält 2022 Hilfsgelder.
Diese Unterstützung ist bitter nötig, denn die Omikron-Variante lässt die Ansteckungen hochschnellen. Die wissenschaftliche Taskforce rechnet für die zweite Januarwoche mit über 20’000 Ansteckungen pro Tag. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz warnt vor Ausfällen in der kritischen Infrastruktur: bei Blaulichtorganisationen, Energie-, Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie im öffentlichen Verkehr.
Es ist noch nicht vorbei, und so wie es aussieht, wird es noch schlimmer, bevor sich die Lage im Laufe des Jahres bessern dürfte.
Und damit zum Rückblick auf die Schweizer Politik 2021 und zum Ausblick auf 2022.
Klimapolitik: Nach Nein zum CO2-Gesetz präsentiert der Bundesrat eine zahnlose Neuauflage
Das ist passiert: Die Revision des CO₂-Gesetzes scheitert im Juni 2021 an der Urne. Eine bittere Niederlage für den Bundesrat, denn das CO₂-Gesetz ist das Herzstück seiner Klimapolitik. Damit will er die Schweizer Treibhausgasemissionen bis 2030 um 50 Prozent im Vergleich zu 1990 reduzieren. Nur so kommt die Schweiz ihren Verpflichtungen nach, die sie mit der Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens eingegangen ist. Immerhin geht auf Kantonsebene etwas: Ende November hat mit Zürich der bevölkerungsreichste Kanton an der Urne ein neues Energiegesetz beschlossen, das sich positiv auf die Schweizer Klimabilanz auswirken wird.
Das ist der aktuelle Stand: Mitte Dezember hat der Bundesrat seinen neusten Vorschlag für die Revision des CO₂-Gesetzes für die Zeit von 2025 bis 2030 in die Vernehmlassung geschickt. Die überarbeitete Fassung verzichtet gänzlich auf neue oder höhere Lenkungsabgaben und setzt weitgehend auf Anreize. Ausserdem sieht die Vorlage vor, dass ab 2025 rund 40 Prozent aller Schweizer Emissionsverminderungen mit Massnahmen im Ausland realisiert werden sollen. Ob der Bundesrat damit sein Klimaziel erreichen kann, ist fraglich. Derzeit befindet sich die Schweiz nicht auf einem Absenkpfad, der mit dem Pariser Übereinkommen vereinbar wäre, und sie verliert mit ihrer Klimapolitik im europäischen Vergleich zunehmend den Anschluss.
Wie es weitergeht: Im nächsten Jahr wird der Bundesrat seinen definitiven Vorschlag für das CO₂-Gesetz präsentieren. Ausserdem wird die Bundesversammlung die Gletscherinitiative behandeln und einen indirekten Gegenvorschlag ausarbeiten. Die Gletscherinitiative will das Netto-null-Ziel in die Verfassung schreiben und fossile Energien ab 2050 verbieten. Zusätzlich haben diverse Organisationen und Parteien neue klimapolitische Volksinitiativen angekündigt. So will etwa die SP – womöglich in Kooperation mit den Grünen – eine Klimafonds-Initiative lancieren, die vorsieht, jedes Jahr zwischen 0,5 und 1 Prozent des Bruttoinlandproduktes in die Energiewende zu investieren.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Das verlorene Jahrzehnt: Wie die Schweizer Klimapolitik durchstartete – und abstürzte.
Schweizer Klimaschutz kommt nicht vom Fleck: Wieso das neu formulierte CO₂-Gesetz nicht ausreicht.
Mission Possible: Die Bewältigung der Klimakrise. Können wir die Erderwärmung überhaupt noch auf 1,5 Grad begrenzen?
Klimakonferenz in Glasgow: Wie die reichen Staaten die Entwicklungsländer im Stich lassen.
