Nationalbank soll AHV retten, neuer Anlauf für CO2-Gesetz – und Politiker fummeln an ihren Wikipedia-Einträgen
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (173).
Von Reto Aschwanden, Elia Blülle, Dennis Bühler, Priscilla Imboden und Cinzia Venafro, 23.12.2021
Vor lauter Nachrichten den Überblick verloren? Jeden Donnerstag fassen wir für Sie das Wichtigste aus Parlament, Regierung und Verwaltung zusammen.
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Stellen Sie sich vor: SP und SVP machen gemeinsame Sache. Nicht als Zweckgemeinschaft, sondern mit dem gleichen Motiv: die Rettung der AHV mithilfe der Gewinne der Schweizerischen Nationalbank (SNB). Fredi Heer, SVP-Nationalrat und als Präsident des Bundes der Steuerzahler (BDS) oberster Sparfuchs unter der Bundeshauskuppel, verlangte dies 2018 bereits per Einzelmotion. Von einer «heiligen Allianz mit den linken Parteien» sprach er damals. Nach einem Ja im Nationalrat scheiterte sein Vorstoss diesen Sommer aber im Ständerat, wo Mitte und FDP eine Mehrheit haben.
Zum eigentlichen Showdown um die Altersvorsorge kam es aber an der letzten Freitag zu Ende gegangenen Wintersession: Dank bürgerlichem Powerplay wurde unter anderem die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 inklusive einiger Kompensationen für Übergangsjahrgänge beschlossen. Frauen ab Jahrgang 1969 gehen leer aus, sollen mit ihrer verlängerten Arbeitszeit aber einen Grossteil des Lochs in der ersten Säule stopfen.
Dieses Mal war es Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard, der daran scheiterte, die Idee mit den Nationalbankgewinnen mehrheitsfähig zu machen. Und dies trotz gewichtigen Supports von rechts, denn Magdalena Martullo-Blocher, Thomas Aeschi und Albert Rösti stimmten seinem Vorschlag zu.
Das war es dann aber auch mit der Annäherung der beiden Polparteien: Weil die SVP mithilfe von FDP und Mitte die Erhöhung des Frauenrentenalters durchdrückte, tobt die Linke. Die grüne Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber brachte es in ihrem Schlussvotum auf den Punkt: «Diese Vorlage bedeutet (…) Ablehnung oder Referendum.»
In der Diskussion um die Altersvorsorge geht es nicht nur um die Frauen. Liberale Kreise forcieren eine allgemeine Erhöhung des Rentenalters. Und liefern damit linken Parteien und Gewerkschaften das Kampfthema für den Rest der laufenden Legislatur.
Und so kommt nun nicht nur das Referendum gegen die AHV-Vorlage, sondern auch eine Volksinitiative. Mit dieser will Maillard das Stimmvolk überzeugen, die AHV mit Nationalbankgewinnen zu sanieren. Und stösst damit erneut auf offene Ohren: «Maillard ist in dieser Frage Partner und nicht Gegner», sagt Heer.
Das Dumme ist nur: Sein Verband der Steuerzahler arbeitet gerade selbst an einer ähnlichen Initiative, will aber anders als Maillard nur die Gewinne aus den Negativzinsen der SNB an die Bevölkerung zurückzahlen. Die Linke geht weiter: Sie verlangt einen jährlichen AHV-Zuschuss von rund 2 Milliarden, gespeist aus den Ausschüttungsreserven der SNB.
Sicher ist: Beim nächsten Gang über den Bundesplatz Richtung Bundeshaus werden Maillard wie Heer wohl mehr als sonst schon nach links schielen: Dort thront die Schweizerische Nationalbank. Und hockt auf ihren Milliarden.
Und damit zum Briefing aus Bern.
