Der grosse neue (Um)welt­schmerz

Die Trauer um die Umwelt wird zum Lebens­gefühl. Das knüpft an alte Traditionen an. Und wird bestenfalls zur politischen Macht.

Ein Essay von Antje Stahl (Text) und SHOUT (Illustration), 18.12.2021

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Als im Westen von Manhattan in den Hudson Yards vor gut zwei Jahren ein neues Zentrum für die Kunst und Kultur des 21. Jahr­hunderts namens The Shed eröffnete, waren in einer abgedunkelten Ausstellungs­halle zwei dicke Mammutbaum­stämme aufgebahrt – so als handelte es sich dabei um die leblosen Körper von Menschen, die wir einst sehr geliebt haben.

Sie waren mit roten Bändern auf Holz­pritschen festgeschnallt und ihrer Wurzeln und Äste beraubt, zu ihren Seiten auf dem Fussboden vertrockneten einige ihrer abgehackten Glieder. An einigen Stellen waren die Stummel sogar wie Wunden mit Stoff bandagiert. Aus Laut­sprechern drang dazu die Stimme von Leontyne Price durch den Raum, die «L’amour est un oiseau rebelle» aus Georges Bizets Oper «Carmen» sang.

Die Arie handelt von jener herz­zerreissenden Liebe, die sich wie die Vögel nicht einfangen lässt. Nein, die immer dann, wenn man glaubt, sie in Händen zu halten, davon­flattern wird. Am Ende von Bizets tragischer Oper liegt denn auch die Leiche von Carmen auf dem Bühnen­boden, im The Shed waren es die gefällten Mammut­bäume, die den Tod in diesem neuen New Yorker Museum zur traurigen Aufführung brachten.

Damals sprach noch niemand von Climate Grief, der Trauer um die zerstörerischen Folgen des Klima­wandels – um den Verlust von Arten und Lebewesen, die keine Menschen sind.

Aber das ändert sich gerade, auch dank einer Kuratorin wie Elodie Evers. Seit ein paar Jahren leitet Evers nun schon eine Residency, in der sich Künstlerinnen mit den emotionalen Reaktionen auf den Klima­wandel auseinandersetzen. Das Programm, das vor der Pandemie-Zwangspause noch in Frankreich angesiedelt war, soll vor den Toren Berlins auf dem Land bald erweitert werden.

Man könne, sagt Evers, das Feld nicht bautechnischen Analysen von klima­schädlichen Infrastrukturen oder zahlen- und kurven­reichen Grafiken von CO2-Emissionen überlassen. Um so etwas wie Fürsorge für den Planeten zu wecken, brauche es anderer Bilder und Narrative. Solche, die uns im Herzen, ja in unseren Seelen ansprechen – uns da abholen, wo wir ohnehin ständig hinfühlen, was wir vielleicht nur noch nicht benennen, geschweige denn zum Ausdruck bringen können: Climate Grief. Oder, wie Elodie Evers auch sagt: Ecological Grief, kurz Eco Grief.

Und das klingt nicht nur traurig schön, das hat auch das Potenzial, das Lebens­gefühl unserer Epoche – den Welt­schmerz des 21. Jahrhunderts – auf ein simples und doch unendlich komplexes Schlagwort zu bringen.

Das Schmerzen der Erde

Did you ever stop to notice
This crying Earth, these weeping shores?
The heavens are falling down
I can't even breathe
What about animals?
We've turned kingdoms to dust
What about elephants?
Have we lost their trust
What about crying whales?
We're ravaging the seas
What about forest trails?
Burnt despite our pleas

Aus: «Earth Song» von Michael Jackson.

Jeder erinnert sich doch an diese Verse, die die Zerstörung unseres schönen Planeten anprangern – und Climate Grief gewisser­massen avant la lettre beklagen?

Sie erklangen zum ersten Mal 1995 in all den Wohn­zimmern, in denen die vielleicht erfolg­reichste deutsche TV-Sendung «Wetten, dass ...» gerade im Fernseher ausgestrahlt wurde. Als Michael Jackson mit seinem «Earth Song» in der Show auftrat (und 18 Millionen Zuschauer erreichte), liefen auch einige der schrecklichen bewegten Bilder ab, die seine Stimme durch das Musik­video begleiten, das MTV und Viva in den folgenden Jahren rauf- und runterspielen sollten.

Bilder von Wäldern, die in Hitze­flammen aufgehen, sind da zu sehen. Und Delfine, die in Käfige gesperrt sind. Bisweilen fühlte man sich von der Gewalt­bereitschaft der Menschen auf dem Bild­schirm wirklich so erschlagen wie die Elefanten und Bäume, die der sogenannte King of Pop gemeinsam mit Leuten beweint, für die Savannen und Regen­wälder einst ein Zuhause waren.

