Briefing aus Bern

Hin und Her um Alters­vorsorge, Zoff um Impf­verträge – und noch ein Referendum gegen Steuer­senkungen

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (171).

Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler, Priscilla Imboden und Cinzia Venafro, 09.12.2021

Vor lauter Nachrichten den Überblick verloren? Jeden Donnerstag fassen wir für Sie das Wichtigste aus Parlament, Regierung und Verwaltung zusammen.

Kommen Sie an Bord, und abonnieren Sie unser wöchentliches «Briefing aus Bern»!

Einmal mehr versucht sich das Parlament an der Stabilisierung der Alters­vorsorge. Der National­rat hat diese Woche eine AHV-Reform beschlossen, die noch diesen Dezember vom Parlament fertig beraten werden soll.

Kernstücke bilden die Erhöhung des Frauen­renten­alters auf 65 sowie die Anhebung der Mehrwert­steuer um 0,4 Prozent­punkte. Damit soll die AHV bis 2030 gesichert werden. Streitpunkt: Wie sollen Frauen der Jahrgänge entschädigt werden, die nach geltendem Recht mit 64 Jahren in Rente gehen würden? Die grosse Kammer beschloss für neun Jahrgänge einen Renten­zuschlag zwischen 70 und 140 Franken pro Monat, wobei kleinere Einkommen höhere Zuschläge erhalten. Das bedeutet: Ein Drittel des Geldes, das durch die Reform eingespart wird, geht als Entschädigung an die Übergangsjahrgänge.

Ruth Humbel, die das Geschäft für die Mitte­partei betreut, zeigte sich auf Anfrage der Republik zufrieden: «Die Zeit ist reif, um das Renten­alter der Frauen zu erhöhen.» Es gebe keine Benachteiligung der Frauen bei der AHV, also der ersten Säule.

Anders ist es bei der zweiten Säule, der Pensions­kasse. Dort erhalten Frauen im Schnitt ein Drittel weniger Rente als Männer.

Auch bei der zweiten Säule hat der National­rat diese Woche Reform­schritte beschlossen. Bei dieser komplexen Vorlage geht es nicht nur um Einsparungen. Neu sollen auch kleinere Einkommen versichert werden. Hintergrund: Wer nur in einem tiefen Pensum arbeitet, wie es viele Frauen tun, erzielt heute oftmals ein Einkommen, das unter der Zugangs­schwelle für eine Pensions­kasse liegt.

In vielen Punkten speckte die grosse Kammer die bundes­rätliche Vorlage ab, die auf einem Kompromiss zwischen dem Arbeit­geber­verband und den Gewerkschaften beruht. Die Ratsmehrheit störte sich insbesondere an Massnahmen zur Umverteilung von den Erwerbs­tätigen zu den Rentnerinnen. FDP-National­rätin Regine Sauter erklärte im Rat: «Wie wollen Sie einer heute 30-jährigen Verkäuferin erklären, dass sie Zuschläge für heute gut situierte Rentner bezahlt, das ist nicht sozial.»

Antworten auf diese und andere Fragen können nun die Stände­räte suchen. Und das in aller Ruhe, denn die Reform der zweiten Säule kommt erst nächsten Sommer in die kleine Kammer.

Die grünliberale National­rätin Melanie Mettler findet die aktuelle Version einseitig. Sie versuchte vergeblich, die Erhöhung des Frauen­renten­alters an die Reform der zweiten Säule zu knüpfen. «Das hätte die AHV-Reform gestärkt und das Parlament verpflichtet, bei der zweiten Säule die Unter­versicherung der Frauen anzugehen. Ich zähle darauf, dass der Stände­rat als Zweitrat die Reform breiter abstützt.»

Das Referendum ist beiden Vorlagen allerdings bereits heute so gut wie sicher: «Diese einseitige Abbauvorlage werden wir bekämpfen», sagt SP-National­rätin Flavia Wasserfallen. Die bürgerliche Mehrheit habe die Reform laufend umgeschrieben und die Forderungen der Banken und des Pensionskassenverbandes ASIP erfolgreich durchgesetzt. Das nütze vor allem den Besser­verdienenden und der Versicherungsbranche.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Steuersenkungen: SP ergreift weiteres Referendum

Worum es geht: Vergangene Woche beschloss das Parlament, die Verrechnungs­steuer auf Obligationen abzuschaffen. Kosten­punkt laut Bundes­rat: 200 Millionen Franken jährlich, zu Beginn jedenfalls – laut Kritikerinnen könnte der Betrag steigen, da die Berechnungen auf dem aktuellen Tiefzins­niveau beruhen. Die SP kündigt unter anderem mit diesem Argument nun das Referendum an. Zudem sei die Anpassung ein Freipass für Steuer­kriminalität. Dies, weil die Verrechnungs­steuer als Anreiz dient, die Zinsen auf Vermögen dem Fiskus gegenüber wahrheits­getreu zu deklarieren – sie wird nach der Einreichung der Steuer­erklärung jeweils rückerstattet.