Europapolitik: Der Bundesrat schlägt Brüssel die Tür zu
Das ist passiert: Ende Mai kommt es zum Paukenschlag: Die Schweizer Regierung beerdigt das Rahmenabkommen mit der EU. Ohne eine Alternative vorzuschlagen, erklärt der Bundesrat, dass er das Abkommen nicht unterzeichnen möchte. Sieben Jahre lang dauerten die Verhandlungen mit der EU und die innenpolitische Diskussion danach. Das institutionelle Abkommen mit der EU hätte einen Rahmen gesetzt für die bilateralen Verträge, die den Zugang zum europäischen Markt regeln. Das betraf etwa Land- und Luftverkehr, technische Handelshemmnisse, Landwirtschaft und die Personenfreizügigkeit. Ende 2018 lag das Rahmenabkommen vor. Der Bundesrat schickte es freiwillig in die Vernehmlassung, ohne selber Position zu beziehen. Doch abgesehen von der BDP (heute mit der CVP zur Mitte fusioniert) und den Grünliberalen konnte sich keine Partei für den Vertragsentwurf erwärmen.
Das ist der aktuelle Stand: Die EU will die aktuellen bilateralen Verträge nicht mehr aufdatieren, bis eine institutionelle Lösung da ist. Das führt zu Exportproblemen für die Schweizer Wirtschaft. Weil die EU auch keine neuen Verträge abschliessen möchte, könnte mittelfristig die Versorgungssicherheit mit Strom gefährdet sein. Und: Die EU schliesst die Schweiz von milliardenschweren Forschungs- und Kooperationsabkommen wie «Horizon Europe» aus. Um weiter im Gespräch zu bleiben, hat sich Aussenminister Ignazio Cassis im November mit dem Vizepräsidenten der EU-Kommission, Maroš Šefčovič, getroffen. Zwar wurde vereinbart, einen Dialog zu führen, aber die EU stellte Bedingungen: einen klaren Zeitplan sowie Vorschläge der Schweiz für die offenen Fragen. Hinzu kommt die Forderung nach regelmässigen Kohäsionszahlungen. Diese Woche sagte Šefčovič dem «Spiegel»: «Das Verhältnis mit der Schweiz droht zu zerfallen, wenn die bilateralen Verträge nach und nach auslaufen und nicht erneuert werden.»
Wie es weitergeht: Der Bundesrat hat in seiner letzten Sitzung des Jahres einen Plan skizziert: Die strittigen Punkte dynamische Weiterentwicklung und Streitschlichtung sollen in jedem Abkommen einzeln geregelt werden. Nur: Das ist eine alte Idee der Schweiz, die in Brüssel bisher stets auf Ablehnung stiess. Diskutiert wird deshalb ein Vorschlag des FDP-Aussenpolitikers Hans-Peter Portmann, der einen Mittelweg darstellt zwischen dem gescheiterten Rahmenvertrag und dem aktuellen Vorschlag des Bundesrates. Portmann sieht einen «Modellvertrag Acquis» vor. Darin sollen sich die Schweiz und die EU unter anderem darauf verständigen, dass die Themen Streitschlichtung und Dynamisierung des Rechts gelöst werden. Die SP hingegen schlägt – wie von der EU verlangt – eine Roadmap vor: Bis 2027 soll eine Stabilisierungsphase eingeleitet werden, in der die dringenden Probleme gelöst und die Teilnahme der Schweiz an den Forschungsprogrammen ermöglicht wird, während die Schweiz im Gegenzug den Kohäsionsbeitrag erhöht. Ab 2023 soll ein Kooperations- und Wirtschaftsvertrag ausgehandelt werden, der die hängigen institutionellen Fragen löst und auch neue Abkommen umfasst.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Das Verschwinden der Wirklichkeit: Roger de Weck über die neue Unberechenbarkeit der angeblich so bodenständigen Schweizer Politik.
Der Präsident der Europäischen Bewegung Schweiz und SP-Nationalrat Eric Nussbaumer kritisiert im Interview die «üble Rolle» von FDP, Mitte und SP und hält einen EU-Beitritt für realistischer als auch schon.
Bevor es eine Einigung mit der EU geben kann, muss sich in der Schweiz eine neue Koalition der Vernunft bilden, analysierte Daniel Binswanger im Dezember. Und schon im April schrieb er: Nicht Brüssel ist das Problem.
Medien: Parlament spricht Geld – und will Hürden für Eingriffe senken
Das ist passiert: Nach langem Hin und Her einigten sich National- und Ständerat letzten Juni auf ein Massnahmenpaket zugunsten der Medien: Zum einen soll der Vertrieb der gedruckten Presse stärker unterstützt werden als bisher, zum anderen sollen neu auch Onlinemedien gefördert werden. Weil ein Referendum der «Freunde der Verfassung» und eines eigens gegründeten Komitees namens «Staatsmedien Nein» zustande kam, hat am 13. Februar die Stimmbevölkerung das letzte Wort.