«Ich glaube, die Erde hat Schmerzen, sie hat Wunden (…) und dies ist meine Chance, die Stimme des Planeten für den Menschen hörbar zu machen», sagte er später über das Klagelied, das er in einem Hotel in Wien komponiert hatte.

Wer glaubte ihm nicht jedes Wort? Und fühlte sogar so etwas wie Trost.

Am Ende des Videos, wenn Michael Jackson und ein Chor so richtig anfangen, zu schreien «What about us?», zieht ein mächtiger Sturm auf, der die Zerstörung der Natur einfach ungeschehen macht: Der Rauch, der aus den Schorn­steinen der Fabriken heraus die Atmosphäre verpestet, wird wieder eingesogen. Und alles Tote lebt auf. Kassetten konnte man durch Knopfdruck ja auch zurückspulen.

Ähnlich hoffnungsvoll hinterliess wahrscheinlich der Film «Free Willy» viele Kinder der Neunziger­jahre – für den Michael Jackson ein paar Jahre zuvor den Soundtrack-Song «Will you be there» geliefert hatte: Ein kleiner Junge namens Jesse freundet sich in einem Vergnügungs­park mit dem Orca Willy an, der sich dort gefangen in einem Bassin sehr unwohl fühlt. In einer atem­beraubenden Rettung­saktion schafft es Jesse aber, den Orca zum Meer zu bringen und verabschiedet sich unter Tränen von ihm: Mit einem gewaltigen Sprung über eine Küsten­stein­mauer findet Willy dann in die Freiheit.

Auch das war zum Heulen schön. Und vielleicht das letzte Mal, dass man dem universellen Pop-Glauben verfallen konnte, die Welt­meere gehörten dem Universum – einem gigantischen Tier gelänge tatsächlich die Flucht vor der Zivilisation zurück in das, was wir einmal unter «freier Wildbahn» verstanden haben.

Romantische Versenkung in die Natur

Dass die Natur als Quelle der Bedrohung aber auch des Trostes und der Welt­versöhnung betrachtet wird, ist kein neues Phänomen. Seit der halb­wegs verstädterte Mensch so etwas wie Weltschmerz empfindet, sucht er in der wilden, rauen Natur nach so etwas wie einer sinnstiftenden Umarmung.

Der deutsche Maler Caspar David Friedrich setzte seinen einsamen Mönch in den Achtzehn­nuller­jahren noch am Strand aus, vor dem sich ein dunkler wolken­verhangener Himmel wie eine Wand auftut. Das wirkt bedrohlich, schenkte den Zeitgenossen, die immerhin vor den Trümmern des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation standen, aber dennoch so etwas wie Hoffnung. Rund zehn Jahre später, um 1817, stellt Caspar David Friedrich «den Wanderer über dem Nebel­meer» auf den Gipfel eines Berges: Wir schauen mit ihm über das Natur­wunder Erde hinweg und stehen – so klein wir leibhaftig auch sein mögen – doch irgendwie auf Augen­höhe mit dem Unendlichen, dem Schöpfer.

Die Erfindung des Welt­schmerzes durch den Dichter Jean Paul wird zwar auf einen späteren Zeitraum datiert, um das Jahr 1830. Aber als der Welt­schmerz in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts in voller Blüte stand, ja das Lebens­gefühl von Massen an Leuten prägte, war es die romantische Versenkung in die Natur, an die sich die Pessimistinnen zurück­erinnerten. Der Mensch muss leiden an der Welt, doch die Erhabenheit von Meeren und Gebirgen verweist ihn nicht nur in die Bedeutungslosigkeit.

Gott ist tot

Dieser Weltschmerz soll bekanntlich eine Spezialität der Deutschen sein – der Begriff wurde sogar in alle möglichen Fremd­sprachen aufgenommen, um seine ganze emotionale Tragweite auch ja auf den Punkt zu bringen. Womit die Erfolgs­geschichte des dunklen Gemüts in Deutschland genau zusammen­hängt, wird deshalb unter Wissenschaftlern weltweit bis heute penibel diskutiert. Politische und wirtschaftliche Ereignisse wie die Revolutionen 1848 oder die Grosse Depression ab 1873 spielen dabei immer eine Rolle. Die Industrialisierung. Und die ungelöste soziale Frage, welche die schwer arbeitende Bevölkerung in Armut gefangen hielt. Eine gründliche Lektüre deutscher Philosophen suggeriert jedoch, dass die düstere Stimmung ganz besonders in der weltanschaulichen Obdachlosigkeit aufleben konnte.