CO₂-Gesetz: Bundesrat präsentiert eine neue Vorlage
Worum es geht: Der Bundesrat hat letzten Freitag einen neuen Vorschlag für die Revision des CO2-Gesetzes in die Vernehmlassung geschickt. Die überarbeitete Fassung verzichtet auf neue oder höhere Lenkungsabgaben und setzt vollständig auf Anreize. Ab 2025 soll die Hälfte der bereits bestehenden CO2-Abgaben in Gebäudesanierungen fliessen. Der Bundesrat will ausserdem den Bau von Ladestationen für Elektroautos fördern, das Steuerprivileg für Dieselbusse im öffentlichen Verkehr aufheben und dem Flugverkehr eine «Beimischquote» auferlegen, die einen Mindestanteil an nachhaltigem Treibstoff festlegen soll. Mit zusätzlichen 40 Millionen pro Jahr gedenkt er Hauseigentümerinnen zu subventionieren, die ihre fossile Heizung durch erneuerbare Energiequellen ersetzen. Die Vorlage sieht vor, dass 60 Prozent aller Schweizer Emissionen mit Massnahmen im Inland reduziert werden. Der Rest soll im Ausland kompensiert werden.
Warum Sie das wissen müssen: Die Schweiz will ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um 50 Prozent im Vergleich zu 1990 reduzieren. Dazu hat sie sich mit der Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens verpflichtet. Das neue Gesetz muss der Bundesrat ausarbeiten, weil seine ursprüngliche Version im Juni an der Urne abgelehnt wurde. Ob er damit sein Klimaziel erreichen kann, ist fraglich, denn die Massnahmen unterscheiden sich kaum von jenen, die schon in der Vergangenheit nicht funktioniert haben.
Wie es weitergeht: Der Bundesrat wird nach den Vernehmlassungsantworten von Kantonen, Parteien und Verbänden noch einmal über die Bücher gehen und dann seinen definitiven Gesetzesvorschlag präsentieren. Nimmt die Bundesversammlung das Gesetz an, sollte es – unter dem Vorbehalt, dass kein Referendum ergriffen wird – für die Zeit von 2025 bis 2030 gelten. Für die Jahre danach muss der Bundesrat das CO2-Gesetz dann bereits wieder revidieren.
Impfpflicht: Initiative will Zwang verbieten
Worum es geht: Letzten Donnerstag wurden der Bundeskanzlei über 125’000 Unterschriften für die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit (Stopp Impfpflicht)» übergeben. Sie möchte den Verfassungsgrundsatz der körperlichen Unversehrtheit erweitern mit der Bestimmung, dass «jeder Mensch die Freiheit hat, selbst bestimmen zu können, was in seinen Körper gespritzt oder eingesetzt werden darf, ohne dass er bestraft werden kann oder eine soziale oder berufliche Benachteiligung entsteht». Hinter der Initiative steht die Freiheitliche Bewegung Schweiz. Deren Präsident ist der Luzerner SVP-Politiker Richard Koller, im Komitee sitzen der Komiker Marco Rima sowie SVP-Nationalrätin Yvette Estermann, eine Kritikerin der Schulmedizin.
Warum Sie das wissen müssen: Die Covid-19-Pandemie verleiht der Initiative Aktualität. Einen Impfzwang gibt es in Schweiz zwar aktuell nicht: Laut dem heutigen Schweizer Epidemiengesetz darf niemand gezwungen werden, sich impfen zu lassen. Erlaubt sind aber Impfobligatorien für gewisse Bevölkerungs- oder Berufsgruppen. Je nachdem, wie die Initiative nach einer Annahme ausgelegt würde, wären heute erlaubte Impfvorschriften wie etwa für die Besatzung der Swiss oder für Pflegepersonal nicht mehr möglich. 2G- oder 3G-Regeln wären rechtlich nicht länger haltbar.
Wie es weitergeht: Wenn die Bundeskanzlei mindestens 100’000 Unterschriften beglaubigt, wird die Initiative von Bundesrat und Parlament beraten und zuletzt der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt. Die Initiative wird die Debatte um ein Impfobligatorium beeinflussen, die aktuell an Dringlichkeit gewinnt. So fordern etwa Mitte-Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel und SP-Nationalrat Fabian Molina, dass Impfen zumindest für gewisse Bevölkerungsgruppen obligatorisch wird.