Das ist der aktuelle Stand: Die strukturelle Finanzierungskrise der Medien dauert an, zugleich kehren immer mehr erfahrene Journalistinnen der Branche den Rücken (während andere den Beruf gar nicht erst ergreifen). Doch auch wenn die Medienkonzentration mit der Zusammenlegung der Redaktionen von «Berner Zeitung» und «Bund» fortschritt, eine feindliche Übernahme den Traditionstitel «Nebelspalter» in den Grundfesten erschütterte und der Umzug der Nachrichtenredaktion von Radio SRF nach Zürich weitherum bedauert wurde, hat 2021 auch Mut gemacht: Landauf, landab wurden neue Medienprojekte lanciert, so etwa «Hauptstadt» in Bern, die feministische Medien- und Finanzplattform «elleXX» oder das Satiremagazin «Petarde». Zudem wagten mit «Blick» und «Watson» zwei etablierte Deutschschweizer Titel den Sprung über den Röstigraben.
Aufgeschreckt wurde die Branche durch den Entscheid des Ständerats, die Hürde für gerichtlich erwirkte superprovisorische Verfügungen zu senken – Verleger, Journalistinnen und Fachanwälte warnten einhellig vor einem «Angriff auf die Medienfreiheit». Zwar befasst sich der Nationalrat erst im kommenden März mit der Vorlage. Die Vorberatung in der zuständigen Kommission aber verheisst nichts Gutes: Gemäss Recherchen der Republik empfiehlt sie dem Plenum, dem Vorschlag des Ständerats zu folgen.
Wie es weitergeht: Nach der Abstimmung über die Medienförderung im Februar kommt möglicherweise im Mai gleich nochmals eine medienpolitische Vorlage an die Urne. Voraussetzung ist, dass es einem von Jungfreisinnigen angeführten Komitee gelingt, bis zum 20. Januar 50’000 Unterschriften gegen das vom Parlament beschlossene neue Filmgesetz zu sammeln; ein Dorn im Auge ist der Gegnerschaft vor allem die sogenannte «Lex Netflix», die ausländische Streamingsender verpflichtet, in die Schweizer Filmbranche zu investieren. Viel zu reden geben dürfte im kommenden Jahr zudem der Plan des Bundesrats, ein Leistungsschutzrecht einzuführen – damit soll ein Teil des Milliardenbetrags an die Medienverlage zurückfliessen, der ihnen seit dem unaufhaltsamen Aufstieg von Google und weiterer global tätiger Techkonzerne an Werbeerlösen entging.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Warum die Verleger seit Jahren im Clinch liegen – und der Streit wegen unterschiedlicher Ansichten zur Medienförderung beinahe eskalierte: die unverändert aktuelle Recherche zum Zerfall des Verlegerverbandes.
Vom Ende der Kleinbasler Zeitung «Vogel Gryff» bis zum Umzug der Nachrichtenredaktion von Radio SRF : Die Medienvielfalt schwand 2021 erneut – die Chronologie der Medienkonzentration.
Warum es am 13. Februar 2022 um Aufklärung und Demokratie geht – die Analyse von Daniel Binswanger: Wer hat Angst vor freien Medien?
Jede Woche eine Journalistin weniger: eine Übersicht zu den Medienschaffenden, die ihren Beruf aufgegeben haben, und die Gründe für den Exodus.
Rechtsstaat: Keine Burkas, keine Richterkür per Los – und mit aller Härte gegen «Gefährder»
Das ist passiert: Gleich bei drei Abstimmungen hat sich der Schweizer Souverän 2021 zu rechtsstaatlich fundamentalen Fragen äussern können. Er entscheidet sich in der Tendenz für mehr Sicherheit – und nimmt dafür Einschränkungen von Grundrechten in Kauf. Im März hat eine Mehrheit des Stimmvolks die Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot» angenommen (Burkainitiative), im Juni dem Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) zugestimmt und im November die Justizinitiative abgelehnt, die das Ende des Parteienklüngels bei den Richterwahlen und das Ende der Mandatssteuern bedeutet hätte.