Der Deutsche Ludwig Feuerbach entlarvte die Kirche als korruptes Macht­system, und der Brite Charles Darwin erklärte, der Mensch sei gar nicht von Gott aus der Erde beziehungs­weise einer Rippe geformt, sondern stamme vom Affen ab. Damit waren die Voraus­setzungen für den Niedergang des christlichen Weltbildes geschaffen.

Wenn Gott tot ist, kann die Frage nach dem Sinn des irdischen Leidens­wegs allerdings in aporetischer Verzweiflung münden: Man war überzeugt, dass es keine Erlösung vom Bösen geben werde. Dass das Leben deshalb auch nicht lebenswert sein könne. Der Welt­schmerz wurde zum alles bestimmenden Zeitgeist.

Einzig das Natur­erlebnis schien dazu im Widerspruch zu stehen. Jedenfalls solange Natur im Sinne der Romantikerinnen als ein erhabener Ort der Kontemplation und des Einklangs mit dem Universum verstanden werden konnte.

Dass es auch schon im 19. Jahr­hundert Natur­katastrophen gab, Erdbeben und Tsunami in Japan zum Beispiel, die Hundert­tausenden das Leben kosteten, registrierte die Berliner Schriftstellerin Agnes Taubert: Natur heile uns nicht nur, sie zerstöre uns auch. Ausserdem sei die Natur von der modernen Industrie und Technologie bereits so verunreinigt und durch die Besiedlung von den Menschen so verwüstet worden, dass es nur noch wenige Orte auf der Erde gebe, die den Menschen Ruhe und Schönheit bieten könnten, schrieb sie 1873 in «Der Pessimismus und seine Gegner». «Bleibt zu Hause!», lautete Tauberts Fazit, was im Rückblick ein wenig nach Hellseherei klingt.

Im ausgehenden 19. Jahr­hundert standen Welt­reisen vielleicht noch nicht im Ruf, einen ökologischen Fuss­abdruck mit CO2-Emissionen zu hinterlassen, die die Temperaturen steigen lassen, die dann wiederum das Eis schmelzen und Korallen die paradiesischen Farben austreiben. Und es gab auch keine Reise- oder sogar Ausgangs­beschränkungen wegen einer Pandemie. Aber es meldet sich bereits ein ökologisches Bewusstsein zu Wort, das den guten alten Weltschmerz mit unserer Gegenwart verbindet.

Globale Krise – globale Angst

Wer findet beim Anblick von einem Gemälde wie «dem Wanderer über dem Nebel­meer» noch Trost? Und denkt nicht darüber nach, ob der Gipfel, auf den die Rücken­figur von Caspar David Friedrich blickt und der da in der Ferne aufblitzt im Wolken­meer, in Zukunft noch einmal eingeschneit werden wird? Oder ob «Das Eismeer» (auch so ein berühmtes Gemälde dieses Malers), in dem ein Schiff zerschellt ist, nicht schon längst geschmolzen ist? Der ästhetisierende Blick auf die Natur kann unter dem Einfluss eines ökologischen Bewusstseins in sich zusammen­brechen, dafür wurden auch in der Republik schon einmal ein paar Argumente vorformuliert.

Google berichtete kürzlich, dass die Such­anfragen zu einem Begriff wie Climate Anxiety – Klima­angst – im vergangenen Jahr um über 500 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren zugenommen hätten, was zumindest bestätigt, dass die Sorge um den Planeten dramatisch gestiegen ist, während sich ein Virus auf der ganzen Welt verbreitete, von dem man für gemeinhin annimmt, er sei durch eine fatale Nähe zwischen Mensch und Wildtier entstanden. Zudem wurde im September 2021 eine Studie «Stimmen junger Menschen zur Klima­angst» publiziert, bei der 10’000 junge Menschen im Alter zwischen 16 und 25 bestätigten, sich traurig, wütend, macht- und hilflos und sogar schuldig zu fühlen, wenn es um den Klima­wandel gehe.

Die Herausgeberinnen sehen sogar eine globale public health crisis herauf­ziehen, wenn nicht sofort etwas getan werde. Ihre Kritik richtet sich auch gegen die Staats­oberhäupter dieser Welt, die keine radikale Klimapolitik implementieren würden. Wenn nicht bald etwas geschehe, werde die psychische Belastung für die jungen Generationen einfach zu gross.

