Institute für nicht angewandte Wissenschaften

Wo wird mehr Wissen angehäuft und vermittelt als an Universitäten? Leider haben die Schweizer Hochschulen in der Pandemie damit nicht viel Schlaues angefangen.

Ein Essay von Michael Hagner, 13.12.2021

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In den Diskussionen um die Eindämmung der Covid-Pandemie ist die mögliche Rolle der Universitäten bislang wenig diskutiert worden. Das ist erstaunlich. Gewiss, epidemiologische und virologische Institute haben Hoch­konjunktur. In Deutschland sind Namen wie Melanie Brinkmann oder Christian Drosten inzwischen einer breiten Öffentlichkeit ein Begriff, weil sie sich als Experten regelmässig in den Medien zu Wort melden. In der Schweiz spielen Forscherinnen wie die Phylogenetikerin Emma Hodcroft oder Tanja Stadler, die Präsidentin der Covid-Science-Taskforce des Bundes, eine weniger öffentlichkeitswirksame, aber vergleichbare Rolle.

Darüber hinaus werden viele Corona-Patientinnen mit gravierenden Symptomen in Universitäts­spitälern ebenso wie in anderen Krankenhäusern mit entsprechender Ausstattung behandelt. Im Zuge dieser Therapien werden auch Daten und Informationen über das Verhalten der Viren im Organismus und die Krankheitsverläufe gesammelt und der Forschung zur Verfügung gestellt – ein Wissen, das angesichts der Neuartigkeit des Erregers und seiner Wandlungsfähigkeit von entscheidender Bedeutung ist.

Zum Autor

Michael Hagner ist Professor an der ETH Zürich und leitet den Lehrstuhl für Wissenschafts­forschung. Zuletzt ist von ihm erschienen «Foucaults Pendel und wir». Hagner ist promovierter Mediziner und Neurophysiologe. Bekannt wurde er durch seine Arbeiten zur Geschichte der Hirnforschung.

All diese Aktivitäten finden im Bereich der medizinischen Fakultäten statt, wo sie auch hingehören. Ansonsten jedoch haben Universitäten ähnlich wie andere Institutionen auf die Pandemie reagiert, um ihren Betrieb – also im Wesentlichen Forschung und Lehre – einigermassen aufrechtzuerhalten. Zu Beginn der Pandemie wurde das Campus-Leben von einem Tag auf den anderen auf null gestellt, die Lehre vom Hörsaal in digitale Medien verlegt und die Forschung auf Notbetrieb umgeschaltet.

Dann drehte sich das Rad eine Zeit lang wieder in die andere Richtung, bis die nächste Corona-Welle kam und alles abermals stillgelegt wurde. Die vorsichtigen Öffnungen dieses Jahres werden nun von Neuem massiv auf die Probe gestellt. Der Anpassungs­prozess hat nicht immer perfekt, aber dank des bewunderungswürdigen Einsatzes vieler Beteiligter im Grossen und Ganzen gut funktioniert.

Das heisst jedoch nicht, alles wäre gut. Die Defizite im Lehr- und Forschungs­betrieb sind nicht immer leicht zu beurteilen, aber sie sollten auf keinen Fall unterschätzt werden. Das gilt in noch höherem Masse für den beunruhigenden Anstieg psychischer Krankheiten bei Studenten, der als pathologischer Sekundäreffekt der Pandemie zu betrachten ist.

Ein hilfreicher Blick über den Atlantik

Angesichts dieser Situation stellt sich zwangsläufig die Frage, ob die Universitäten nicht wesentlich mehr tun könnten, um die Pandemie in ihren unterschiedlichen Facetten besser zu verstehen und Perspektiven für einen Ausweg aufzuzeigen. Immerhin sind sie diejenigen Institutionen, die die Gesellschaft sich leistet, um neues, belastbares Wissen über die Welt hervorzubringen, in der Lehre zu vermitteln und für die Gesellschaft nutzbar werden zu lassen.

Der Blick über den Atlantik hat in den vergangenen Jahren leider fast immer gezeigt, wie man es besser nicht machen sollte. Jetzt aber bieten einzelne amerikanische Universitäten ein anschauliches Beispiel dafür, wie Hochschulen ihrem Selbstverständnis und auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung entsprechen können. Die ehrwürdige Princeton University, zweifellos eine der renommiertesten Universitäten der Welt, praktiziert folgende Corona-Politik:

  • Angestellte und Studierende haben nur Zugang zum Princeton-Campus, wenn sie vollständig geimpft sind.

  • Falls eine Person aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden kann, ist sie verpflichtet, jeden Tag einen PCR-Test vorzunehmen (fünf Tage die Woche).

  • Vollständig geimpfte Angestellte der Universität haben einmal pro Woche, vollständig geimpfte Studierende zweimal pro Woche einen PCR-Test durchzuführen.

  • Impfungen und PCR-Tests erfolgen in Impfzentren auf dem Campus von Princeton, wo sich auch die übrige Bevölkerung testen und impfen lassen kann.

Ein entscheidendes Element dieser Praxis besteht darin, dass alle im Zusammenhang mit Corona erhobenen Daten auf der Website einsehbar sind. Diese Transparenz erlaubt es, das Infektions­geschehen im Wochen­rhythmus nachzuvollziehen und bei Veränderungen in die eine oder andere Richtung sofort mit Erleichterungen oder Verschärfungen der Corona-Massnahmen reagieren zu können.

Ein derartig konsequentes Corona-Management einer Universität mag hierzulande Unverständnis oder gar Irritationen hervorrufen, da unsere Strategie eher darin zu bestehen scheint, bis zum letzten Moment zu warten, bevor die notwendigen Schritte eingeleitet werden. Manchmal auch darüber hinaus. Es wird mit einer Vorstellung von Zeit(gewinn) operiert, die an ein Spiel mit dem Feuer erinnert. Sie wird flankiert von einem völlig vermurksten Freiheits­begriff, der es, wie kürzlich in der NZZ geschehen, ungerührt in Kauf nimmt, dass sich Bürgerinnen in Freiheit, Sturheit und Sauerstoffnot ins künstliche Koma versetzen lassen müssen, anstatt dieses Risiko unter einer demokratisch legitimierten oder wenigstens legitimierbaren Praxis namens Impfpflicht deutlich zu reduzieren.

Doch jenseits des vermuteten Abwehrreflexes gegen die Covid-Strategie einer amerikanischen Bildungs­institution, die für ein möglichst effektives Vorgehen ihre Mitglieder in die Pflicht nimmt, fragt sich auch, welche Vorteile damit verbunden sind. Würden sie nicht existieren, wäre der enorme Aufwand inklusive der damit verbundenen Zumutungen für Personal und Studenten nicht zu rechtfertigen. Tatsächlich sind in mindestens drei unterschiedlichen, wenn auch miteinander verbundenen Bereichen erhebliche Vorteile zu erkennen.

Erstens gewährleisten die Massnahmen, dass der Betrieb in Princeton weitgehend aufrechterhalten werden kann. Lehrveranstaltungen, Kolloquien, Vorträge und sonstige Treffen des Personals und der Studentinnen können stattfinden. Natürlich mag sich auch hier das Infektions­geschehen so weit ändern, dass die Lehre ins Netz verlegt und Homeoffice notwendig wird. Aber angesichts der hohen Impf- und Testraten ist das weniger wahrscheinlich, sodass für den Semester­betrieb eine grössere Planungs­sicherheit besteht, was wiederum für alle Beteiligten eine spürbare Entlastung bedeutet.

Zweitens ist die Verarbeitung und regelmässige Publikation der erhobenen Daten nicht nur, wie schon angedeutet, ein Zeichen von Transparenz gegenüber den Mitgliedern von Princeton. Es ist zugleich ein Beispiel für Open Data, die dem wissenschaftlichen Verständnis der Covid-Pandemie erheblich zugute kommen werden. Schon im Frühjahr 2020 hat die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston darauf hingewiesen, dass wir uns in einer ähnlichen Situation wie die Naturforscher des 17. Jahrhunderts befänden und es nun darauf ankomme, so viele Fakten, Daten und Informationen wie möglich zusammenzutragen.

In dieser Phase eines «Ground-Zero Empiricism» – so Dastons treffliche Formel für die Situation – befinden wir uns nach wie vor. Und angesichts der Omikron-Variante wieder krasser als vor vielleicht vier Monaten. Princeton leistet mit seiner Vorgehens­weise einen signifikanten Beitrag zu diesem unerlässlichen Empirismus, der mit einschliesst, dass Entscheidungen, die auf falschen Annahmen basieren, zurück­genommen werden, weil sie unnötig oder gar schädlich sind. Kurz gesagt: Das Zusammen­spiel von Empirie und Massnahmen ist dem experimentellen Gebot der Revidierbarkeit unterworfen, das eine wesentliche Grundlage der Wissenschaften darstellt.

Welche andere Institution als die Universität käme infrage, um solche Prozesse kompetent in Gang zu setzen?

Drittens kann man die konsequente und transparente Corona-Politik von Princeton als Vorbild für die gesamte Gesellschaft auffassen. Damit ist nicht gemeint, dass die dort gewählten Mittel mit einem Federstrich eins zu eins auf die Gesamtbevölkerung übertragen werden sollen – obwohl genau das in Europa in Kürze anstehen könnte. Es geht vielmehr darum, dass die Universität gerade in ihrem rationalen und allgemein nachvollziehbaren Umgang mit einer Ausnahme­situation ein Beispiel für eine zivil­gesellschaftliche Verhaltens­weise gibt: Alle Mitglieder der Universität lassen sich ungeachtet ihres Status in die Pflicht nehmen.

Wir leben in einer Zeit, in der das Vertrauen in die Wissenschaften und ihre Institutionen erheblichen Belastungen ausgesetzt ist. Auch aus diesem Grund ist es wünschenswert, dass Universitäten die Chance erhalten, eine Vorbild­funktion für andere gesellschaftliche Bereiche einzunehmen.

Es hat zahlreiche Debatten um das Verhältnis von Wissenschaft und Politik gegeben, die am Ende immer wieder zu dem Ergebnis gelangen, dass die Wissenschaften Wissen bereitstellen und mögliche Handlungs­szenarien entwerfen, während die demokratisch legitimierte Politik über die praktischen Konsequenzen zu befinden hat. Daran sollte nicht gerührt werden. Aber daraus folgt nicht, einer Institution im Kleinen zu untersagen, eine Strategie auszuprobieren, die der Gesundheit ihrer Mitglieder und der Aufrechterhaltung ihres Betriebs von grösstmöglichem Nutzen ist. Die Politik muss dann irgendwann die Frage beantworten, ob solche experimentellen Modelle auf die ganze Gesellschaft zu übertragen sind.

Was lief in der Schweiz schief?

Princeton ist eine private Universität, die zu den reichsten dieser Welt gehört. Als private Institution kann sie tun und lassen, was sie will, solange sie die Gesetze der USA beachtet. Abschliessend bleibt nun aber die Frage, was daraus für die Schweiz zu lernen ist, die keine privaten, sondern im Wesentlichen nur öffentlich finanzierte Universitäten beherbergt. Folgt daraus, dass das Princeton-Modell in der Eidgenossenschaft völlig undenkbar wäre? Nein, das ist es nicht, denn angesichts der vorzüglich organisierten, infrastrukturell und finanziell gut ausgestatteten Hochschulen hierzulande wäre es vielleicht nicht für jede, aber doch für einige Universitäten durchaus machbar, dem Beispiel Princetons zu folgen; natürlich mit lokal bedingten, spezifischen Modifikationen, aber das sind vergleichsweise Nebensächlichkeiten.

Sicherlich wäre es eine gute Idee gewesen, den Schweizer Universitäten schon zu Beginn der Pandemie die Möglichkeit zu eröffnen, autonom und in Abstimmung miteinander Corona-Massnahmen zu ergreifen, das dabei gewonnene Wissen aufzuarbeiten und der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Warum ist eine obligate Impfung für alle Mitglieder der Universität als Bedingung für die Arbeit auf dem Campus nicht längst eingeführt worden? Test­stationen gibt es ohnehin, Impf­stellen hätten ebenso eingerichtet werden können wie eine Website, auf der laufend die erhobenen Daten publiziert werden.

Dem Princeton-Beispiel folgend hätte man gewiss keine Zero-Covid-Situation, aber doch eine Reduktion der Infektionen bei konstanter Testung erreichen können. Und diese hätte dann einen geordneteren Alltags­betrieb erlaubt, was wiederum der psychischen Gesundheit der Studentinnen und auch des Personals zugute gekommen wäre. Abgesehen davon hätte sich die Schweiz in dieser Ausnahme­situation als eine Art Labor für Europa erweisen können, das die Bedeutung der Universitäten für den Unterhalt der sogenannten Wissens­gesellschaft ernst nimmt.

Die entscheidende Voraussetzung dafür wäre der politische Wille beim Bund und in den Kantonen. Daran scheint es zu hapern. Ist es die Furcht vor einer Preisgabe des Prinzips der Gleich­behandlung? Ist es die Angst davor, dass einzelne öffentlich finanzierte Institutionen sich einen privilegierten Zugang zu Impf­infrastrukturen verschaffen und sich die Freiheit herausnehmen, schärfere oder weniger scharfe Regeln bezüglich Impfstatus zu erlassen als andere Teile des öffentlichen Sektors in der Schweiz? Die Sorge um Ungleichbehandlung ist nicht recht plausibel, denn indem die Verantwortung an die Kantone delegiert wird, werden im Endeffekt ohnehin unterschiedliche Corona-Regeln in Kauf genommen. Auch am Beispiel der verschiedenen Bundes­länder in Deutschland lässt sich dieses absurde Schauspiel gerade besonders gut beobachten.

Es wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, um die Corona-Politik noch einmal von Grund auf zu revidieren. Die Infektions­zahlen steigen bei mutmasslich geringerer Testrate als beispielsweise in Österreich dramatisch an, die Spitäler füllen sich mit zumeist ungeimpften Corona-Patienten, die Omikron-Variante versetzt uns einmal mehr in eine empirische Ground-Zero-Situation, die dazu verpflichtet, so viel belastbare Daten und Erfahrungen wie möglich zusammenzutragen.

Die Universitäten steuern gerade auf das Ende des Semesters zu, sodass im Januar und Februar Zeit wäre, um die Voraussetzungen für Tests, Impfungen und die systematische Erhebung von Daten zu schaffen. All das käme einem geregelten Betrieb im Frühjahr zugute. Für alle Dozentinnen, aber auch für die Studenten wäre es eine grosse Erleichterung, wenn sie die Gewissheit hätten, dass diejenigen, mit denen sie Tag für Tag zu tun haben, vollständig geimpft sind und regelmässig getestet werden. Die Allgemeinheit wiederum würde zumindest indirekt von den neuen Kenntnissen profitieren.

Was spricht dagegen, dass die politischen Organe in sich gehen und denjenigen Institutionen, die sich der Lehre und Forschung widmen, auch die Freiheit einräumen, ihre dynamischen Formen des Umgangs mit Wissen und Nichtwissen an sich selbst auszuprobieren? Diese gelebte Expertise ist doch genau das, was eine Universität von anderen öffentlichen Institutionen unterscheidet, und daher sind die Hochschulen in dieser Situation anderen staatlichen Behörden nicht gleichzusetzen.

Gleichheit und Gleich­behandlung sind kostbare Tugenden, aber angesichts dieser Pandemie kann die vorübergehende Hinnahme von Differenz zur Erhaltung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität beitragen. Sicher mehr, als es eine angst­getriebene Nicht-Politik kann.

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