Humor kann traurig sein: Hervé Guibert 1983 im Hotel Gellért, Budapest. Dieses Foto stand bis zu dessen Tod auf dem Schreibtisch des Philosophen Michel Foucault. Hans Georg Berger/Salzgeber

Der Ungerettete

Genau heute vor dreissig Jahren starb der Fotograf, Drehbuch­autor und Schriftsteller Hervé Guibert an Aids – sein absurder und bissiger Humor fasziniert noch immer. Eine Würdigung.

Von Theresa Hein, 27.12.2021

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Der Tag, an dem der Pilz im Hals galoppiert, ist der 27. September, ein Freitag. Zumindest steht das Datum über dem Eintrag in Hervé Guiberts Krankenhaus­tagebuch. Der gesamte Eintrag lautet: «Gestern Abend von der Intensiv in den rechten Flügel des Gebäudes gekommen, Zimmer 366. Ich habe mich gut ausgeruht. Galoppierender Pilzbefall des Halses. Volle Sonne.»

Im Krankenhaus wurde bei Guibert ein Zytomegalie­virus diagnostiziert, eine Herpes­variante, die unter anderem die Netzhäute angreifen und damit zu Erblinden führen kann. In den Jahren zuvor hatte er schon einen Abszess im Hals, diverse Ausschläge, später Gürtelrose: alles Folgen seiner Aids­erkrankung. Das Jahr ist 1991, drei Monate nach dem Pilzbefall-Eintrag stirbt Guibert an den Folgen eines Suizid­versuchs.

Hervé Guibert, 1955 bei Paris geboren, hatte zunächst als Drehbuch­autor mehr Erfolg als mit seiner Prosa: 1984 erhielt er den Filmpreis César für das beste Drehbuch zu «L’homme blessé» («Der verführte Mann»). Schlagartig berühmt wurde er dann durch den Roman «A l’ami qui ne m’a pas sauvé la vie» («Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat») im Jahr 1990 (und durch den kleinen Skandal, der dieses Buch umgab – dazu später mehr).

Weil er ein Jahr später bereits starb, wurden viele seiner Texte erst posthum in andere Sprachen übersetzt. Das Krankenhaus­tagebuch mit dem Titel «Zytomegalievirus» liegt jetzt das erste Mal überhaupt auf Deutsch vor, in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel; auch der Roman, ebenfalls von Schmidt-Henkel übersetzt, wurde neu aufgelegt. Beide Texte, die der August-Verlag anlässlich von Guiberts dreissigstem Todestag herausbringt, sind eindrucksvolle (und traurige) Dokumentationen dessen, was es bedeutete, in den Achtziger- und frühen Neunziger­jahren an Aids erkrankt zu sein.

Das Verbrechen, andere Leben zu verarbeiten

Vor vierzig Jahren, als Aids das erste Mal in einem Bericht des US-amerikanischen Zentrums für Krankheits­kontrolle (CDC) auftauchte (damals noch als «ungewöhnliche Entzündungen in der Lunge» von fünf homosexuellen Männern), erhielten viele HIV-Infizierte vor ihrem Tod nicht einmal die richtige Diagnose. Der befreundete Philosoph, in dem Michel Foucault erkennbar ist, fiel, so erzählt es Guibert, vor Lachen von der Couch, als der ihm das erste Mal von der Krankheit erzählte: «Ein Krebs, der ausschliesslich Homosexuelle trifft, nein, das wäre zu schön, um wahr zu sein, das ist zum Totlachen.»

Das war 1981, da hatte sich Foucault schon unwissentlich infiziert. Er starb drei Jahre später.