Warum Sie das wissen müssen: Hier findet eine weitere Episode statt in der ewigen Saga Kapital versus Arbeit. Aktuell sind mehrere Steuer­senkungs­projekte unterwegs. So hat das Parlament im September die Abschaffung der Industriezölle beschlossen. Kosten­punkt: eine halbe Milliarde Franken pro Jahr. Schon im Sommer hat das Parlament entschieden, die Stempel­steuer teilweise abzuschaffen, was Minder­einnahmen von 250 Millionen Franken in der Bundes­kasse bedeuten würde. Dagegen hat ein Komitee aus SP, Grünen und Gewerkschaften das Referendum ergriffen. Die bürgerliche Mehrheit im Parlament will mit den Steuer­senkungen den Finanz- und Industrie­standort entlasten, den Finanz­platz stärken und Wirtschafts­wachstum generieren. Die linke Gegnerschaft befürchtet, dass wegen der Entlastung des Kapitals die Lohn­arbeiter am Schluss die Zeche bezahlen.

Wie es weitergeht: Im Februar befindet die Stimm­bevölkerung über die Abschaffung der Stempel­steuer. Die bevorstehende Abstimmung hat dazu geführt, dass die bürgerliche Mehrheit im Parlament im Herbst ihre Abbau­pläne gemässigt hat. Über die Verrechnungs­steuer wird die Bevölkerung im nächsten Jahr befinden, sofern die SP genügend Unterschriften zusammenbringt.

Impfverträge: Parlament streitet über Offenlegung

Worum es geht: Eine Mehrheit aus SVP, SP und den Grünen votierte im National­rat dafür, dass die Verträge zwischen der Schweiz und Impfstoff­herstellern wie Moderna oder Pfizer offengelegt werden. Dagegen war neben der FDP auch die GLP. Werde bei diesen Verträgen das Öffentlichkeits­gesetz angewandt, bringe dies bei künftigen Impfstoff­beschaffungen grosse Nachteile, argumentierten die Gegnerinnen, die diese Woche im Ständerat eine Mehrheit fanden.

Warum Sie das wissen müssen: Impfstoff ist ein grosses Geschäft, und die Kauf­verträge sind ein grosses Geheimnis. Die Pharma­branche will, dass das so bleibt. Würden die Vereinbarungen bekannt, wäre das eine Missachtung der sogenannten Vertrags­treue. Nach einer Offenlegung wäre die Schweiz kein «vertrauens­würdiger Partner im internationalen Umfeld» mehr, so der Verband der forschenden Pharma­unternehmer. Im Stöckli wehrte sich eine Mehrheit aus FDP und Mitte gegen Transparenz. Auch SP-Ständerat Paul Rechsteiner äusserte sich dagegen: Nach Ansicht des Juristen wäre die Offenlegung «dazu geeignet, gröberen Schaden herbeizuführen, weil sich die Schweiz dann nicht mehr in derselben Position bezüglich der Impfstoffe befindet, in der sie bis heute war».

Wie es weitergeht: Der National­rat beharrte gestern auf seiner Forderung, die Verträge offenzulegen. Somit geht die Differenz­bereinigung im Stöckli weiter. Kommen die beiden Räte zu keinem Ergebnis, muss eine Einigungs­konferenz darüber entscheiden. Im Ausland sorgten geleakte Verträge bereits für grosses Aufsehen. So fanden im Sommer die Geheim­verträge zwischen Pfizer und Albanien sowie Brasilien den Weg an die Öffentlichkeit.

Asyl: Auslands­reisen für vorläufig Aufgenommene verboten

Worum es geht: Der Nationalrat ist auf die Linie des Stände­rats eingeschwenkt und hat sich ebenfalls für neue Reise­restriktionen für vorläufig Aufgenommene entschieden. Ursprünglich wollte die grosse Kammer nur Reisen ins Heimat­land verbieten. Die beiden Räte weiteten das Verbot nun aber auf den Schengen-Raum aus – was einer eigentlichen Reise­sperre gleichkommt. Gelockert werden hingegen die Bedingungen für einen Kantons­wechsel: Vorläufig Aufgenommene sollen dadurch einfacher Jobs oder Ausbildungs­plätze finden.