Es wäre zwar absurd, die heutigen Macht­inhaber mit Gott zu vergleichen – aber das schwindende Vertrauen in eine Welt- und Gesellschafts­ordnung, in der man sich zurechtfinden kann, die Orientierung schenken und es vielleicht sogar irgendwie richten sollte, ähnelt der Stimmungs­lage – dem Pessimismus – im 19. Jahr­hundert. Neben den vergleichbaren sozialen Umbrüchen, die heute nicht durch Industrialisierung, aber durch die Digitalisierung ausgelöst werden, verbreitet der Klima­wandel Angst und Schrecken. «Gott, um den Weltschmerz auszuhalten, muss die Zukunft sehen», hiess es bei Jean Paul – noch halb versöhnlich. Rund zweihundert Jahre später sieht sich eine Generation mit einer Zukunft konfrontiert, in der alles, was sie kennt, überflutet, zugemüllt, ausgestorben und on fire sein wird.

Psychologen fühlen sich zu einer therapeutischen Stellung­nahme deshalb zurzeit ganz besonders berufen. Kurz nachdem die zitierte Studie veröffentlicht wurde, erschienen in allen möglichen Medien Interviews, in denen die Zunft vor einem falschen Umgang mit dieser Klima­angst warnte: Sie dürfe auf keinen Fall pathologisiert werden, fordern sie. Die Sache mit dem Klima­wandel sei nicht das Problem von Individuen, denen beigebracht werden müsse, alleine mit ihren Ängsten zurecht­zukommen. Es gehe «um eine globale Bedrohung, die nur gesellschaftlich-politisch überwindbar ist».

Oft wurde dann auch noch Greta Thunberg erwähnt, die den Schritt aus der hilflosen Einsamkeit heraus auf die Strasse in Stockholm vor das schwedische Parlament geschafft habe. Greta Thunberg, die ihre persönlichen Gefühle eben nicht allein einer Psycho­therapie unterzogen oder mit Medikamenten bekämpft hat, sondern in einem Aktivismus aufgehen lässt, der Gleichgesinnte auf der ganzen Welt erreicht.

Ob man das fachsprachlich nun Verhaltens­therapie nennt oder davon ausgehen muss, dass ein ganzer Berufs­stand in die Fuss­stapfen grüner Politikerinnen tritt und politischen Aktivismus unter seinen Patienten verbreitet, damit es ihnen besser gehe, sei dahingestellt.

Beerdigungen für Gletscher

Neben Psychologinnen werden – und das ist für die Behauptung, Climate Grief sei der neue Welt­schmerz der Gegenwart, vielleicht noch wichtiger – neuerdings auch Seel­sorger herangezogen, um den Verlust von Natur oder dessen, was wir einmal darunter verstanden haben, zu verarbeiten.

Vor etwas über zwei Jahren fanden sich über Hundert Pilgerinnen in der Schweiz in den Glarner Alpen zusammen. Ihr Ziel war eine Wanderung zu einer Beerdigungs­feier für den Pizol, der seine letzten Tage unterm Eismantel verbringen sollte – und nun ja auch wirklich hinter sich lassen musste: Die Glaziologen, die sich jahrzehnte­lang um ihn gekümmert haben, demontierten diesen Herbst ihre Messgeräte.

Viele der Gäste vor zwei Jahren waren in schwarzer Trauer­kleidung gekommen und nahmen auf etwa 2500 Metern Höhe Teil an einer Andacht aus Reden, Alpenhorn­klängen und Schweige­minute. Ein römisch-katholischer Seel­sorger war auch dabei, um dem Firn da oben die letzte Ehre zu erweisen und ihn unter dem blauen Himmel an diesem Sonntag im September angemessen ins Jenseits zu befördern: «Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, die Natur auszubeuten und die von Gott gegebenen Schätze zu vergeuden», predigte Eric Petrini aus der Pfarrei in Mels. «Zu lange haben wir geglaubt, uns über die Natur erheben und diese beherrschen zu können. Der Mensch mag die Krone der Schöpfung sein. Aber er hat verlernt, sich dieses Privilegs würdig zu erweisen.»

Die Beerdigung des Pizol ist nicht die einzige ihrer Art. Auf dem Schild­vulkan Ok nordöstlich von Reykjavik wurde ebenfalls in einer feierlichen Zeremonie eine Gedenk­tafel für den Gletscher Okjökull hinterlassen, der die grauen Gesteins­brocken einst mit meter­hohen Eisschichten bedeckte, über die Jahr­zehnte jedoch so viel Masse verlor, dass er keine Eigen­bewegung mehr aufweist und für tot erklärt wurde. Die Inschrift «Ein Brief an die Zukunft» liest sich wie alte Memento-mori-Sprüche, nur dass sie nicht mehr auf den Menschen bezogen sind: «Wir wissen, was geschieht und was getan werden muss», damit nicht alle Eisberge auf diesem Planeten das Schicksal des Okjökull teilen müssen.