Guiberts biografisch inspirierter Text «Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat» löste nach Erscheinen auch deshalb einen Skandal aus, weil hinter dem Philosophen­freund des Erzählers trotz eines Pseudonyms eindeutig Michel Foucault identifizierbar war. Da Guibert von dessen Aidstod berichtete, kam der Text einem posthumen «Outing» gleich: Laut offizieller Begründung war Foucault an Krebs gestorben. Zur darauffolgenden Empörung sagte Guibert in einem sehr schönen Interview mit Didier Eribon: Ja, das sei schon eine Art «Verbrechen». Er reisse das Leben seiner Mitmenschen im Schreiben an sich, aber es geschehe immer aus «Verliebtheit».

Hervé Guibert (links) in Gesellschaft im Hotel Gellért, Budapest (1983). Hans Georg Berger/Salzgeber

Heute, im Jahr 2021, kann eine HIV-Infektion zumindest in Europa sehr gut medikamentös behandelt werden. Wie anders es früher war, beschreibt Guibert zum Beispiel an der Ratlosigkeit der Ärzte in «Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat». Keiner ist sicher, was die angemessene Dosis Azidothymidin für ihn wäre, eines Medikaments, das die Vermehrung der Viren im Körper bremsen soll. Ihre Kapselform erinnert den Erzähler an «Geschosse», und so nennt er die Tabletten auch. Jedenfalls sagt der Arzt zu Hause in Frankreich, der Patient solle mit 12 Kapseln beginnen, der Arzt in Italien, wo der Erzähler Urlaub macht, rät zu 6. Als Guibert, zutiefst verunsichert, nochmals den italienischen Arzt aufsucht, überlegt dieser: «Treffen wir uns doch auf halbem Wege, sagen wir einfach 8 pro Tag.»

Es liegt nahe, dass die Aussage Guiberts feinem, oft absurdem bis bösem Humor entsprochen haben könnte und er sie auch deshalb unkommentiert am Ende eines Kapitels stehen lässt.

Thermometer zum Dinner

Diese Art von Humor richtete Guibert gegen seine Mitmenschen manchmal genauso gnadenlos wie gegen sich selbst. In seinem Krankenhaus­tagebuch wird dies besonders sichtbar. Zum Beispiel in einem Eintrag vom 19. September 1991:

Finde natürlich nicht die Klingel, ungeschickt wie immer. Und schaffe es, keine Ahnung wie, mir den Infusionsschlauch um den Fuss zu wickeln, bald kann ich mich nur noch ein paar Zentimeter bewegen.

Guibert: «Zytomegalievirus».

Oder in einem Eintrag vom 24. September:

Eine junge Schwester möchte bei dem Eingriff assistieren, sie hat ihn noch nie gesehen. Ich sage zu ihr: «Warten Sie doch besser auf einen athletischen jungen Kerl mit tollen Brustmuskeln, dann schlagen Sie zwei Fliegen mit einer Klappe.»

Oder in einem notierten Dialog mit einem Pfleger vom 3. Oktober:

«Was machen Sie denn bloss mit den ganzen Thermometern, die wir Ihnen hierlassen?», fragt der hübsche grosse Kerl mit dem kleinen Brilli im Ohr. «Ich esse die.»

Solche Aussagen stechen unter anderem deswegen heraus, weil die anderen Tagebuch­einträge dazwischen todtraurig sind. Guibert notiert akribisch alles, was ihm auffällt: fehlende Infusions­ständer, kurz angebundenes, aber immer auch sehr freundliches Pflege­personal, schreiende Mitpatienten im Zimmer nebenan, schlechter Schlaf und, sehr präzise, schmerzhafte Behandlungen. Es ist Krankenhaus­alltag, geschildert von einer Person, die nicht sicher sein kann, ob sie das Krankenhaus überhaupt wieder verlässt und wenn ja, in welchem Zustand.

Trotz der teilweise offensichtlichen Übertreibungen und Verzerrungen ins Surreale ist so auffällig, wie gerne Guibert sich als gehässig darstellt, dass Zweifel daran aufkommen, ob er wirklich so schlimm zu ertragen war: «Keiner ist mir darin ebenbürtig, meine Sorgen meinen Freunden in die Fresse zu schleudern, David sagt, es sei zum Kotzen.»