Das ist der aktuelle Stand: Bei der deutlichen Ablehnung der Justizinitiative (68 Prozent Nein-Stimmen) hat offensichtlich das Schlagwort der «ausgelosten Richter» verfangen und die Bedenken darüber verdrängt, dass es rechtsstaatlich fragwürdig ist, wenn nur Mitglieder einer politischen Partei eine Karriere am Gericht machen können. Weniger deutlich, aber mit 56,6 Prozent Ja-Stimmen immer noch glasklar, nahm das Stimmvolk im Juni das PMT-Gesetz an. Die Angst vor terroristischen Anschlägen (auch) in der Schweiz dominierte das Abstimmungsverhalten. Die Polizei erhält neu ein stark erweitertes Instrumentarium für präventive Massnahmen – darf also einschreiten, bevor etwas Strafbares geschieht. Bereits Zwölfjährige könnten davon betroffen sein. Angst und ein diffuses Unwohlsein fremden Kulturen gegenüber dürften im März den Ausschlag für die knappe Annahme der Burkainitiative gegeben haben (51,2 Prozent Ja-Stimmen). Künftig sind sämtliche Gesichtsverhüllungen verboten – ausser es ist Fasnacht. Oder Pandemie.
Wie es weitergeht: Adrian Gasser, der unterlegene Initiant der Justizinitiative, hat angekündigt, die Vorlage nochmals vors Volk bringen zu wollen. Sogar die Gegner attestieren ihm, eine wichtige Diskussion angestossen zu haben. Das Anti-Terror-Gesetz PMT wiederum soll bereits verschärft werden. Zumindest verlangt das eine parlamentarische Initiative von SVP-Nationalrat Mauro Tuena: Personen, die «zu terroristischen Aktivitäten oder sonst zu Gewalt» aufrufen, sollen auf Anordnung eines Zwangsmassnahmengerichts gesichert untergebracht werden können. Abgelehnt wurde hingegen eine von den Grünen geforderte Präzisierung des Terrorismus-Begriffes. Das Burkaverbot gab seit Annahme der Initiative wenig zu reden – was nicht weiter erstaunt, halten sich in der Schweiz doch keine 40 Frauen auf, die in der Öffentlichkeit eine religiös motivierte Gesichtsverschleierung, in der Regel einen Nikab, tragen.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Parteienklüngel in der Justiz: Warum unabhängige Juristinnen keine Chance auf ein Richteramt haben. Wieso sich die Richter nicht gegen das System wehren und wie freiwillig die Parteisteuer wirklich ist.
Anti-Terror-Massnahmen: Amnesty International warnte vor dem PMT-Gesetz, Justizministerin Karin Keller-Sutter sagte im Abstimmungskampf nicht alles – und es droht eine autoritäre Regression.
Verhüllungsverbot: Hat die Schweiz wirklich ein Burkaproblem – und wer wird wie oder warum unterdrückt? Warum die Burkainitiative mit dem Islam sehr wenig und mit der Schweiz sehr viel zu tun hat. Und was eine Politikwissenschaftlerin dazu sagt.
Digitalisierung: Nein zur E-ID gibt Modernisierungsschub
Das ist passiert: Es war wohl die erste digitalpolitische Abstimmung der Welt. Am 7. März sagten fast zwei Drittel der Schweizer Stimmbevölkerung Nein zur E-ID, einem elektronischen Identitätsnachweis. Vorgesehen war ein privatisiertes Modell, das heisst, für die Herausgeberschaft der staatlichen E-ID hätten sich private Unternehmen bewerben können. Recherchen der Republik zeigten, dass der Bundesrat ursprünglich ein staatliches Modell vorgesehen hatte und die Kehrtwende erst unter grossem Lobbydruck von wirtschaftlichen Verbänden erfolgte. Die E-ID-Vorlage geriet nicht nur deshalb in die Kritik von Datenschützerinnen und IT-Security-Experten wie der Digitalen Gesellschaft. So war kein «Privacy by Design» vorgesehen, ein Grundsatz, der etwa im neuen Datenschutzrecht verankert ist: Eine E-ID-Anwendung soll standardmässig immer die Privatsphäre der Nutzerin ins Zentrum stellen.