Ein Gefühl von Climate Grief scheint allgegenwärtig, auch wenn wohl die wenigsten ihre Stimmung mit diesem Begriffs­paar beschreiben würden.

Seelsorgerische Naturforschung

Climate Grief wurde anders als der Welt­schmerz nicht von Poetinnen erfunden. Er hat keinen theologischen Ursprung, sondern entspringt der empirischen Natur­forschung. Wenn man sich seine Entstehungs­geschichte anschaut, überrascht einen seine Verknüpfung mit so etwas wie Seelen­kunde trotzdem nicht. Phyllis Windle, die ihn, soweit bekannt, zum ersten Mal überhaupt ins Spiel brachte, ist nämlich eine US-amerikanische Ökologin und Seel­sorgerin, die dafür ausgebildet wurde, in Kranken­häusern schwer kranke Patienten und trauernde Angehörige zu betreuen.

Im Jahr 1992 entschied sie sich dazu, im Magazin «BioScience» von Oxford University Press einen kurzen persönlichen Artikel über Bäume und Sträucher zu publizieren: Jeden Frühling hatte sie ihr Blüten­meer bewundert, wenn sie in ihrer Heimat Washington spazieren ging – bis diese Bäume und Sträucher eines Tages durch einen Pilz zerstört wurden und nicht mehr blühten. Windle merkte, dass sie darum ehrlich trauerte. Und wunderte sich, warum Trauer ausschliesslich bei Menschen untersucht wurde, die einen Angehörigen verloren – nicht aber bei Menschen, die dabei zusehen, wie Land, Gletschereis, Pflanzen oder ganze Tierarten draufgehen.

Bis in die späten Achtziger­jahre war die psychologische Forschung noch weit davon entfernt, die Zerstörung der nichtmenschlichen Umwelt als Ursache für Depressionen, Ohnmacht, Verzweiflung, Wut und Trauer ernst zu nehmen. Ganz langsam begann sie jedoch, verlorene Haustiere, Wohnungen oder Jobs wie die Verluste von engsten Vertrauten der Patienten einzustufen – Pflanzen allerdings zählten gemeinhin nicht dazu. Phyllis Windle forderte deshalb, diese Lücke zu schliessen. Sie wurde sogar zum Sprachrohr von vielen Kolleginnen, die durch das Gleiche gingen wie sie.

Botanikern, Biologinnen, Förstern oder Ozeanologinnen, schrieb Windle, werde zwar nachgesagt, sie richteten einen natur­wissenschaftlichen, das heisst sachlichen Blick auf die Arten, denen sie ihre Forschung widmeten. Wenn eine kanadische Lachsart aussterbe oder auch nur ein Mistel­zweig in Neuseeland verschwinde, zeige sich jedoch die wahre Natur ihrer Beziehung: «Wissenschaft ist Arbeit aus Liebe. Oft lieben Biologen ihre Organismen. Oft lieben Ökologen ihre Feldbereiche.»

Windle plädierte sogar dafür, die Riten, die die Menschheits­geschichte seit Jahrtausenden pflegt, um mit Trauer umzugehen, auch für den Untergang der nichtmenschlichen Umwelt zu nutzen: Begräbnisse, Denkmäler, Fotoalben, Gedenk­feiern. Ganz konkret bezieht sie sich in ihrem Text auf den Plan einiger Forscherinnen, sich im Oktober 1992 auf der Insel in den Bahamas zu versammeln, an der Christoph Kolumbus gelandet sein soll. Sie wollten dort eine Trauerfeier für «the demise of the New World’s natural heritage» und «the eradication of entire groups of indigenous Caribbean people» abhalten – dem Untergang des dortigen Naturerbes und der Vernichtung ganzer indigener Bevölkerungsgruppen gedenken.

Im Rückblick wirkt auch dieses Schrift­zeugnis wie ein kostbares Dokument der Avantgarde. Die Autorin selbst scheint sich zwar noch etwas für ihre Gefühle und Ritensehnsucht zu schämen: «Das ist alles dramatisch», schreibt sie, «vielleicht auch zu unerhört für den Geschmack vieler Ökologen.» Allerdings hat sich der Geschmack, im Verlauf der letzten fast dreissig Jahre so radikal verändert, dass die von ihr erwünschten Trauerfeiern und Denkmäler in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind.

