Oriana Fenwick

Sprachnotiz von Nicoletta Cimmino

#3: Hinhören

Wie man den Moment der absoluten Stille findet. Und warum es lohnt, bei manchen Geräuschen genau hinzuhören.

Von Nicoletta Cimmino, 21.12.2021

#3: Hinhören
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Liebe Hörerinnen, liebe Leser der Republik.

Finden Sie es auch laut gerade? Ich meine das nicht im übertragenen Sinn, sondern wortwörtlich.

Ich weiss nicht. Vielleicht bin ich empfindlicher geworden oder einfach nur älter. Aber alles ist so laut. Auf der Strasse, im Tram, in den Cafés und Läden. Die Welt ist lärmig.

Darüber hab ich nachgedacht, als ich neulich frühmorgens wach war. Sehr früh morgens. Und dann über das Gegen­teil von Lärm: über die Stille.

Denn alles lag an jenem Morgen in grosser Stille. Keine Autos, die vorbei­fuhren, kein knarrendes Parkett, kein Vogel­gezwitscher, kein Handy, das piepst oder surrt.

Nichts.

Und da kam mir eine Legende in den Sinn, von der ich vor noch nicht so langer Zeit gehört hatte: Im Podcast «De eso no se habla» der spanischen Journalistin Isabel Cadenas Cañón. Man erzählte ihr die Legende, als sie ein kleines Mädchen war.

Die Legende geht so, dass es einen Augenblick gibt, vielleicht weniger als eine Sekunde lang, wo die Nacht aufhört und der Tag beginnt, ein Augen­blick der absoluten Stille. Auf der ganzen Welt.

Ein Übergang, ein kurzer Moment, eine Nano­sekunde im grossen Nichts, zwischen Nacht und Tag.

Vielleicht hatte ich an jenem frühen Morgen genau den Moment erwischt, den stillen Moment aus der Legende. Und ja, ich weiss natürlich, dass es diesen Moment nicht gibt, dass er – eben – eine Legende ist.

Jedenfalls gingen die Gedanken dann vom Lärm über die Stille zu Geräuschen, die man gerne hat: Meeres­rauschen. Der Herz­schlag eines geliebten Menschen. Der ruhige Atem des schlafenden Kindes. Das Stimmen der Instrumente vor der Opern­aufführung. Der Wind, der um das Haus pfeift, während man drinnen in der Wärme ist. Der Schlüssel in der Haustür, wenn jemand heimkommt, auf den man sich gefreut hat.

Ich habe mir vorgenommen, in Zukunft genauer hinzuhören, wenn es schön tönt. Und dem Lärm, wann immer es möglich ist, aus dem Weg zu gehen.

Und das wünsche ich Ihnen: weniger Lärm.

Wir hören uns – wenn Sie wollen – in zwei Wochen wieder.

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