Ebenso konsequent schildert er seine Freunde als Kabinett egozentrischer Scheusale. Aber, das merkt man schnell in der Lektüre: Was ganz der Wahrheit entspricht, was geschönt, was übertrieben ist – darum geht es nicht.

Der 35-Jährige hängt, wer kann es ihm verübeln, sehr an seinem Leben, seinen Freunden, seinen Liebhabern, liebt Italien, die Schönheit, vor allem die Insel Elba. Die Verzweiflung seiner ausweglosen Situation wechselt sich im Krankenhaus­tagebuch ab mit kleinen Beobachtungen, die ihm Freude machen (zum Beispiel der lustige Pfleger mit den Thermometern); dann wieder mit Fragen, die sich so nur ernsthaft stellen kann, wer sich sicher ist, dass es nicht mehr lange dauert: «Wirklich genug Bücher gelesen in meinem Leben, wirklich genug geschrieben?»

Es gibt kein «Genug» für einen Menschen, der das Leben so gelebt hat wie Guibert.

«Ich war mir der bessere Kranken­wärter»

Besonders deutlich wird das im Roman «Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat». Der Text ist eine Sammlung von Liebes­erzählungen, mit sehr konkreten, derben sexuellen Schilderungen und Szenen wahrer Freundschaft. Von der ersten Seite an rekapituliert das Buch das Aufkommen von Aids, die Angst, die es mit sich brachte, sein Potenzial, Beziehungen zu zerstören. (Zusätzlich machte Guibert übrigens Film­aufnahmen und unzählige Fotos seines körperlichen Verfalls, die zum Beispiel in der Dokumentation «Hervé Guibert – Anschreiben gegen den Tod» zu sehen sind.)

Innigste Freunde, aber auch jeweils die Krankheit des anderen … Hans Georg Berger/Salzgeber
Thierry und Hervé 1984 auf der Insel Elba … Hans Georg Berger/Salzgeber
… die immer Hervés liebster Zufluchtsort war. Hans Georg Berger/Salzgeber

Zu den Bildern

Die Bilder zu diesem Beitrag stammen vom Fotografen Hans Georg Berger und wurden im Bildband «Phantom­paradies» publiziert (Salzgeber, Berlin 2019. 208 Seiten, ca. 63 Franken). Zwischen Berger und Hervé Guibert bestand eine jahrelange Freundschaft, Berger begleitete Guibert häufig auf dessen Reisen.

Bilder von Hans Georg Berger werden derzeit auch in der Ausstellung «La disciplina dei sensi» im Museo delle Culture in Lugano gezeigt, darunter auch etliche von Hervé Guibert. Die Ausstellung läuft noch bis 16. Januar, alle Angaben finden Sie hier.

1988 macht Guibert gemeinsam mit seinem innigsten Freund und langjährigen Partner, Thierry Jouno, in Paris einen HIV-Test. Im Roman schreibt er, es fühle sich an, als bekäme der Boden um ihn herum Risse, schon bevor sie das Ergebnis erhalten. Beide sind positiv, Hervé flieht vor dem Schock nach Rom, und als Jules, wie Guibert Thierry im Buch getauft hat, ihn besuchen kommt, ist es für beide unerträglich: Jules sei seine Krankheit, schreibt Guibert, und er die von Jules.

Der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel hat den gehetzten Stakkato-Tonfall der Verzweiflung so wunderbar fein ins Deutsche übertragen, dass man beim Lesen zweifach schluckt: wegen der unmittelbaren Druck­welle der Schilderung und wegen der Übersetzung, die ihr alles an Kraft lässt:

Zweimal Aids war zu viel für einen einzelnen Mann, denn ich hatte nunmehr das Gefühl, dass wir ein- und dasselbe Wesen bildeten, ohne Spiegel zwischen uns, dass ich meine eigene Stimme wiedererlangte, wenn ich mit ihm telefonierte, dass ich meinen eigenen Körper zurückeroberte, jedesmal, wenn ich seinen in die Arme nahm, diese beiden latenten Infektions­herde waren für das Innere eines einzigen Körpers unerträglich geworden. Wäre einer von uns krank gewesen und der andere nicht, so hätte dies zweifellos ein Gleichgewicht des Beschützens geschaffen, welches das Leid um die Hälfte vermindert hätte. Gemeinsam versanken wir in dieser doppelten Krankheit, ohnmächtig gingen wir unter, und keiner von uns beiden konnte den anderen diesem gemeinsamen Sog entreissen, dem letzten Grund aller Gründe.

Guibert: «Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat».

Jules reist ab, Hervé gibt ehrlich zu, ganz unausstehlich ihm gegenüber gewesen zu sein, und dann geht es ihm ein bisschen besser, weil er sich, wie er schreibt, selbst der bessere Kranken­pfleger ist. Jules’ Anwesenheit dagegen nimmt ihm die Hoffnung.

Wer hat am Ende das Sagen – Krankheit oder Patient?

Guiberts Texte werden oft als «Abrechnung» beschrieben. Dabei wird übersehen, dass in ihnen auch viel Hoffen steckt, ein Hoffen bis zum Ende.

Auf der ersten Seite im «Freund» bereits schreibt Guibert, er habe eigentlich nur drei Monate lang Aids gehabt, den Rest der Zeit habe er gehofft. Diese Hoffnung kann er haben, weil ein Freund namens «Bill» angeblich einen Wissenschaftler kennt, der an einer Impfung gegen Aids arbeitet und der Guibert verspricht, ihn in die Testgruppe einzuschleusen.

Und natürlich: Der Freund, siehe Buchtitel, hält sein Versprechen nicht ein.

Jener Bill ist ein astreiner Roman-Striezi: ein Charmeur, der gekonnt mit Guiberts Hoffnung auf einen Impfstoff spielt, der ihm immer wieder gerade genug verspricht, um «Hervelino» nicht den Glauben verlieren zu lassen, alles werde gut, und von dem die Leser (und Guiberts Freunde) schon lange, bevor Guibert es wahrhaben will, wissen, dass er ein schamloser Aufschneider ist. Bei jedem Einzelnen von Guiberts Personal, auch bei der Erzähler­figur Hervé Guibert selbst, verschwimmen die Grenzen zwischen real und erdacht mit sehr viel Gewicht auf den realen Erfahrungen. Bill dagegen ist Drehbuch von vorne bis hinten.

Und was heisst das, wenn gerade dieser Charakter, die personifizierte Hoffnung auf Lebens­rettung in Form einer Anti-Aids-Impfung, keiner realen (zumindest in dieser Bösartigkeit bekannten) Vorlage entspringt?

Man könnte den Schluss daraus ziehen, dass Hervé Guibert Hoffnung für einen Betrug hielt; dass sie ihm zwar Zeitvertreib war, er aber ohnehin nie an eine Chance aufs Überleben geglaubt hat. Oder man zieht daraus den Umkehr­schluss. Beinahe alles zwischen den Buchdeckeln ist mit «Bill» durchtränkt, und im Titel steckt er auch. Bill nimmt ebenso viel Raum im Buch ein, wie die Hoffnung es im Leben eines sterbenden jungen Menschen tun kann. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Mensch oder die Krankheit sich entschliesst, dass jetzt Schluss ist mit der Hoffnung.

Aber erst dann, keine Sekunde früher: Jeden Tag, schreibt Guibert aus dem Krankenhaus, schaut er in der Zeitung nach der Temperatur in Rom.

Zu den Büchern

Hervé Guibert: «Zytomegalievirus». Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. August-Verlag, Berlin 2021. 71 Seiten, ca. 15 Franken.

Hervé Guibert: «Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat». Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. August-Verlag, Berlin 2021. 271 Seiten, ca. 30 Franken.

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