Wenn der Algorithmus sagt, wer dem Klima hilft
Klimaschutz ohne Verzicht auf Rendite: Ja, das ist möglich. Wie? Serie über klimafreundliches Investieren, Teil 4.
Von Simon Schmid, 20.12.2021
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Lange Zeit hielt sich in der Finanzwelt folgendes Vorurteil: Wer ökologisch investieren will, bezahlt dafür einen Preis – in Form einer tieferen Rendite.
Doch diese Vorstellung ist falsch. Umweltfreundliches und insbesondere klimafreundliches Anlegen schränkt den Ertrag nicht ein. Wenn man es geschickt macht, merkt man den Unterschied gar nicht.
Das Beispiel, an dem wir dies illustrieren, ist ein sogenannter Benchmark von europäischen Aktien, der an den Pariser Klimazielen ausgerichtet ist.
Die Börsenperformance
Dieser an Paris ausgerichtete Benchmark ist eine abgewandelte Form eines gewöhnlichen Aktienindex: des Stoxx Europe 600. Dieser gibt die Wertentwicklung von 600 grossen europäischen Firmen wieder, ganz ähnlich, wie es der Aktienindex SMI für die grössten Schweizer Firmen tut.
Die Firmen sind darin nach ihrer Grösse gewichtet. Nestlé, die Schweizer Nahrungsmittelherstellerin, ist mit 2,9 Prozent der grösste Posten im Stoxx Europe 600. Der niederländische Halbleiterhersteller ASML ist mit 2,7 Prozent der zweitgrösste, und so weiter. Ganz am Ende steht die deutsche Biotechfirma Morphosys mit einem Gewicht von nur noch 0,01 Prozent.
In der «Paris-Aligned Benchmark (PAB)»-Variante des Stoxx Europe 600 wurden die Gewichte verändert. Firmen mit einer schlechten Klimabilanz wurden heruntergestuft, Firmen mit einer guten Klimabilanz hochgestuft. Nach welchen Kriterien dies gemacht wurde, dazu kommen wir noch.
Zuerst das Ergebnis: Die beiden Indizes – der Stoxx-Europe-600-Basisindex und die PAB-Variante davon – unterscheiden sich an der Börse kaum: Ihre Wertentwicklung über die letzten zwölf Monate ist praktisch identisch.
Blickt man noch weiter in die Vergangenheit zurück, so stellt sich heraus, dass der Paris-Aligned Benchmark sogar leicht besser abschneidet als der Basisindex. Wie ist das möglich – und was genau steckt dahinter?
Die Idee von «an Paris ausgerichteten» Anlagebenchmarks stammt von der EU-Kommission. Sie hat 2019 eine Methodologie ausgearbeitet, die etwas Übersicht ins Feld der klimafreundlichen Investments bringen und gewisse Standards festlegen soll, an denen sich die Finanzwelt orientieren kann.
Der PAB-Standard verlangt gemäss EU-Kommission etwa Folgendes:
eine initiale Reduktion der Kohlenstoffintensität von 50 Prozent gegenüber dem Ausgangsportfolio
den Ausschluss von Kohle-, Öl- und Gasfirmen und Elektrizitätsversorgern mit einem hohen Anteil an fossiler Stromproduktion
Jedes Jahr muss die Menge der Treibhausgase, die Firmen im Portfolio ausstossen, um mindestens 7 Prozent gesenkt werden.
Anbietern von PAB-Anlagebenchmarks steht es frei, diese Kriterien zu erweitern. Qontigo, die Herausgeberin des Stoxx Europe 600, hat die Initialreduktion der Kohlenstoffintensität beispielsweise auf 60 Prozent gesetzt.
Um von der Kriterienliste zu einem konkreten PAB-Portfolio zu gelangen, kommen Computerprogramme zum Einsatz. Ein Algorithmus löst dabei die folgende Aufgabe: Welches ist die geringste Umgewichtung, die man unter den Firmen im Basisindex vornehmen muss, um die Kriterien zu erfüllen?
«An Paris ausgerichtete» Anlagebenchmarks sind also eine Optimierung von bestehenden Indizes. Mit geringen Umgewichtungen an diesen Indizes sollen möglichst grosse Veränderungen hinsichtlich der Klimabilanz erzielt werden.
Schauen wir uns an, wie diese Umgewichtungen im Detail aussehen.