Das ist der aktuelle Stand: Wenige Tage nach dem klaren Nein reichten Nationalräte mehrerer Parteien Vorstösse für eine E-ID mit staatlicher Herausgeberschaft ein. Sie verlangten, die E-ID-Architektur soll Datensparsamkeit und Dezentralität garantieren. Das bedeutet: Die Nutzerin soll sich mit ihrer E-ID jeweils auf ihrem Endgerät anmelden, ohne dass eine zentrale Instanz darüber Bescheid wissen muss. Die favorisierte Option ist daher die sogenannte SSI (Self-Sovereign Identity), die auch von der EU konzeptionell vorgesehen ist. Ein weiteres wichtiges Learning aus der verlorenen Abstimmung: Nicht nur Wirtschaftsverbände, auch die netzpolitische Zivilgesellschaft soll breiter mit einbezogen werden. Hierfür wurde der Beirat Digitale Schweiz gegründet. Die Konsultation über eine künftige E-ID wurde im Herbst im virtuellen Hearing der parlamentarischen Gruppe Digitale Nachhaltigkeit öffentlich debattiert. Mitte Dezember hat der Bundesrat einen «Richtungsentscheid» getroffen, in dem er die oben formulierten Forderungen aufgreift: Die E-ID soll der Bürgerin grösstmögliche Kontrolle über ihre Daten geben. Mitte 2022 soll die Vernehmlassung zum neuen Gesetzesentwurf starten.
Wie es weitergeht: Im Laufe des Jahres zeichnete sich nicht nur bei der E-ID ein Paradigmenwechsel für digitalpolitische Anliegen ab. Eine breite Debatte, Open Source (Offenlegung des Quellcodes), öffentliche Sicherheitstests, der Dialog mit der Wissenschaft und eine offene Fehlerkultur gelten zunehmend als Benchmark für die Gestaltung staatlicher Technologien, das zeigen die laufenden Entwicklungen beim E-Voting, die Swiss-Covid-App und auch das Covid-Zertifikat. Doch bis zur flächendeckenden Einführung dieser Prinzipien ist es noch ein langer Weg. Wie das Beispiel der von der Republik enthüllten gescheiterten Plattform Meineimpfungen.ch zeigte, tauchen immer wieder Altlasten auf, in denen öffentlichkeitsrelevante Technologien ohne öffentliche Prüfung von Sicherheitslücken eingesetzt werden. Das bedeutet: Zugang zu Quellcode und Software per se haben aufgrund vertraglicher Vereinbarungen und von Geschäftsgeheimnissen nur wenige, oftmals nur der Anbieter selbst. Ein Beispiel dafür ist das elektronische Patientendossier.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Warum sich der Bund früh als Anbieter einer elektronischen Identität aus dem Spiel nahm – und wie die Privatwirtschaft den Gesetzgebungsprozess beeinflusste: eine Rekonstruktion.
Der digitale Impfausweis stand offen wie ein Telefonbuch, selbst Daten von Bundesräten waren öffentlich zugänglich. Sogar als die Plattform eingestellt wurde, ging das nicht ohne peinliche Datenpanne.
Das digitale Patientendossier ist ein Murks, an dem die Behörden seit Jahren herumdoktern. Eine Lösung ist nicht in Sicht.
Ermöglicht die Zertifikatspflicht die digitale Massenüberwachung? Die Kritik um das Covid-Zertifikat im Faktencheck.
Bundesanwalt: Endlich ein Neuer
Das ist passiert: National- und Ständerat wählen am 29. September 2021 Stefan Blättler zum neuen Bundesanwalt. Der Kommandant der Berner Kantonspolizei erhält 206 von 208 gültigen Stimmen. Das Parlament suchte davor mehr als ein Jahr einen Nachfolger von Michael Lauber, der wegen geheimer Treffen mit Fifa-Präsident Gianni Infantino zurücktreten musste. Bei dieser Suche kam es immer wieder zu Pannen: Mal wurden Namen von Kandidaten und Kandidatinnen vorzeitig publik, mal sickerten Kommissionsgeheimnisse an die Öffentlichkeit, mal scheiterte ein Kandidat an einer (inzwischen aufgehobenen) Alterslimite.
Das ist der aktuelle Stand: Stefan Blättler besetzte bereits vor seinem offiziellen Amtsantritt am 1. Januar 2022 zentrale Positionen an der Spitze der Bundesanwaltschaft neu. Eine Kaderfrau der Swisscom, Barbara Küpfer, wird Generalsekretärin, die frühere Kommunikationschefin bei der Berner Kantonspolizei, Daniela Sigrist, übernimmt das gleiche Amt bei der Bundesanwaltschaft. In der Vergangenheit zeigte sich, wie wichtig die Kommunikation der Bundesanwaltschaft ist. Die Behörde steht – anders als zahlreiche kantonale Staatsanwaltschaften – unter stetigem öffentlichem Beschuss durch Verfahrensparteien, Medien und Politik.
Wie es weitergeht: Bundesanwalt Stefan Blättler wird daran gemessen werden, welche Schwerpunkte er in der Strafverfolgung legt: Beschränkt er sich auf Strafverfahren im Bereich von Staatsschutz und Terror, für welche die Bundesanwaltschaft traditionell zuständig ist? Oder aber bringt er Mut und Können auf, komplizierte Fälle von Korruption und Geldwäscherei anzugehen und sich damit mit dem Schweizer Finanz-Establishment anzulegen? Daneben wird Blättlers Prüfstein sein, wie viele Altlasten der Bundesanwaltschaft er abbauen kann. Zahlreiche komplizierte Verfahren aus den Untersuchungen rund um den malaysischen Staatsfonds 1MDB, den brasilianischen Ölkonzern Petrobras oder den Weltfussballverband Fifa harren der Erledigung.
Der Bundesrat wird zwei gleichlautende Vorstösse aus National- und Ständerat behandeln. Darin geht es um die Frage, für welche Delikte die Bundesanwaltschaft künftig zuständig ist, wie sie organisiert und beaufsichtigt wird und ob die weitreichenden Weisungsrechte des Bundesanwalts künftig eingeschränkt werden.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
Der mächtigste Beamte der Schweiz: Der Weg von Stefan Blättler zum Bundesanwalt, einem Amt, das anfällig für Einflussnahme ist.
Im Amt ohne Würden: Wie Michael Lauber sich und die Bundesanwaltschaft demontierte.
Gleichstellung: Ehe für alle kommt, Änderung des Geschlechtseintrags wird einfacher
Das ist passiert: Am 26. September sagt die Schweizer Stimmbevölkerung mit 64,1 Prozent Ja zur «Ehe für alle». Damit können Schwule und Lesben künftig heiraten wie Heterosexuelle. Vor dem klaren Ja an der Urne war es jahrelang hin und her gegangen: Im Dezember 2013 lancierten die Grünliberalen im Bundeshaus eine parlamentarische Initiative für die «Ehe für alle». Dann wurden sich National- und Ständerat lange nicht einig. Die grössten Streitpunkte waren die Samenspende für lesbische Paare und die Adoption für homosexuelle Paare. Vor allem Kräfte aus SVP, EDU und der Mitte-Partei wollten diese Möglichkeiten aus der Vorlage streichen. Eine Mehrheit von National- und Ständerat stimmte jedoch am Ende zu. Die Gegner lancierten ein Referendum, hatten damit jedoch in keinem einzigen Kanton Erfolg.
Das ist der aktuelle Stand: Nicht nur bei der Ehe macht die Schweiz vorwärts. Jüngst haben sich Parlament und Bundesrat auch für eine «unbürokratische Änderung des Geschlechtseintrags» ausgesprochen. Neu können Schweizerinnen und Schweizer eine Änderung des Geschlechts auf dem Zivilstandsamt beantragen – dazu reicht eine Erklärung der betroffenen Person, Anatomie oder medizinische Zeugnisse sind unerheblich. Mancherorts wird darauf hingewiesen, dass das unabsehbare Folgen für Militärpflicht, AHV und den Strafvollzug haben könnte – was wiederum von LGBT-Aktivisten als «transphob» kritisiert wird.
Wie es weitergeht: Die «Ehe für alle» tritt am 1. Juli 2022 in Kraft. Ab dann können Paare ihre eingetragene Partnerschaft mittels einer gemeinsamen Erklärung beim Zivilstandesamt in eine Ehe umwandeln. Neue eingetragene Partnerschaften sind ab dann nicht mehr möglich. Die Änderung des Geschlechts kann bereits ab 1. Januar beantragt werden, allerdings bleibt es bei der binären Ordnung. «Die allfällige Einführung einer dritten Geschlechtskategorie oder der gänzliche Verzicht auf die Eintragung des Geschlechts», schreibt der Bundesrat, sei Thema eines Berichts, der derzeit in Erfüllung zweier Postulate aus dem Parlament erarbeitet wird.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
«Schwule und Lesben waren anfänglich gegen die Ehe für alle»: Warum homosexuelle Paare in den Niederlanden bereits seit 20 Jahren Ja sagen können und wie das die Gesellschaft veränderte.
