Häusermeer ohne Zukunft? Blick auf Athen vom Lykabettus, dem «Wolfsberg».

Wie schützt man eine Stadt vor dem Untergang?

Unerträgliche Hitze, Ascheregen, Überschwemmungen: In achtzig Jahren könnte Athen unbewohnbar sein. Die Stadt geht ungewöhnliche Wege, um die Zukunft zu sichern. Die schwierigste Herausforderung dabei ist nicht die Natur.

Von Giannis Mavris (Text) und Socrates Baltagiannis (Bilder), 15.12.2021

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Athen ist eine anarchisch gewachsene, uferlose Beton­wüste mit wenig Grün: Die Stadt gewinnt keinen Schönheits­wettbewerb – das müssen selbst die überzeugtesten Liebhaber der Metropole zugeben.

Doch die Ästhetik ist nicht die grösste Sorge der Einwohnerinnen.

Diese müssen sich eher fragen: Wie lange wird Athen überhaupt noch bewohnbar sein?

Der vergangene Sommer gab den Einwohnern einen Vorgeschmack auf eine mögliche Antwort: unter anderem mit einer zehntägigen Hitze­welle, bei der das Thermometer tagsüber konstant über 40 Grad Celsius blieb und die Nacht kaum Abkühlung brachte. Es war – wieder einmal – der heisseste jemals verzeichnete Sommer in Südeuropa.

«Man sollte ja nicht übertreiben. Aber es fühlte sich echt an wie das Ende der Welt», sagt der 40-jährige Athener Giannis Marinos über den Hitze­sommer. Draussen eine unerträgliche Hitze, drinnen Fernseh­bilder von den grossflächigen Wald­bränden, die im ganzen Land wüteten. «Als die Feuer immer näher kamen, fühlten wir uns wie im Belagerungs­zustand. Dichter Rauch hing über der Stadt, es regnete Asche, draussen konnte man teilweise kaum atmen.» Von ihrem Wohnort im Westen der Stadt blickten Marinos, seine Frau Vassiliki und ihr Sohn Christos auf die riesigen Rauch­säulen, die aus den Wäldern aufstiegen.

Das Land verzeichnete in dieser Zeit eine deutliche Über­sterblichkeit: Zwischen Ende Juli und Mitte August allein waren es 2300 Todesfälle mehr als in den entsprechenden Vorjahres­perioden – und zwar ohne die zusätzlichen Covid-Todesfälle.

Athen zählt zu den europäischen Städten, die sich laut Prognosen auf zunehmende Hitze­wellen und Trockenheit einstellen müssen. Extreme Hitze wird es künftig nicht nur häufiger geben, sie wird auch länger anhalten. Prognosen sehen einen Anstieg der Temperatur bis 2050 um mehr als 2 Grad Celsius. Bis Ende des Jahrhunderts könnte es im Extrem­fall in Griechenland im Schnitt sogar um 4 Grad wärmer werden.

Damit wäre die Stadt nicht mehr bewohnbar.

Die Pionierin

In und um Athen leben zwischen 4 und 5 Millionen Menschen, je nachdem, was man alles zur Metropol­region dazuzählt. Das ist fast die Hälfte der Gesamt­bevölkerung Griechen­lands. Die Stadt ist in jeder Hinsicht das Zentrum: politisch, wirtschaftlich, kulturell. Was hier entschieden wird, strahlt aus – im Land selber, aber auch international. Wenn die «Wiege der Demokratie» den Kampf gegen die Hitze aufnimmt, wird das also registriert – so das Kalkül der Stadt­verwaltung, um die Stadt gegen extreme Hitze zu rüsten.

In Gang bringen soll diesen Kampf eine Frau: Eleni Myrivili – Athens neue Chief Heat Officer.

Wir treffen die Anthropologin mit Spezialisierung in Umwelt­fragen in einem Café in Koukaki, einem Quartier in der Nähe der Akropolis. Ob wir Zigaretten hätten, will sie als Erstes wissen. Ein Mann am Nachbar­tisch hilft mit Tabak aus. Die Selbstgedrehte geht immer wieder aus, Myrivili spricht lange und ausschweifend, ihr Telefon klingelt oft, Leute grüssen sie beim Vorbei­gehen.

Myrivili trägt den offiziellen Titel Chief Heat Officer, doch hat sie keine exekutiven Befugnisse, sondern nur ein Beratungs­mandat als Senior Advisor für Resilienz und Nach­haltigkeit. Angetreten hat sie es Ende Juli 2021 – kurz vor der grossen Hitze­welle, bei der mit über 47 Grad Celsius einer der höchsten je gemessenen Werte in Athen registriert wurde. «Wir haben zehn Jahre Zeit, das Ruder rumzureissen. Sonst haben wir das Spiel verloren – und zwar big time», sagt sie und klopft die Asche ab.

Myrivili war in Athen bis vor zwei Jahren parteilose Vize­bürgermeisterin («Im Herzen bin ich aber grün») und befasst sich mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die Stadt. 2018 sicherte sich Athen ein Darlehen über 55 Millionen Euro für grüne urbane Infrastruktur von der Europäischen Investitions­bank – als erste Stadt überhaupt. «Der Zugang zu finanziellen Mitteln für die Anpassung urbaner Infra­strukturen ist kompliziert und langwierig. Aber wir haben gezeigt, dass es auch in einem Land wie Griechenland geht», sagt Myrivili. «Früher sprachen wir immer von der Klima­erwärmung. Wir sprachen aber erstaunlich wenig über die konkreten Auswirkungen: dass es nämlich brutal heiss werden wird – und zwar dort, wo die meisten Menschen leben: in den Städten.» Die Einsicht sei banal, sagt sie. Aber ganzheitliche Strategien, um Hitze­wellen im urbanen Kontext zu bekämpfen, gebe es nur wenige.

Das will sie für Athen ändern.

Pionierin in Europa: Athens «Chief Heat Officer» Eleni Myrivili auf dem Lykabettus.

Ihre internationale Vernetzung, vor allem in akademischen Kreisen und in Städte­verbünden, hat die promovierte Kultur­anthropologin Myrivili auch für die neue Stadt­regierung interessant gemacht. Der amtierende Bürger­meister Kostas Bakoyannis – ein Neffe von Premier­minister Kyriakos Mitsotakis und Mitglied der grössten Polit­dynastie des Landes – holte sie deshalb an Bord. «Ich hatte eine Bedingung: dass meine Rolle interimistisch bleibt. Die Idee ist, sie so bald als möglich in die offiziellen Verwaltungs­strukturen der Stadt einzugliedern.»

Myrivili ist die Erste und bisher Einzige ihrer Art in Europa. Eine weitere Chief Heat Officer wurde kurz vor ihr im Dade County in Miami ernannt, eine dritte Kollegin kurz nach ihr in Freetown in Sierra Leone.

Ist Athen also eine Klima­pionierin?

Fragt man Athenerinnen, können die meisten darüber nur lachen. In einem Land, das von Krise zu Krise taumelt und in dem das Vertrauen in den Staat notorisch tief ist, braucht es einigen Mut, um visionäre Politik für die breite Masse zu machen – und es braucht verdammt gute Ideen.

Heftige Regenfälle, unkontrollierte Bebauung

Die Stadt ist eingekesselt zwischen Hügel­ketten auf drei Seiten und dem Meer im Süden – und ist mit knapp 17’000 Menschen pro Quadrat­kilometer nach Paris (21’000) die am dichtesten bebaute und besiedelte Stadt Europas. Mit etwas mehr als 6 Quadratmetern Grünfläche pro Einwohner ist sie ein europäisches Schluss­licht und liegt deutlich unter der von der WHO empfohlenen Mindest­fläche von 9 Quadrat­metern. Zum Vergleich: Bernerinnen haben mehr als 130 Quadratmeter zur Verfügung.

Da die Oberfläche in Athen stark zugebaut ist, sind bei heftigen Regen­fällen Über­schwemmungen zur Regel geworden. Hinzu kommt die unkontrollierte Bebauung, die Stadt­planer in den Wahnsinn treibt und den Verkehr bei den kleinsten Störungen kollabieren lässt.