Was im Paris-ausgerichteten Index drin ist
Nestlé wird heruntergestuft: Statt 2,9 Prozent hat das Unternehmen im PAB nur noch ein Gewicht von 2,0 Prozent. Das entspricht einer Reduktion um fast ein Drittel (–31 Prozent). Auch ASML wird heruntergestuft: von 2,7 auf 2,6 Prozent (–4 Prozent). Morphosys fällt von 0,010 auf 0,006 Prozent (–40 Prozent).
Hochgestuft wird dagegen L’Oréal, die Fabrikantin von Kosmetika. Ihr Gewicht steigt von 0,9 auf 3,6 Prozent (+300 Prozent), das macht sie zum grössten Einzelposten in der PAB-Variante des Stoxx Europe 600.
Die genauen Gründe für diese Umgewichtungen sind von aussen nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Doch sie sind datengetrieben: Haupteinflussfaktor ist der aktuelle und der prognostizierte Treibhausgasausstoss einer Firma.
Die Umgewichtungen leuchten ein, wenn man sie auf der Ebene von ganzen Wirtschaftssektoren betrachtet. So nimmt etwa das Gewicht der Gesundheitsbranche im Paris-Aligned Benchmark um gut ein Drittel zu (+34 Prozent). Dagegen erhalten Sektoren wie Materialien (Rohstoffabbau, Chemie, Werkstoffe, –38 Prozent), Versorger (Strom, Gas, –51 Prozent) oder Energie (–52 Prozent) im PAB ein geringeres Gewicht.
Viel Gesundheit, wenig Energie
Über- bzw. Untergewichtung von Sektoren im PAB
Branche | Gewichtung |
---|---|
Gesundheit | +34 % |
Langlebige Haushaltswaren | +30 % |
Finanz | +17 % |
Telecom | +7 % |
Technologie | −3 % |
Basiskonsumgüter | −8 % |
Industrie | −18 % |
Bau und Immobilien | −34 % |
Materialien | −38 % |
Versorger | −51 % |
Energie | −52 % |
Lesebeispiel: Der Gesundheitssektor ist im Paris-Aligned Benchmark gegenüber dem Stoxx Europe 600 Basisindex um 34 Prozent übergewichtet. Quelle: Stoxx. |
Komplett auf Rohstoff- oder Energiefirmen zu verzichten, wäre gemäss den PAB-Vorschriften der EU allerdings nicht möglich. Der Standard verlangt vielmehr, dass eine gewisse Selektion innerhalb von Firmen eines Sektors stattfindet. Damit will man zum Beispiel erreichen, dass Kapital von fossilen Energieproduzenten zu Herstellern von erneuerbarer Energie fliesst.
So wird in der PAB-Variante des Stoxx Europe 600 etwa EDP Renováveis hochgestuft, ein portugiesischer Erzeuger von Windenergie (+496 Prozent). Analoges passiert mit der dänischen Vestas Wind Systems (+394 Prozent) und der österreichischen Verbund AG (+308 Prozent). Diese beiden Firmen sind auf Wind- und Wasserkraft spezialisiert. Auch die französische EDF, die viel CO2-armen Atomstrom produziert, wird hochgestuft (+51 Prozent).
Erneuerbare rein, fossile raus
Über- bzw. Untergewichtung: Energie und Versorger
Firma | Gewichtung |
---|---|
EDP Renováveis | +496 % |
Vestas Wind Systems | +394 % |
Verbund AG | +308 % |
Iberdrola | +68 % |
EDF | +51 % |
BP | −100 % |
Shell | −100 % |
Eon | −100 % |
RWE | −100 % |
Auswahl von Firmen aus den Sektoren. Quelle: Stoxx. |
Ölförderfirmen wie die britische BP oder die niederländische Shell fliegen dagegen ganz aus dem Portfolio heraus: Ihr Gewicht fällt um 100 Prozent auf null. Dasselbe widerfährt den deutschen Stromversorgern Eon und RWE, die nach wie vor einen Anteil ihres Stroms mit Kohlekraft produzieren.
Herabgestuft werden auch diverse Firmen aus der Reise-, Transport- und Konsumgüterbranche: Autohersteller wie Renault (–33 Prozent), Airlines wie Ryanair (–64 Prozent), Reiseveranstalter wie TUI (–73 Prozent) oder Hotelbetreiber wie Accor (–82 Prozent). Gemeinsames Merkmal dieser Firmen ist, dass ihr Geschäft mit dem Zurücklegen von Distanzen in Verbindung steht, sei es per Auto oder per Flugzeug. Über die gesamte Konsumkette hinweg – also inklusive der sogenannten Scope-3-Emissionen – sind sie damit für viele Emissionen von Treibhausgasen verantwortlich. Warum Lufthansa leicht hochgestuft wird (+12 Prozent), während etwa Easyjet ganz aus dem Benchmark gestrichen wird, ist nicht ganz klar.
