Was das 1,8-Grad-Versprechen wert ist
Welche Wirkung haben die Beschlüsse der Klimakonferenz in Glasgow auf die Erderwärmung? Die neusten Prognosen.
Von Elia Blülle, 06.12.2021
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Der Chef der Internationalen Energieagentur wagte an der Klimakonferenz in Glasgow eine mutige Prognose. «Alle bisher angekündigten Klimaversprechen reichen aus, um den globalen Temperaturanstieg bis 2100 auf 1,8 Grad Celsius zu begrenzen», sagte Fatih Birol.
Das löste in Glasgow Euphorie aus. Hoffnungsvolle Schlagzeilen folgten: «Ankündigungen auf Klimakonferenz führen zu 1,8 Grad Erderwärmung», titelte etwa die Schweizerische Depeschenagentur (SDA).
Eine durchschnittliche Erderwärmung um 1,8 Grad Celsius hätte immer noch drastische Folgen für Mensch und Natur. Aber mit diesem Emissionspfad käme die Politik nahe an die Ziele des Pariser Klimaabkommens, näher, als es bisher selbst Optimistinnen erwartet hätten. Ein erheblicher Fortschritt sind 1,8 Grad Celsius auch, wenn man bedenkt, dass sich die Welt vor dem Pariser Klimaabkommen auf einem 3,6- bis 4,7-Grad-Erwärmungs-Pfad befand.
Doch kaum waren die Schätzungen veröffentlicht, kamen Zweifel auf an ihrer Plausibilität: Sind die Erwärmungsprognosen zu schön, um wahr zu sein?
Dazu muss man wissen: Die Internationale Energieagentur (IEA) wurde nach der Ölkrise 1973 als Aufsichtsbehörde gegründet, um sicherzustellen, dass die Industrieländer Zugang zu bezahlbaren und zuverlässigen Energiequellen haben. Sie stand immer wieder im Verdacht, die Klimakrise zu beschönigen.
Nach Jahren der Zurückhaltung positionierte sich die Agentur dieses Jahr in der Klimafrage aber eindeutig: Sie forderte Investoren dazu auf, kein Geld mehr in Kohle-, Öl- und Gasprojekte zu stecken, damit das 1,5-Grad-Ziel aus dem Pariser Klimaabkommen geschafft werden kann.
Aufgrund der zwiespältigen Historie reagierten diverse Klimaaktivistinnen und Wissenschaftler jedoch mit Skepsis, als die IEA an der Klimakonferenz plötzlich von einem «grossen Fortschritt» sprach und die 1,8-Grad-Prognose gemeinsam mit der britischen Regierung als Erfolg feierte.
Doch die Skepsis ist zumindest in einer Hinsicht nicht berechtigt: bezüglich der naturwissenschaftlichen Grundlagen, auf denen die Prognose beruht.
Die fünf Emissionspfade
Es gibt neben jenen der IEA weitere Schätzungen darüber, wie sich die Klimapolitik temperaturmässig auswirkt. Eine davon stammt von Climate Action Tracker, einem wissenschaftlichen Konsortium, bestehend aus unterschiedlichen Organisationen. Es hat nach der Klimakonferenz in Glasgow eine neue Analyse veröffentlicht.
Wie die Internationale Energieagentur schätzt auch Climate Action Tracker die Erderwärmung auf 1,8 Grad Celsius bis 2100 – zumindest in einem von fünf möglichen Szenarien, die das Konsortium durchgerechnet hat.
Fünf Varianten, aber nur eine führt zum Ziel
Treibhausgasemissionen in verschiedenen Szenarien
Aktuelle Politik sowie Klimazusagen bis 2030: Hier ist im Original eine Bandbreite angegeben statt einer Linie. Temperaturvergleich gegenüber der vorindustriellen Zeit. Quelle: Climate Action Tracker.
Der Haken: Für dieses optimistische Szenario müssten alle am Pariser Abkommen beteiligten Länder sämtliche abgegebenen Versprechen zur Reduktion von Treibhausgasemissionen sowie weitere angekündigte, aber international nicht bindende Netto-null-Ziele vollständig erfüllen. Gerade die Letzteren fallen häufig vage aus. Die Glaubwürdigkeit von vielen Netto-null-Versprechen (wie auch der Bundesrat für 2050 eines abgegeben hat) sei fragwürdig, schreibt Climate Action Tracker.
Realistischer sind momentan deshalb die anderen Szenarien. Diese nehmen noch nicht alle Versprechen der Staaten zum Nennwert, sondern beziehen nur jene Ankündigungen mit ein, die bindenden Charakter haben.
Szenario mit den Klimazusagen bis 2050: Wenn alle Länder ihre Klimazusagen bis 2030 (NDC) sowie ihre Langzeitstrategien bis 2050 (LTS) einhalten, würde sich die Erde bis 2100 im Durchschnitt um 2,1 Grad Celsius erwärmen. Bisher haben nur wenige Länder eine Langzeitstrategie mit einem Netto-null-Ziel und entsprechendem Absenkpfad der Uno vorgelegt. Dieses Szenario enthält daher ebenfalls noch eine gehörige Portion Optimismus.
Szenario mit den Klimazusagen bis 2030: Dieses etwas realistischere Szenario beruht auf den Plänen (NDC), die gemäss Pariser Klimaabkommen alle fünf Jahre vorgelegt werden. Die Staaten erklären darin, wie sie ihre Emissionen bis 2030 zu senken gedenken. Im Vorfeld von Glasgow haben diverse Länder neue oder überarbeitete Ziele eingereicht. Setzen sie ihre Zusagen vollständig um und führen sie ihre Klimapolitik danach weiter, so dürfte sich eine Erwärmung von 2,4 Grad Celsius einstellen.
Damit sind wir nicht mehr weit vom Szenario mit dem aktuellen Emissionspfad entfernt. Halten die Staaten nämlich an ihrer momentanen Klimapolitik ohne merkliche Verschärfungen fest, dann erwärmt sich die Erde bis 2100 um 2,7 Grad Celsius. Diese Schätzung beruht auf den derzeit implementierten nationalen Massnahmen und Regulierungen.
Übereinstimmende Berechnungen
Neben Climate Action Tracker und der Internationalen Energieagentur haben auch die Vereinten Nationen Berechnungen zur Temperaturerwärmung publiziert (im letzten Emissions Gap Report). Trotz unterschiedlicher Methoden kommen sie zu ähnlichen oder identischen Prognosen.
Die Prognosen zur Erderwärmung stimmen überein
Geschätzter Temperaturanstieg bis 2100
Quelle: Climate Action Tracker, IEA, Uno.
Unter der gegenwärtigen Politik dürfte die globale Durchschnittstemperatur bis 2100 um 2,7 bis 3 Grad Celsius ansteigen.
Die neuen nationalen Klimazusagen (NDC) verbessern die Ausgangslage, doch die Erde würde sich immer noch um weit über 2 Grad Celsius erwärmen.
Im optimistischen Szenario erwärmt sich die Erde in den nächsten 80 Jahren auf etwa 2 Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit.
Die Wissenschaftlerinnen von Climate Action Tracker sprechen angesichts dieser Diskrepanz auch von einer «Glaubwürdigkeitslücke». Ziel wäre es, diese Lücke zu schliessen, also die Emissionspfade der gegenwärtigen und der versprochenen Politik so rasch wie möglich zusammenzubringen.
Aber selbst wenn das gelingt, braucht es noch grössere Anstrengungen. Denn selbst im optimistischen Szenario wird das 1,5-Grad-Ziel nicht erreicht.
Jedes Zehntelgrad zählt
Was das bedeuten würde, hat ein viel beachteter Sonderbericht des Weltklimarats vor drei Jahren aufgezeigt. So dürften bei einer Erderwärmung um 2 Grad Celsius doppelt bis dreimal so viele Pflanzen, Insekten und Wirbeltiere ihren Lebensraum verlieren wie bei 1,5 Grad. Die Fischpopulation würde halbiert. Extreme Hitzetage wären bedeutend heftiger und häufiger. Es würden vorwiegend in den Entwicklungsländern mehr Armut und mehr Krankheiten drohen, und es käme vermehrt zu Nahrungsmittelknappheit.
Deswegen haben die Teilnehmer an der jüngsten Klimakonferenz das 1,5-Grad-Ziel bekräftigt. Die Vertragsparteien müssen anders als vorgesehen nun bereits im nächsten Jahr neue Zusagen vorlegen. Der Abschlusstext von Glasgow hat zudem erstmals anerkannt, dass die Auswirkungen der Klimaerwärmung bei 1,5 Grad Celsius «viel geringer» sein würden als bei einer Erwärmung um 2 Grad. Dies verlangt im Gegenzug rasches Handeln.
Mit der Erwärmung geht es sehr schnell. Laut dem sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarats dürfte sich die Welt bis in gut zehn Jahren bereits um 1,5 Grad im Vergleich zur Zeit vor der Industrialisierung erwärmt haben.
Kommt hinzu: Alle hier besprochenen Prognosen sind mit beträchtlichen Unsicherheiten behaftet. Ein Grund mehr, das 1,5-Grad-Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Denn je nachdem, wie das Klimasystem in den nächsten Jahren auf die Emissionen reagiert, könnten die Temperaturen plötzlich schneller steigen als erwartet. Treten zum Beispiel unerwartete Rückkopplungen wie etwa grossflächige Waldbrände auf, würde das die Klimaerwärmung beschleunigen. Ob, wann und in welchem Ausmass solche Rückkopplungen auftreten, ist aber für Forscherinnen schwierig vorherzusehen.
Schliesslich gibt es noch folgendes Problem: Der Planet erwärmt sich grundsätzlich so lange, bis die Treibhausgasemissionen netto null erreicht haben und der Atmosphäre zusätzliches CO₂ entzogen wird. Sowohl die derzeitigen Massnahmen als auch die nationalen Klimazusagen führen die Welt in diesem Jahrhundert aber noch nicht zu netto null Emissionen. Es droht also eine Erwärmung über das Jahr 2100 hinaus.
Und spätestens an dieser Stelle taucht wieder die Skepsis auf, mit der wir die Temperaturprognosen betrachten müssen. Denn ohne baldige und drastische Massnahmen rückt nicht nur das optimistische Szenario in weite Ferne – dann wird auch das Pariser Klimaziel sehr bald sterben.
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