Das hat historische Gründe.

Das Wachstum der Stadt erfolgte meist in grossen, abrupten Schüben – die eine zentrale Planung nicht zuliessen. Als 1830 der moderne griechische Staat gegründet wurde, war Athen nicht mehr als ein Dorf unter der Akropolis mit etwa 4000 Einwohnerinnen, grösstenteils zerstört vom Unabhängigkeits­krieg gegen das Osmanische Reich. Erst vier Jahre später wurde es zur Haupt­stadt und zur Heimat zahlreicher Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osmanischen Reich.

Vorbildcharakter: Im Nationalgarten, einem öffentlichen Park nahe der Akropolis, werden Bewässerungs- und Stromversorgungs­systeme modernisiert.
Immer in Bewegung: Der Strassenverkehr ist eines der Hauptprobleme in Athen.

Die eigentliche Bevölkerungs­explosion kam nach dem Griechisch-Türkischen Krieg 1922: Durch den Bevölkerungs­austausch zwischen den beiden Staaten vervierfachte sich die griechische Bevölkerung innerhalb weniger Monate, Athen wuchs auf einen Schlag von 100’000 Einwohnern auf eine Viertelmillion. Die Flüchtlinge wurden rund um Athen und das benachbarte Piräus angesiedelt, die Elends­slums von damals sind die Nachbarschaften der heutigen Mittel­klasse. Sie halten mit Namen wie Nea Smyrni, Nea Filadelfia und Nea Ionia die Erinnerung an die alten Heimaten in Kleinasien hoch.

Ein weiterer Bauboom folgte nach dem Zweiten Weltkrieg und dem anschliessenden Bürger­krieg: Es kam zu einer massiven Landflucht, die Stadt wuchs in die Breite und in die Höhe – die Bausubstanz stammt noch immer zu einem grossen Teil aus den 1960er- und 1970er-Jahren.

Heute leben in Griechenland mehr als 80 Prozent der Bevölkerung in Städten. Der Grossraum Athen ist dabei das wichtigste urbane Gebiet. «Ohne Athen kann in diesem Land keine Politik gemacht werden», sagt Myrivili.

Kopflose Metropole

Das offizielle Athen – oder die «Stadt der Athener», wie die Gemeinde im Zentrum des urbanen Molochs in Anlehnung an die antike Polis heisst – beherbergt nur einen Teil der Einwohner. Unter dem Oberbegriff Athen wird jedoch ein Gebiet von rund 700 Quadrat­kilometern zusammen­gefasst, das mehr als fünfzig Gemeinden umfasst. Eine übergeordnete Verwaltungs­struktur, wie sie andere urbane Metropol­regionen kennen, gibt es jedoch nicht. «Das ist ein echtes Problem. Die Region Attika, zu der die Metropole gehört, kann keine spezifische Stadt­politik machen», sagt Myrivili. Eine Änderung zeichne sich momentan nicht ab.

Die verwaltungsrechtliche Fragmentierung ist eine der grössten Hürden bei der Umsetzung strategischer Beschlüsse. Doch etwas wiegt noch schwerer: die Parteipolitik. Der Links-rechts-Graben ist in Griechenland besonders ausgeprägt, das Regierungs­system wird im Wesentlichen als dikommatismos bezeichnet, als Herrschaft zweier Parteien, die sich an der Macht abwechseln. Das waren seit dem Ende der Militär­diktatur in den 1970ern die konservative Nea Dimokratia und die sozialistische Pasok, die im Zuge der Wirtschafts­krise ab 2010 von Syriza abgelöst wurde.

Ideologisch unterscheiden sich die Blöcke stark, eines hatten aber bisher alle Regierungen gemein.

Ökologie spielte kaum eine Rolle.

Dabei haben Naturkatastrophen in Griechenland über die letzten zwei Jahrzehnte stark zugenommen. Im Ausland wird das nur bei spektakulären Ereignissen wie den diesjährigen Feuers­brünsten registriert – aber Brände und Überschwemmungen fordern jedes Jahr Menschen­leben und führen regel­mässig zu grossen Sachschäden.

Der amtierende konservative Minister­präsident Mitsotakis hat das erkannt und den Umwelt­schutz prominent ins Zentrum seiner Politik gerückt. Myrivili verheimlicht nicht, dass sie das erstaunt hat – da für seine Partei das Anliegen bisher nie wichtig war. Dennoch gibt sie sich hoffnungsvoll. «Das kann man nur begrüssen. Hoffen wir, dass es ernst gemeint ist», sagt sie und drückt die Zigarette aus.

«Das bedeutet Enteignungen»

Skeptischer sieht man das bei der grünen Kleinst­partei Oikologoi Prasinoi (deutsch: Ökologen-Grüne). «Die Konservativen haben gegen aussen ein grünes Gesicht aufgesetzt. Was wir aber hier sehen, ist alles andere als ökologisch», sagt Dimitris Politopoulos, Co-Vorsitzender der Partei, im fünften Stock eines anonymen Büro­gebäudes. Das Festhalten an klima­schädlichen Energien und die geplante Förderung der Erdöl­vorkommen in der Ägäis würden eine andere Sprache sprechen.

Politopoulos sieht hinter der Hinwendung zu Klima­fragen andere Motive als den Umwelt­schutz. Denn mit grünen Programmen liessen sich gewichtige finanzielle Mittel in Brüssel abholen, und das wecke Begehrlichkeiten: «Leider geschieht letztlich das, was immer passiert: eine Konzentration der Gelder in den Händen einiger weniger.»

«Unsere Zeit kommt»: Dimitris Politopoulos von der grünen Partei Oikologoi Prasinoi.

Nepotismus und eine enge Verzahnung mit Oligarchen und grossen Unternehmen sind häufige Vorwürfe an die Nea Dimokratia. Den Ökologen-Grünen hat das bisher wenig geholfen. «In diesem Land fragen sich die Leute, wie sie ihre Familie durchbringen können», sagt Politopoulos. Die Jugend­arbeitslosigkeit beträgt über 35 Prozent, geschätzte 400’000 Menschen haben das Land seit 2010 verlassen. «Die Jungen suchen Jobs, die Alten haben mickrige Renten. Da steht Ökologie nicht hoch im Kurs.»

Dass ihnen die Nea Dimokratia die grüne Politik wegschnappt, ist natürlich ein Problem. Aber nicht ihr grösstes. Die Partei ist personell sehr dünn aufgestellt, bis auf ein paar Europa­parlamentarier und lokale Abgeordnete konnten sie kaum Leute in Ämter bringen. Aber, sagt Politopoulos: «Unsere Zeit kommt. Wir haben gute Chancen, nächstes Mal den Einzug ins Parlament zu schaffen.» Die Bündelung der grünen Kräfte im Land gehe voran, und er sieht auch ein gestiegenes Interesse in den heimischen Medien an seiner Partei: «Der Wahlerfolg der Grünen in Deutschland hat sicherlich dazu beigetragen.» Die richtungs­weisenden Bundestags­wahlen wurden auch in Griechenland aufmerksam beobachtet, trotz oder vielleicht gerade wegen des seit der Finanzkrise angespannten Verhältnisses mit Deutschland.

Wählerinnen gewinnen wollen die Oikologoi Prasinoi mit einer strategischen Neuausrichtung, die die Kombination von ökologischen mit wirtschaftlichen Themen vorsieht. «Wir haben in Griechenland rund 850’000 KMU. Ihnen wollen wir klarmachen: Die grüne Wirtschaft ist für euch eine Chance, die Umstellung auf nachhaltige Wirtschafts­modelle mittel­fristig profitabler.»

Das klingt noch nicht ganz ausgegoren, und im Partei­programm sind vor allem Forderungen nach mehr Arbeitnehmer­schutz und besseren Arbeits­bedingungen zu finden. Was nicht weiter verwundert, wurden doch diese während der Finanzkrise sukzessive abgebaut, um die griechische Wirtschaft wettbewerbs­fähiger zu machen, wie es die Rettungs­programme der EU forderten. Ob da ein Modell einer effektiven grünen Wirtschaft aufgebaut werden kann, erscheint zumindest fragwürdig.

Trotzdem: Auch für die Oikologoi Prasinoi ist die Hauptstadt die wichtigste Bühne. Wie anderswo ist grüne Politik in Griechenland vor allem in urbanen Regionen verankert. Die Forderungen ähneln dabei denen der Schwester­parteien in Europa: den öffentlichen Verkehr stärken, das Müllproblem in den Griff bekommen, die Bausubstanz modernisieren und die Strom­effizienz steigern – und vor allem viele Grün­flächen schaffen.

«Wer das durchziehen will, braucht viel Mut. Wir sprechen hier von Hunderten bis Tausenden Gebäuden, die in der Stadt abgerissen werden müssen, um Parks kreieren zu können. Das bedeutet Enteignungen», sagt Politopoulos. Und das wiederum koste Wähler­stimmen.

Über Myrivili und ihren Einfluss als Chief Heat Officer will Politopoulos kein Urteil abgeben, dafür sei es noch zu früh. Man kenne sie, und an ihren Fähigkeiten gebe es keine Zweifel. An ihrer Wirkung im politischen System aber schon. «Wir werden sehen, ob ihre Rolle nicht blosse Dekoration ist», sagt Politopoulos.

Der Hitze einen Namen geben

Kritiker sagen, mit Myrivili habe sich die Stadt bloss einen grünen Anstrich verpasst. Das weiss sie auch selbst. Aber in ihrer akademischen Laufbahn hat sie sich mit Klima­wandel und urbaner Resilienz auseinander­gesetzt – diese Chance jetzt nicht zu nutzen, wäre für sie keine Option gewesen, sagt sie. Das Kalkül ist, zumindest was den Werbe­effekt angeht, aufgegangen: Myrivili ist nach dem Katastrophen­sommer in Griechenland eine beliebte Ansprech­partnerin für inter­nationale Medien geworden.

Aber um eine echte Pionierin zu werden, braucht es mehr. Zunächst müsse den Leuten klar werden, dass die Hitze eine lautlose Killerin ist, so Myrivili. «Im Gegensatz zu anderen klimatischen Extremen ist sie nicht so gut sichtbar. Deswegen steht raising awareness zuoberst auf der Agenda.»

«Kein Zutritt – hier wird gearbeitet»: Der Nationalgarten soll versorgungs­technisch für die Zukunft gerüstet werden.
Helfen gegen die Hitze, aber nicht für eine vernünftige Energiebilanz: Ventilatoren in einem Café.
Am Omonia, einem der verkehrsreichsten Plätze in Athen.

Doch wie soll das Thema im Bewusstsein der Menschen ankommen?

Sie sei zusammen mit Universitäten und dem staatlichen meteorologischen Dienst daran, einen Namens­gebungs­prozess für Hitze­wellen zu schaffen, wie das bei anderen Wetter­ereignissen schon der Fall ist. Dass heute Wirbel­stürme, Orkane oder Tiefdruck­gebiete einen Namen tragen, beruht auf der Idee, dass so effektiver kommuniziert und eine bessere Kategorisierung vorgenommen werden kann.

Denn: Hitze ist nicht gleich Hitze. «Es kommt auf die Dauer an, auf den Zeitpunkt, die Wind­verhältnisse, die Feuchtigkeit. Das muss alles berücksichtigt werden», sagt Myrivili. Im nächsten Sommer sollen Hitze­wellen erstmals Namen bekommen.

Der zweite Punkt ist die Formulierung von spezifischen Protokollen, die bei eintretenden Hitze­wellen aktiviert werden können. Es gebe gute Erfahrungen mit Apps, die personalisierte Alarme an gefährdete Gruppen versendeten, sagt Myrivili – die Push-Nachrichten warnen zeitnah vor steigenden Temperaturen und geben Verhaltens­tipps. Gemeinde­angestellte sollen nach Obdachlosen und allein­stehenden Senioren schauen, klimatisierte Gebäude sollen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, Informations­anlässe für geflüchtete Menschen und Migrantinnen organisiert werden.

Vieles sei erst noch in der Entwicklung, gibt Myrivili zu. «Der wichtigste Schlüssel dazu heisst data-driven policy making. Aber das den Politikern zu verklickern, ist nicht so einfach.» Das Bereit­stellen von Statistiken soll aufzeigen, wie Hitze einen direkten Einfluss auf Unfälle und Todes­fälle hat – das sei das beste Argument, um Politiker zum Handeln zu bringen, glaubt sie.

Der dritte Punkt, den sie angehen will, ist zugleich der schwierigste.

Der Umbau von Athen.

Neue Insekten bringen neue Viren

Dabei ist die Schaffung von Parks am wichtigsten. Doch einzelne grüne Lungen reichen nicht – es braucht grüne und blaue Arterien, die kühlende Luft und kühlendes Wasser durch die Beton­schluchten der Metropole transportieren. Mehr als hundert Kilometer von Flussbetten sind im Grossraum Athen zugebaut, man müsse beginnen, sie freizulegen, sagt Myrivili. «Die wirken nicht nur kühlend, sondern können Regen absorbieren, der immer konzentrierter fällt und Schäden verursacht.»

Bis 2050 wird bei den Niederschlägen ein Rückgang von rund 12 Prozent erwartet – sie werden jedoch vermehrt in kürzerer Zeit fallen. Weniger also, aber heftiger.

Flora und Fauna in der Stadt verändern sich schon jetzt. Aufgrund der bereits gestiegenen Temperatur sind neue Insekten in der Stadt heimisch geworden. Und mit ihnen auch neue Viren: In den letzten Jahren wurden vermehrt Fälle von Dengue-Fieber und West-Nil-Virus-Infektionen vermeldet, die normaler­weise in deutlich wärmeren Gefilden vorkommen. Neue Parasiten greifen die Maulbeer­bäume an, die ein Viertel aller Strassen­bäume ausmachen. Myrivili zeigt auf welche, die vor dem Café stehen und die Strassen­seite säumen: «Wir müssen überlegen, ob diese Bäume in zwanzig, dreissig Jahren in Athen überhaupt noch überleben können.»

Die Frage des Lebens und Überlebens habe also mehrere Facetten, sagt Myrivili. Deshalb müsse auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit mit jedem Schritt verknüpft werden. Denn generell gelte in Athen: «Je höher das Einkommen, desto höher der Anteil Grünfläche, desto tiefer die Durchschnitts­temperatur im Stadtviertel.»

Wie grün kann eine Stadt umgebaut werden? Blick von der Hügelkette Tourkovounia.

Die Wirtschaftskrise hat grosse Teile der griechischen Mittel­klasse in die Armut abrutschen lassen: «Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht in einem dystopischen Szenario mit gated communities und Slums wiederfinden. Der nötige Umbau der Stadt ist auch eine Möglichkeit, die Lebens­qualität generell zu steigern.»

Myrivili hat sich eine weitere Zigarette gedreht, sie schaut auf die Strasse, wo seit Beginn des Gesprächs ununterbrochen Autos, Transport­fahrzeuge und Motor­räder durchfahren – der Lärm ist immens. «Wir müssen unbedingt den Verkehr in den Griff kriegen. Bringen wir einen Grossteil der Autos weg, lässt sich alles andere einfacher umsetzen.»

Die Pandemie als Anschub

Gemäss einer aktuellen Studie des Pew Research Center, die sich auf Umfragen aus dem Frühjahr 2021 bezieht, sind 87 Prozent aller Griechinnen über den Klima­wandel besorgt und darum bereit, ihren Lebensstil zu ändern. «Der Wert ist für Griechenland erstaunlich hoch. Aber er zeigt: Die Bevölkerung tickt progressiver als die Politik», sagt Myrivili. Natürlich müsse man auch berücksichtigen, dass das Land seit 2009 in einem permanenten Krisen­modus sei, das binde enorme finanzielle und politische Ressourcen, die bei scheinbar weniger akuten Problemen fehlen würden. Das müsse dringend korrigiert werden.

Myrivili erwähnt in diesem Zusammen­hang die Ernennung von Christos Stylianides zum Minister für die Klimakrise und den Bevölkerungs­schutz. Der frühere EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisen­schutz habe die nötigen Kompetenzen dafür, glaubt sie. Was aber wichtiger sei: Stylianides ist Zypriote. Dass er nicht in den alten Partei­strukturen verankert – und von ihnen abhängig – ist, sei eine grosse Chance. Es ist das erste Mal in der Geschichte der EU, dass ein Politiker eines anderen Landes als Minister eingesetzt wird. Auch hier: eine Ernennung mit Symbol­wirkung.

«Der Umbau muss jetzt beginnen, und zwar massiv», sagt Myrivili. Das werde zu heftigen Kämpfen führen. Dennoch führe nichts drumherum: «Athen muss eine andere Stadt werden.»

Zurück zu Vassiliki und Giannis Marinos. Sie sitzen auf ihrem Sofa, er spielt mit Sohn Christos. Vassiliki sagt: Ironischer­weise habe sich die Pandemie als Glück im Unglück erwiesen. In den letzten knapp zwei Jahren habe das Land bei der Digitalisierung riesige Fortschritte gemacht. Diese Fortschritte habe die Regierung schon vor der Pandemie angekündigt, aber damals hätten sie sich darüber lustig gemacht. «Wir kennen unsere vollmundigen Politiker zur Genüge.»

Griechenland ist sowohl bei der Netz­abdeckung als auch beim Internet­zugang unter den europäischen Schluss­lichtern, von digitalen Dienst­leistungen nicht zu sprechen. Dieses Mal blieben die versprochenen Pläne aber nicht in der Schublade stecken.

«Als die Feuer immer näher kamen, fühlten wir uns wie im Belagerungs­zustand»: Vassiliki und Giannis Marinos in ihrer Wohnung im Westen Athens.

Offensichtlich brauchte es eine Pandemie, um den aufgeblähten öffentlichen Sektor und die kafkaeske griechische Bürokratie zumindest ein wenig einzudämmen. Administrative Hürden, die die verhassten Behörden­gänge nötig machen, werden schrittweise abgebaut. Zahlreiche Verwaltungs­dienstleistungen können nun online erledigt werden. Das völlig undurchsichtige Steuer­system wird kontinuierlich vereinfacht. «Und das in Griechenland. Unglaublich!», sagt Vassilikis Mann Giannis. Sie seien zwar in vielen politischen Fragen mit der Regierung nicht einig, ergänzt sie. «Aber die Fortschritte auf dem Gebiet muss man anerkennen.»

Der sehr lange und strenge Lockdown in Griechenland hat der Regierung bei der Bewältigung von Katastrophen neue – und umstrittene – Instrumente in die Hand gegeben, die vorher undenkbar waren: So wurde während der grössten Hitzewelle die Homeoffice-Pflicht wieder eingeführt, während der herbstlichen Über­schwemmungen galt teilweise eine Ausgangs­sperre.

Damit sollten Gefahren an Leib und Leben minimiert werden, argumentierte die Regierung.

Und auch weitere Verbote wurden ausgesprochen: Während der höchsten Hitze­gefahrenstufe schlossen einzelne Gemeinden ausgerechnet ihre kühlenden Parks. Nicht zuletzt deshalb, weil es zu Brand­stiftungen kam.

Zum Autor

Giannis Mavris ist Journalist, unter anderem mit Fokus auf den Mittelmeer­raum und Politik­themen. Derzeit ist er vor allem beim mehr­sprachigen Medium «Swissinfo.ch» tätig. Zuvor hat er mehrere Jahre in Athen gelebt und gearbeitet. Mavris hat an der Uni Basel Europa­studien, Geschichte und Rechts­wissenschaften studiert.

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