Warum Sie das wissen müssen: Die Frage, inwiefern geflüchteten Personen Reisen ins Ausland erlaubt sind, ist umstritten. Die beiden Parlaments­kammern haben lange um die Revision des Ausländer- und Integrations­gesetzes gerungen. Das nun beschlossene Verbot geht auf eine Motion aus dem Jahr 2015 des heutigen Mitte-Präsidenten Gerhard Pfister zurück. Er wollte, dass eine vorläufige Aufnahme nach einer unerlaubten Heimat­reise erlischt – ansonsten sei die Glaub­würdigkeit des Asyl­systems infrage gestellt. Doch das Parlament geht mit der neuen Regelung viel weiter, denn dadurch werden auch Zusammen­künfte von Familien­mitgliedern erschwert, die in verschiedene Schengen-Staaten geflüchtet sind.

Wie es weitergeht: Das Gesetz ist bereit für die Schluss­abstimmung am Ende dieser Winter­session. Die Schweizer Flüchtlings­hilfe kritisiert, das Reise­verbot sei unvereinbar mit den Grund­rechten, etwa der Bewegungs­freiheit und dem Recht auf Familien­leben. Auch das Flüchtlings­hilfswerk der Vereinten Nationen fordert den Bundesrat nun auf, in den Ausführungs­bestimmungen keine weiteren Einschränkungen vorzunehmen. Beide Organisationen verlangen, dass das Staats­sekretariat für Migration den verbleibenden Spielraum auf Verordnungs­ebene nutzt, um dringenden Fällen Auslands­reisen erlauben zu können.

Gentechnik-Moratorium: Ständerat will Ausnahme

Worum es geht: Nach dem Willen des Stände­rats sollen gentechnisch veränderte Organismen, denen keine artfremde DNA eingefügt wurde, von der Verlängerung des Gentech­moratoriums bis Ende 2025 ausgenommen werden.

Warum Sie das wissen müssen: Seit der Annahme einer Volks­initiative 2005 dürfen gentechnisch veränderte Organismen in der Schweiz bloss zu Forschungs­zwecken angebaut werden. Im Grundsatz sind sich National- und Ständerat einig, das Gentech­moratorium nun ein viertes Mal um vier Jahre zu verlängern. Die kleine Kammer will allerdings eine Ausnahme: Hauchdünn mit 21 zu 21 Stimmen und Stich­entscheid von Rats­präsident Thomas Hefti (FDP) sprach sie sich dafür aus, den Einsatz der Genschere Crispr/CAS9 zuzulassen. Bundes­rätin Simonetta Sommaruga warnte vergeblich, die Risiken der Methode seien noch zu wenig bekannt. Für die Ausnahme hatte sich im Vorfeld der Parlaments­debatte der neue Verein «Sorten für morgen» starkgemacht, dem die Grossverteiler Migros und Coop, die Agrar­genossenschaft Fenaco sowie die Verbände der Obst-, Gemüse- und Kartoffel­produzenten angehören. Forscherinnen der ETH wollen zuletzt erkannt haben, dass die Bevölkerung Gentechnik zunehmend akzeptiere.

Wie es weitergeht: Der Nationalrat, der im September sehr deutlich für eine weitere Verlängerung des Moratoriums gestimmt hatte, wird in der Frühlings­session erneut über das Gentechnik­gesetz beraten. Angesichts der klaren Stimmen­verhältnisse bei der ersten Debatte würde es überraschen, wenn er im März eine Ausnahme für die Genschere Crispr/CAS9 vorsähe.

Medienförderung: Befürworter lancieren Kampagne

Worum es geht: Zwei Monate vor der Abstimmung über den Ausbau der staatlichen Medienförderung haben die Befürworterinnen ihre Argumente präsentiert. Für ein Ja warben sowohl Bundes­rätin Simonetta Sommaruga als auch ein Komitee mit Vertretern aller Parteien mit Ausnahme der SVP.

Warum Sie das wissen müssen: Im Juni hat das Parlament beschlossen, die unter einer strukturellen Finanzierungs­krise leidenden privaten Medien stärker zu unterstützen. Gedruckten Zeitungen und Zeitschriften sollen durch eine Zustell­ermässigung künftig insgesamt 120 Millionen Franken pro Jahr zugute­kommen und Online­medien mit 30 Millionen gefördert werden. Dagegen sammelten sowohl die «Freunde der Verfassung» als auch der Verein «Nein zu staatlich finanzierten Medien» erfolgreich Unterschriften. Nun haben die Befürworter den Abstimmungs­kampf eröffnet. Medien­ministerin Sommaruga sagt über das Förder­paket: «Es sorgt dafür, dass auch in Zukunft über alle Regionen des Landes berichtet wird.» An einer weiteren Medien­konferenz präsentierten Parlamentarierinnen von den Grünen bis zur FDP ihre Inserate­kampagne: eine Illustration, auf der Wilhelm Tell mit einer Schweizer Zeitung eine Mauer aus Fake News zerschlägt. Insgesamt werben rund 90 Parlamentarier für ein Ja.