Geht es Kindern weniger gut, wenn sie nicht mit Mama und Papa aufwachsen? Eine Analyse von Langzeitstudien.
«Drum rechne, wer sich ewig bindet»: Weil es bei der Ehe nicht nur um Romantik geht – ein Datenbriefing zur Heiratsstrafe.
Gesundheit: Klare Mehrheit will bessere Arbeitsbedingungen für Pflegefachkräfte
Das ist passiert: Zum ersten Mal in der Geschichte hat die Schweiz eine gewerkschaftlich geprägte Volksinitiative angenommen. Mit wuchtigen 61 Prozent Ja – Appenzell Innerrhoden stimmte als einziger Stand dagegen – sagten die Stimmberechtigten am 28. November Ja zur Pflegeinitiative. Zuvor hatte das Parlament einen indirekten Gegenvorschlag mit grosser Mehrheit angenommen.
Das ist der aktuelle Stand: Die Initiative wurde vor Corona lanciert, denn durch den Fachkräftemangel stehen Pflegerinnen schon seit längerem unter grossem Druck. Die Pandemie hat die Situation verschärft und dazu geführt, dass viele Pfleger den Beruf verlassen haben. Gleichzeitig ist das Verständnis für die Problematik gestiegen. Im Aargau fordert ein Petitionskomitee etwa aktuell 25 Millionen Franken, um das Pflegepersonal im Beruf zu halten.
Wie es weitergeht: Die Umsetzung der Initiative dürfte auf sich warten lassen. Laut Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel, Gesundheitspolitikerin und Gegnerin der Initiative, wird es rund vier Jahre dauern, bis die nötigen Gesetze ausgearbeitet sind. Darum verlangen die Initiantinnen ein zweistufiges Verfahren: Die Ausbildungsoffensive, die der Gegenvorschlag vorsah, soll schnellstmöglich in Kraft treten. Die zweite Stufe, also die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie höherem Lohn, ist komplexer und braucht daher mehr Zeit.
Das hat die Republik dazu geschrieben:
«Warum Pflegefachleute aufgeben»: Der Lohn ist zwar wichtig – aber nicht entscheidend.
«Vom Fach»: Pflegefachleute mit Diplom fehlen im ganzen Land. Wie Studentinnen an der Fachhochschule ausgebildet werden – und was wir von ihnen gelernt haben.
«Zu intensiv»: Warum können auf den Intensivstationen weniger Betten als in vergangenen Pandemiewellen betrieben werden?
Hoffnungsschimmer: Neue Anläufe für eine Volldemokratie Schweiz
Rund ein Viertel der Wohnbevölkerung hat keine Schweizer Staatsangehörigkeit – und damit auch kein Stimmrecht. Zwar sagte das Stimmvolk 2017 Ja zur erleichterten Einbürgerung von jungen Ausländerinnen der dritten Generation, doch noch immer bleiben zwei Millionen Menschen von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen. Der St. Galler SP-Ständerat Paul Rechsteiner wollte das mit einer Motion ändern: Er verlangte ein ius soli, das heisst: Wer hier geboren ist, erhält automatisch das Schweizer Bürgerrecht. Das lehnte der Ständerat vor zwei Wochen klar ab. Hingegen will er eine Motion der Genfer Grünen Lisa Mazzone genauer prüfen, die Erleichterungen für Secondos verlangt. Unterstützt wird diese Prüfung auch von Bürgerlichen wie dem Ausserrhoder FDP-Ständerat Andrea Caroni. Die NZZ kommentierte, es sei «auf Dauer kein gesunder Zustand», wenn «jeder vierte Erwachsene nicht stimmberechtigt» ist. Nun macht der Verein Aktion Vierviertel Druck: Er fordert ein Grundrecht auf Einbürgerung und hat die Lancierung einer Volksinitiative im nächsten Herbst angekündigt. Es wird also noch dauern. Aber die Debatte ist eröffnet – und es sind nicht mehr nur Linke, die finden: Wer hier lebt, soll auch mitbestimmen dürfen.
Illustration: Till Lauer