Strafverfolgung: Mord soll nicht mehr verjähren
Worum es geht: Nach dem Nationalrat hat sich vergangenen Donnerstag auch der Ständerat für die Unverjährbarkeit von Mord und weiteren schweren Taten ausgesprochen. In beiden Kammern gab eine einzige Stimme den Ausschlag.
Warum Sie das wissen müssen: Bisher verjähren Kapitalverbrechen wie Mord oder qualifizierte Geiselnahme in der Schweiz nach 30 Jahren (während Mord etwa in Deutschland unverjährbar ist). Eine St. Galler Standesinitiative will dies ändern – mit der Begründung, die Weiterentwicklung von DNA-Analysen ermögliche es unter Umständen, Täter auch Jahrzehnte nach ihrer Straftat zu überführen. Die Unverjährbarkeit ist stark umstritten, auch innerhalb der einzelnen Parteien gehen die Meinungen auseinander: Nachdem der Ständerat zunächst knapp Nein gesagt hatte, votierte der Nationalrat im Juni mit 90 zu 89 Stimmen bei 10 Enthaltungen dafür; nun hat der Ständerat seinen früheren Entscheid gekippt und der Initiative mit 21 zu 20 Stimmen Folge gegeben. Bisher sind in der Schweiz folgende Delikte unverjährbar: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und qualifizierte terroristische Handlungen – sowie seit der Annahme einer entsprechenden Volksinitiative im Jahr 2008 sexuelle oder pornografische Straftaten an Kindern.
Wie es weitergeht: Weil es sich erst um einen Grundsatzentscheid handelt, dürften hitzige Diskussionen bevorstehen. Innerhalb von zwei Jahren wird entweder von der national- oder der ständerätlichen Rechtskommission eine Gesetzesvorlage ausgearbeitet. Aufgehoben wird die Verjährungsfrist nur, wenn sich das Parlament dann erneut dafür ausspricht.
Covid-Gesetz: Hilfszahlungen verlängert, Impfverträge bleiben geheim
Worum es geht: Das Parlament hat zum Ende der Wintersession weitere Änderungen im Covid-19-Gesetz beschlossen. Wirtschaftshilfen werden verlängert, ebenso die Erleichterung von Stimmrechtsbescheinigungen. Abgelehnt wurde hingegen die Offenlegung der Verträge zwischen dem Bund und Impfstoffherstellern. Der Nationalrat hatte das zunächst befürwortet, doch in der Einigungskonferenz setzte sich der Ständerat durch.
Warum Sie das wissen müssen: Die Verträge zwischen Impfstoffproduzenten und Staaten sind geheim – und in der Schweiz bleiben sie es auch. Transparenz sei in diesem Fall nicht im Interesse des Landes, fand eine Mehrheit im Parlament und folgte damit der Pharmalobby, die «die Versorgungssicherheit der Menschen mit künftigen Impfstoffen und Medikamenten» gefährdet sah. Vorläufig aufatmen können viele Unternehmerinnen und Angestellte. Denn gestützt auf den Parlamentsentscheid hat der Bundesrat am Freitag den Corona-Erwerbsersatz bis Ende 2022 verlängert. Bis Ende März kann die Kurzarbeitsentschädigung summarisch abgerechnet werden, und die Karenzzeit ist aufgehoben. Zudem erweitert sich der Kreis der Anspruchsberechtigten bei Unternehmen, die der 2G-plus-Regel unterliegen. Auch die Massnahmen zur Unterstützung des Kultursektors wurden verlängert. Sportvereine können bei Einnahmeausfällen aufgrund von Kapazitätsbeschränkungen bis Mitte nächstes Jahr mit Darlehen und A-fonds-perdu-Beiträgen rechnen.
Wie es weitergeht: Auch die neuesten Änderungen des Covid-19-Gesetzes unterliegen dem fakultativen Referendum. Der Verein Massvoll will aber kein solches ergreifen, auch wenn er das Gesetz als solches nach wie vor «illegitim und verfassungswidrig» und die Geheimhaltung der Impfverträge «skandalös» findet.