Die Geografie des Climate Grief

Manchmal sind Natur­wissenschaftler die besseren Philosophen, weil sie eine Sprache finden, die eine Brücke schlägt zwischen Fakten und Gefühlen, zwischen nüchterner Forschung und Kultur­techniken, die jeder versteht. Die auch in den Geistes­wissenschaften enorm einfluss­reiche Wissenschafts­historikerin Donna Haraway fordert schon lange einen feministischen Blick, der sich an die Empirie hält und gegen ein pseudo­omnipotentes Wissen und seinen Willen zur Macht antritt. «Wir wollen die Welt nicht als globales System theoretisieren, geschweige denn in einer solchen Welt handeln», schrieb sie 1988. «Was wir aber dringend brauchen, ist ein Netzwerk erdumspannender Verbindungen, das die Fähigkeit einschliesst, zwischen sehr verschiedenen – und nach Macht differenzierten – Gemeinschaften Wissen zumindest teilweise zu übersetzen.» Wenn man sich Phyllis Windles Artikel genau anschaut, kündigt sich auch die Hinwendung zu einem Wissen, das nur die unmittelbar und am härtesten vom Klima­wandel und auch vom Climate Grief Betroffenen haben können, bereits an.

Knapp zwanzig Jahre nachdem Phyllis Windle ihren Artikel veröffentlichte, meldete sich eine weitere Wissenschaftlerin – Ashlee Cunsolo Willox – in einem TED-Talk zu Wort, in dem es dann genau darum ging: um den Climate Grief von Gemeinschaften, die marginalisiert sind und nicht über gesellschaftliche Macht verfügen.

In aller Kürze skizziert Cunsolo Willox ihre Arbeit im Schosse einer Inuit-Gemeinde von Nunatsiavut im Norden Kanadas, mit der sie gemeinsam die Auswirkungen des Klima­wandels auf ihre Gesundheit erforschte. Konkret berichtet sie von einem Gespräch mit einer Frau, in dem es wie so oft in diesen Breiten­graden um die Veränderungen des Eises ging, das von Jahr zu Jahr immer später komme und immer früher ginge, um den abnehmenden Schnee, die zunehmenden Stürme und Nebel­decken und um die wilden Tiere, die sich deshalb zurück­ziehen in andere Gebiete, so dass die existenziellen, sozialen und kulturellen Lebens­grundlagen für sie und ihre Familie, ihre Enkel und Urenkel zu verschwinden drohen.

«Während sie so erzählte, fiel mir auf, dass sie immer emotionaler wurde», erzählt Cunsolo Willox. «Also sagte ich: Wie haben sich diese Veränderungen auf deine Gefühle ausgewirkt? Sie schwieg, und sie sah mich an, und sie fing an zu weinen.» Niemand habe sie je zuvor gefragt, wie sie sich fühle.

Es war die Zeit, in der auch andere Forschungs­einrichtungen wie die American Psychology Association langsam begriffen, dass sich der Klima­wandel ganz besonders bei den Gemeinschaften auf die mentale Gesundheit auswirke, die direkt davon betroffen seien – auf Bäuerinnen, Fischer, Indigene, Menschen, die in abgelegenen, ländlichen Regionen leben. Trauer, Depressionen, erhöhter Alkohol- und Drogen­konsum und sogar eine höhere Selbstmord­rate wurden auch von Ashlee Cunsolo Willox bei den Inuit-Gemeinden verzeichnet.

Fortan erforschte die Wissenschaftlerin die Auswirkungen des Klima­wandels auf die mentale Gesundheit mit einem besonderen Fokus auf den Climate Grief. Sie entschied auch, das öffentliche Gespräch darüber mit allen Kräften anzustossen. Der Klima­wandel sei für die meisten von uns abstrakt, Narrative bezögen sich auf eine ferne Zukunft. Deshalb sollten alle, die diesem TED-Talk beiwohnen, die Geschichte der Inuit-Gemeinden weitertragen.

Man darf sich fragen, ob ein TED-Talk der geeignete Rahmen dafür ist. Er ergänzt die Diskussion um den Climate Grief aber um eine ganz entscheidende Dimension – um seine Geografie.

Climate Anxiety oder Climate Grief?

Zahlenberichte über Such­anfragen von Google sowie Umfrage­ergebnisse aus Studien wie der bereits oben erwähnten «Stimmen junger Menschen zur Klima­angst» könnten ja durchaus suggerieren, dass Climate Anxiety – Klima­angst – und nicht Climate Grief – Klima­trauer – der neue Welt­schmerz des 21. Jahr­hunderts sei. Das Wort korrespondiert mit dem Gefühl von Ohnmacht, das Jean Paul und andere Dichter angesichts all der «tausend Qualen der Menschen», des «Höllen­abgrund aller Zeit und die verdammten Seelen drinn gebettet, die nicht errungen die Unsterblichkeit» beschreiben. Angst ist im Gegensatz zur Trauer immer auf etwas Unbestimmtes, unendlich Grosses und Unkontrollierbares gerichtet.

Schon im 19. Jahr­hundert machten sich die Kritikerinnen jedoch über diese diffuse Weinerlichkeit lustig, denunzierten sie als Selbst­mitleid, in das der Verstand versinkt, obwohl er sich und seine Umwelt doch kritisch beleuchten sollte. Und wenn man sich die Häme anschaut, mit der seit der ersten Fridays-for-Future-Demonstration über die klima­ängstliche Jugend hergezogen wird – nach dem Motto: Und was machen die rich kids wenn es kalt wird? «Heizen kann es ja wohl nicht sein»  – scheint sich heute dieselbe ressentiment­geladene Kritik zu verbreiten. Man sollte dem keine Beachtung schenken. Allerdings leidet tatsächlich selbst eine seriöse Studie wie «Stimmen junger Menschen zur Klimaangst» an mangelnder Präzision.

Die Studie wurde in zehn Ländern durchgeführt, die alle nicht nur sehr unterschiedliche Massnahmen zur Bekämpfung des Klima­wandels ergreifen, sondern die auch sehr unterschiedlich davon betroffen sind – Frankreich und Indien zum Beispiel, England und die Philippinen. Einige der Aussagen – wie «Die Menschheit ist dem Untergang geweiht» oder «Die Sicherheit der Familie wird bedroht» – werden von den Teilnehmenden je nach Herkunft daher auch ganz unterschiedlich bewertet. Die Studie verzichtet nur leider auf genauere Angaben und erst recht auf Schluss­folgerungen, was den Eindruck entstehen lässt, wir hätten es mit einer jugendlichen Welt­gemeinschaft zu tun, die in ein- und derselben anxiety vor ein und derselben Zukunft versinke.

Als ob es das gebe: die eine vereinte Welt­gemeinschaft mit der einen unausweichlichen Zukunft. Schon ein vergleichender Blick – in die Lebens­bedingungen und -erwartungen eines Jugendlichen mit Wohnsitz im 16. Arrondissement von Paris, Frankreich, versus Slum, Kalkutta, Indien oder eben Nord­kanada – reicht eigentlich aus, um zu wissen, was für eine seltsame Behauptung das ist.

Ein Begriff wie Climate Grief operiert anders. Climate Grief bezieht sich immer auf ganz konkrete Verlust­erfahrungen, richtet das Gefühl anders als die panische Angst weg vom Subjekt hin zum Objekt – und kämpft sogar um Mitgefühl für die davon am schwersten Betroffenen.

Die Liste, die Ashlee Cunsolo Willox mit den Inuit-Gemeinden im Norden Kanadas eröffnet, liesse sich fortführen. In der Schweiz widmen sich das Foto­museum Winterthur sowie das Schauspiel­haus Zürich zurzeit der Yanomami-Gemeinde im Amazonas­gebiet, deren Lebens­grundlagen seit Jahrzehnten durch illegale Goldgräber und Abholzung bedroht werden (unter der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro wurden allein im Jahr 2020 pro Minute Regenwald­gebiete in der Grösse von drei Fussball­feldern abgeholzt). Von daher muss die These «Climate Grief ist der Welt­schmerz des 21. Jahr­hunderts» eigentlich zu einem Imperativ werden: Climate Grief sollte der Welt­schmerz des 21. Jahr­hunderts werden.

Das Ende der Pop-Unschuld

Schaut man sich mit diesem Wissen noch einmal das Musik­video des «Earth Song» von Michael Jackson an, ist man einiger­massen sprachlos, wie nahe und zugleich weit voraus er solchen Wissenschafts­diskursen tatsächlich war. Im Video zeigt er sich an der Seite von indigenen Bevölkerungs­gruppen, in Savannen, wo Elefanten für ihre Stosszähne ermordet werden, in Regen­wäldern, die für Möbel in unseren Wohn­zimmern oder für den Anbau von Soja für unsere Milch abgeholzt werden. Er schreit auch in ihrem Namen und im Chor: «The heavens are falling down (What about us?)», «I can’t even breathe (What about us?)», «What about nature’s worth? (Ooh), It’s our planet’s womb». Und der Orca Willy aus dem schönen Film findet auch zurück in die Freiheit der Weltmeere. Es gibt da nur einige Fakten, die diesen Szenen, wie soll man sagen, die universelle Pop-Unschuld austreiben.

Zum einen ist Michael Jackson spätestens durch eine Dokumentation des amerikanischen Senders HBO von 2019, in der junge Männer berichten, er habe sie in jungen Jahren sexuell belästigt und vergewaltigt, in pädophilen Verruf geraten. Und zum anderen hatte der Film «Free Willy» ein sehr bizarres, um nicht zu sagen zynisches Nachspiel in der Realität. Für den Willy-Darsteller, den Orca Keiko, wurde nach der Ausstrahlung des Films im Jahr 1993 eine Stiftung gegründet, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, ihn genau wie im Film aus seinem Bassin ­zu befreien. 1998 wurde er nach erfolgreicher Lobby­arbeit dann wirklich nach Island verschifft, um ihn daran zu gewöhnen, Fische zu jagen. Im Sommer 2002 wurde er sogar ausgesetzt. Nur leider wirkte er da in freier Wildbahn zunehmend lethargisch und soll auch immer wieder die Nähe zu Menschen gesucht haben. Ein Jahr später verlor er den Appetit und starb an einer Lungen­entzündung in einem Fjord von Norwegen. Keiko wurde 27 Jahre alt.

Die Medien­berichte, die dann erschienen, lesen sich – wen überrascht das jetzt noch? – wie Trauer­anzeigen. Auch damals wurde eine Beerdigung organisiert – für Keikos gigantischen Walkörper im Schnee und Eis von Norwegen. Im Gegensatz zu Gletschern werden Tiere und ganz besonders Haustiere in unseren Breiten­graden ja schon seit einer ganzen Weile bestattet wie angehörige Menschen. Jede halbwegs offene Kirche bietet regelmässig Gottes­dienste für trauernde Tierhaltende an.

Die Beerdigung von Keiko wirkt trotzdem irgendwie perfide: Am Ende des Tages waren es ja die Menschen, die ihn erst gefangen nahmen, einsperrten und dressierten – und weil sie den Anblick dieses Verbrechens nicht mehr ertrugen, noch einmal in eine Umerziehung steckten, die ihn das Leben kostete. Climate Grief droht damit im Kitsch zu versinken, der das eigene (Fehl-)Verhalten ausblendet und sich am Ende doch wieder an die romantische Umarmung der Natur klammert.

Lasst die Wale singen!

Die Kuratorin Elodie Evers, die sich dem Climate Grief widmet, verfolgt mit ihrer Arbeit das Ziel, andere echte und ja: nachhaltige Fürsorge für alle Lebewesen in den Menschen zu wecken. «Die Kunst kann wie immer Prozesse in Gang setzen, die dazu führen, dass wir bewusster mit Ressourcen, Pflanzen und Tieren umgehen. Kunst kann so etwas wie Trauer­arbeit unterstützen und begleiten: Nichts anderes meint Eco Grief.» Evers arbeitet an einer grossen Ausstellung, in der sie historische und zeitgenössische Beiträge dieser Art zeigen wird.

Nun ist nicht ganz sicher, ob sie dabei auch an das Kunstwerk denkt, das vor 20, 30 Jahren wahrscheinlich nur New-Age-Hippies kannten. Aber vielleicht wäre das Schnattern und Singen und Klagen und Flirten und Beschweren der Wale kein schlechter Ausgangspunkt für eine ästhetische Reise zum Climate Grief?

Auf dem Höhepunkt des internationalen Walfangs Anfang der Sechziger­jahre wollte ein Mitarbeiter des US-amerikanischen Militärs Unterwasser-Explosionen bei den Bermudas mit einem Tongerät aufnehmen, nur übertönten eine Reihe von Buckel­walen das Geräusch des Dynamits. Die Aufnahme erreichte den Biologen Roger Payne, der sie in seinem New Yorker Büro so oft anhörte, bis er kapierte, dass sich Tonfrequenzen wiederholten, so etwas wie eine Komposition, ja Lieder heraus­kristallisierten. «Diese Klänge sind ohne jede erdenkliche Ausnahme die eindrucks­vollsten und schönsten Geräusche, die ein Tier auf der Erde macht», sagte Payne. Und strengte sich an, die Aufnahmen unter Musikern und Komponisten zu verbreiten.

Im Jahr 1970 veröffentlichte Capitol Records die «Songs of the Humpback Whale» – die dann von Umwelt­aktivisten auf offenem Meer gespielt wurden, um die Herzen von Walfängern zu ergreifen. Auch wenn sich diese nicht vom Töten abhalten liessen – die Kampagne zur Rettung der Wale wurde von ihren eigenen Stimmen getragen: Der kommerzielle Walfang wurde in den Achtziger­jahren verboten.

Eine Allianz aus Natur und Kultur kann mit anderen Worten zu einer ganz neuen Ästhetik führen, in der wir alles gleichzeitig fühlen: Trauer und Liebe und Ehrfurcht. Sie scheint dem Kunst­begriff sogar den Fluch auszutreiben, kein Mittel zum Zweck werden zu dürfen. In wenigen anderen Formen von Agitprop konnte man sich bisher jedenfalls so schön verlieren wie im Gesang der Wale.

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