Reisen ist schlecht fürs Klima
Über- bzw. Untergewichtung: Transport, Reise, Autos
Firma | Gewichtung |
---|---|
Lufthansa | +12 % |
Renault | −33 % |
BMW | −40 % |
Ryanair | −64 % |
TUI | −73 % |
Accor | −82 % |
Easyjet | −100 % |
Michelin | −100 % |
Auswahl von Firmen aus den Sektoren. Quelle: Stoxx. |
Der Einblick macht deutlich, dass trotz der Auflage an den Algorithmus, möglichst geringe Umgewichtungen vorzunehmen, doch bedeutende Einschnitte erfolgen müssen, um den Kriterien des PAB-Standards gerecht zu werden. Um den Paris-Aligned Benchmark zu bilden, wird insgesamt rund ein Drittel des Gesamtkapitals im Stoxx Europe 600 umgeschichtet.
Dabei kommt es auch zu Eingriffen, die Fragen aufwerfen. Zum Beispiel bei der Zementherstellerin Holcim: Sie wird im PAB nicht etwa unter-, sondern übergewichtet (+56 Prozent) – obwohl ihr Geschäft ausserordentlich CO2-intensiv ist. Auch bei weiteren Industriefirmen liegen die Gründe hinter den Veränderungen nicht auf der Hand. So wird etwa der finnische Lifthersteller Kone im PAB hochgestuft (+25 Prozent), während sein Pendant aus der Schweiz, Schindler, herabgestuft wird (–56 Prozent). Beide Firmen haben einigermassen ambitionierte Klimaziele beschlossen.
Umgewichtung mit Fragezeichen
Über- bzw. Untergewichtung: Industrie
Firma | Gewichtung |
---|---|
Alstom | +214 % |
Holcim | +56 % |
Kone | +25 % |
Stadler Rail | −10 % |
Geberit | −53 % |
Schindler | −56 % |
Airbus | −100 % |
Rolls-Royce | −100 % |
Auswahl von Firmen aus den Sektoren. Quelle: Stoxx. |
Kontraintuitiv ist auch die Herabstufung von Stadler Rail, dem Schweizer Zugbauer (–10 Prozent). Eigentlich müsste man meinen, dass Züge in der Transportlandschaft der Zukunft einen wichtigeren Stellenwert einnehmen, da Bahnreisen deutlich weniger Emissionen als etwa Flugreisen verursachen.
In anderen Fällen ergeben die Umgewichtungen aber Sinn. So wird etwa die Industriefirma Alstom, die auch Züge baut, hochgestuft (+214 Prozent). Die Flugzeugherstellerin Airbus und die Triebwerksherstellerin Rolls-Royce haben im Paris-Aligned Benchmark des Stoxx Europe 600 keinen Platz mehr.
Fazit
Anlegerinnen, die es mit der Klimafreundlichkeit ganz genau nehmen, werden sich vermutlich nicht für algorithmenbasierte Indizes à la PAB begeistern können – und stattdessen lieber in einer Einzelanalyse von Hand jene Firmen auswählen, die aus ihrer Sicht den grössten Klimanutzen stiften.
Für alle anderen Anleger können solche Klimaindizes ein interessanter Weg sein, um die Klimabilanz ihres Portfolios zu verbessern. Für Pensionskassen ist dabei besonders interessant, dass sich die Wertentwicklung gegenüber den herkömmlichen Basisindizes kaum unterscheidet. Das erleichtert es den Verantwortlichen einer Pensionskasse, eine Klimastrategie umzusetzen.
Für Kleinanlegerinnen ist vor allem das Kostenargument wesentlich. Denn basierend auf dem PAB-Standard kommen mehr und mehr sogenannte passive Anlageprodukte auf den Markt. Damit gemeint sind Anlagefonds, bei denen nicht ein Manager die Auswahl der Firmen manuell vornimmt (aktiv), sondern bei denen die Gewichtung automatisch vorgegeben ist (passiv). Diese Fonds weisen typischerweise niedrige Verwaltungskosten auf: Man bezahlt als Anlegerin weniger Gebühren.
Sie stammen von der Finanzdienstleisterin Qontigo und wurden auf Anfrage geliefert. Die Zusammensetzung der Indizes bezieht sich auf den August 2021.
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