Gesundheit: Schwarze Listen für säumige Prämienzahlerinnen bleiben
Worum es geht: Das Parlament hat in einem knappen Entscheid beschlossen, dass Kantone weiterhin schwarze Listen führen können mit Personen, die ihre Krankenkassenprämien nicht bezahlen. Hingegen wollen National- und Ständerat, dass junge Erwachsene nicht mehr haftbar gemacht werden können für Prämien, die ihre Eltern nicht bezahlten, während sie noch minderjährig waren.
Warum Sie das wissen müssen: 160’000 Personen in der Schweiz bezahlen ihre Krankenkassenprämien nicht. Der Aargau, Luzern, das Tessin, Thurgau und Zug führen solche Menschen auf schwarzen Listen. Wer draufsteht, hat nur noch Anrecht auf notfallmässige medizinische Behandlung. Im Jahr 2019 betraf das 35’734 Personen. Der Bundesrat wollte diese Listen abschaffen, da sie die medizinische Grundversorgung von sozial und wirtschaftlich schwachen Bevölkerungsgruppen gefährden können. Auch der Krankenkassenverband Santésuisse befürwortete die Abschaffung. Das Hilfswerk Caritas, das unter anderem zahlreiche Schuldenberatungsstellen führt, bezeichnet die schwarzen Listen als unmenschlich.
Wie es weitergeht: Wegen einiger anderer Differenzen geht das Geschäft nochmals in den Ständerat. Die Frage der schwarzen Listen ist aber geklärt. Allerdings landen immer weniger Menschen auf ihnen: Vier Kantone – Graubünden, Solothurn, Schaffhausen und St. Gallen – haben die schwarzen Listen in den letzten Jahren abgeschafft, weil sie festgestellt haben, dass sie die Zahlungsbereitschaft nicht erhöhen. Im Tessin laufen ebenfalls Bestrebungen, diese Praxis aufzugeben.
Schönschreiber der Woche
Manche Parlamentarier wären gern Pippi Langstrumpf. Ganz nach dem Motto «Ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt» gestalteten sie ihre Wikipedia-Einträge nach eigenem Gusto. Das zeigt eine grosse Untersuchung, für die das Rechercheteam «Reflekt» erstmals alle 253 Einträge über National-, Stände- und Bundesräte auf Wikipedia analysiert hat. Resultat: PR-Agentinnen, Mitarbeitende oder die Politiker selbst versuchen immer wieder, unliebsame Einträge schönzuschreiben. So löschte ein anonymer User mit IP-Adresse der Bundesverwaltung kurz nach dem Amtsantritt von Bundesrat Ignazio Cassis einen Hinweis auf dessen kurzzeitige Mitgliedschaft bei der Waffenlobby Pro Tell. Grünen-Präsident Balthasar Glättli löschte, aufgrund «einer Fehlmanipulation», wie er beteuert, die Informationen, dass er mit SP-Nationalrätin Min Li Marti verheiratet ist und eine Tochter hat sowie die Erwähnung seines Studienabbruchs. Ein Mitarbeiter von FDP-Mann Andri Silberschmidt liess den Hinweis verschwinden, sein Chef habe das Gymnasium abgebrochen. Der Urner FDP-Ständerat Josef Dittli löschte eigenhändig eine Passage, in der es hiess, dass er Kriegsmaterialexporte erleichtern wollte, weil er fand, das sei ein Detail – seine Besteigung des Kilimandscharo hingegen schien ihm eine Erwähnung wert. Das Gute: Bei Dittli wie den meisten anderen Fällen wurde die Schönfärberei von der Wikipedia-Community entdeckt und zurückgeändert. Trotzdem, so die Bilanz von «Reflekt», schafften es vereinzelt Akteurinnen, «Wikipedia durch Beharrlichkeit und subtile Bearbeitungen zu manipulieren». Dranbleiben lohnt sich.
Illustration: Till Lauer