Wie es weitergeht: Eine Prognose über den Ausgang der Abstimmung ist schwierig. Die Kantonal­präsidenten der FDP haben die Nein-Parole gefasst, ebenso der Wirtschafts­dachverband Economie­suisse. Bei den meisten anderen Parteien steht die Parolen­fassung noch bevor, wobei die Zeichen bei der GLP und der Mitte auf ein Ja hindeuten und dieses bei den Grünen und der SP als sicher gilt.

Konzernverantwortungs­initiative: Nur eine «Alibi­übung»? Gegenvorschlag tritt in Kraft

Worum es geht: Der Bundesrat hat neue Bestimmungen «für besseren Schutz von Mensch und Umwelt» auf Anfang 2022 in Kraft gesetzt. Es handelt sich dabei um den überarbeiteten, indirekten Gegenvorschlag zur Konzern­verantwortungs­initiative. Grosse Schweizer Unternehmen müssen künftig ihre Bemühungen für Umwelt­schutz und Menschen­rechte sowie gegen Korruption und Kinder­arbeit dokumentieren. Für Schäden haften müssen sie allerdings nicht.

Warum Sie das wissen müssen: Die Konzern­verantwortungs­initiative scheiterte vor einem Jahr nur am Stände­mehr. Mit der Stimmen­mehrheit im Rücken forderten die Initiativ­befürworterinnen in der Vernehmlassung für die Umsetzung des Gegen­vorschlags griffige Regelungen. Was der Bundes­rat nun beschlossen hat, ist für sie aber eine «Alibi­übung» mit viel zu vielen Ausnahmen: «Diese Regulierung wird Kinder­arbeit nicht verringern.» Wirtschafts­nahe Kreise hatten gewarnt, strenge Vorschriften könnten Klein- und Mittel­betrieben (KMU) Probleme machen; diesen Bedenken hat die Regierung Rechnung getragen. Auch grössere Betriebe müssen allfällige Kinder­arbeit nicht über die gesamte Lieferkette im Blick haben, sondern nur im Herkunfts­land eines Endprodukts – es sei denn, es handle sich um «krasse Fälle, die ins Auge springen».

Wie es weitergeht: Das Gesetz gibt den Firmen ein Jahr Übergangs­zeit. Die neuen Regeln gelten also erst ab dem Geschäftsjahr 2023. Die Schweiz könnte aber schon bald unter Druck aus dem Ausland kommen. Die EU arbeitet an einer neuen Richt­linie zur Unternehmens­verantwortung, die von der Schweiz dereinst wohl übernommen werden muss: nicht nur, weil der Bundes­rat im Abstimmungs­kampf zur Konzern­verantwortungs­initiative stets eine «EU-kompatible» Lösung versprochen hatte, sondern auch, weil der Markt­zugang für Schweizer Unternehmen an die Einhaltung von EU-Standards gekoppelt ist.

Staatsträger der Woche

Am Mittwoch hat das Parlament Ignazio Cassis zum Bundes­präsidenten gewählt. Damit wird die Schweiz mit einem Arzt an der Regierungs­spitze ins dritte Pandemie­jahr gehen. Cassis erhielt von der vereinigten Bundes­versammlung 156 von 197 gültigen Stimmen. So viele Gegen­stimmen erfahren in der Regel: Frauen und Linke. Doch als der Tessiner FDP-Vertreter bei der Medien­konferenz am Mittwoch­nachmittag von einer Journalistin auf sein «nicht gerade berauschendes Resultat» angesprochen wurde, zeigte er sich mit dem Ergebnis «sehr zufrieden». Die Journalistin bohrte nach: Er lande doch auch bei Umfragen auf dem letzten Platz, ob er denn nicht an seinem Image arbeiten möchte. Da wurde Cassis ernst und staats­tragend: «Ich bin mir lieber selbst treu, meinen Werten und meiner Linie, als populär sein zu wollen.» Salopp wirkte Cassis hingegen, als er betonte, im problem­beladenen EU-Dossier gebe es halt keine «fixfertige magische Lösung à la Harry Potter». Wer will schon einen Zauber­lehrling als Bundes­präsidenten? Lieber einen Arzt, der sich nicht vor unpopulären Massnahmen scheut. Buon successo, Presidente della Confederazione!

Illustration: Till Lauer

Die Republik bietet nicht nur Überblick, sondern auch Tiefblick: mit Recherchen, Analysen und Reportagen zur aktuellen Tagespolitik. Jetzt 21 Tage kostenlos Probe lesen: