Binswanger

Wann springt der Götterfunke?

Die Schweizer Europapolitik bleibt blockiert. Der Nationalrat wollte keine Geste des guten Willens machen. Doch die politischen Kräfte reorganisieren sich. Auf völlig neue Weise.

Von Daniel Binswanger, 04.12.2021

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Eine Überraschung kann man es nicht nennen: Am Mittwoch versenkte der National­rat den Vorschlag der Aussen­politischen Kommission, der EU über die nächsten zehn Jahre eine zusätzliche Kohäsions­milliarde auszuzahlen. Im Gegenzug, so die Hoffnung, sollte die Eidgenossenschaft weiterhin am EU-Forschungs­programm «Horizon Europe» teilnehmen können, das für den Standort Schweiz strategisch wichtig ist.

Die Schweizer Aussen­politik befindet sich seit dem Abbruch der Gespräche über das Rahmen­abkommen mit Brüssel in einem kaum je da gewesenen Blindflug. Lösungs­ansätze? Es will sich nicht einmal der Eindruck einstellen, dass die eidgenössischen Räte daran ein brennendes Interesse hätten – oder wenn, dann nur eine parlamentarische Minderheit.

Lieber halten bürgerliche Politiker weiter markige Reden über Grundsätze der nationalen Souveränität und der nicht dynamischen Rechts­entwicklung. Und bekräftigen, um die Sache abzurunden, in Brüssel würden «Bürokraten», «Jakobiner» und «Ideologen» das Zepter führen. Die Ideologen, die Verbohrten, die Akteurinnen ohne Sinn fürs Mögliche sind selbst­verständlich nur in Brüssel zu finden, in seiner Furcht einflössenden Monster­bürokratie. Dass wir es waren, die den Verhandlungs­tisch verliessen, die sehr hypothetische Drohungen wie die Unions­bürgerschaft zum Casus Belli stilisierten, die erstaunlich grosszügige Möglichkeiten zum Opt-out vom EU-Recht als ungenügend betrachten – das alles steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Offenbar grassieren bemerkens­werte Formen des Realitäts­verlustes momentan nicht nur bei den Impf­gegnern, die vor dem Bundes­haus Radau machen, sondern auch innerhalb der Wandel­halle im Parlament. Voraus­planen, pragmatische Initiativen ergreifen, den Weg einer Deblockierung suchen? Nicht mit diesem Parlament! Schuld sind schliesslich die anderen.

Natürlich müssen in dieser angespannten Situation auch die Medien ihr Bestes tun, um die Rollen­verteilung zwischen jakobinischen Brüsseler Ideologen und Eidgenossinnen guten Willens immer aufs Neue zu bestätigen. Bei einem einordnenden «Tagesschau»-Interview mit SP-Nationalrat Eric Nussbaumer sprach der Journalist Urs Leuthard sofort das Zauber­wort aus, das jede weitere Diskussion eigentlich erübrigt hätte: Ob Nussbaumer als «bekennender Euroturbo» nicht akzeptieren müsse, dass es weder im Bundesrat noch im Parlament noch im Volk eine Mehrheit gebe für eine weitere Annäherung an die EU. Was bitte schön versteht ein Euroturbo von der helvetischen Realität?

Auch die NZZ kommt selbst­redend sofort zum Schluss, die Aussen­politische Kommission des National­rats scheine «abseits der politischen Realität zu planen». Immerhin versuchen es die Kollegen von der Falken­strasse mit vergleichs­weise schon fast subtiler Psychologie: Das Problem sei wohl nicht zuletzt die personelle Besetzung der Kommission, bestehend aus der «Europa­enthusiastin» Christa Markwalder (Schweizer Qualitäts­journalismus, das ist, wenn man für «Euroturbo» ein gediegeneres Substitut nimmt), dem «Meinungs­enthusiasten» Hans-Peter Portmann (was immer das bedeutet) und der Basel­bieterin Elisabeth Schneider-Schneiter, die ständig wirke, als wolle sie «ihre Heimat über die Grenzen hinaus öffnen». Die immerhin als «grosses Trauma der Schweizer Politik» anerkannte Europa­frage hat aus Sicht der NZZ schlicht und einfach zu psychischen Schäden beim politischen Personal geführt: Anders lässt sich die delirierende Idee eines Entgegen­kommens gegenüber Brüssel offenbar nicht erklären.

Ob sich die Europafrage in Wohl­gefallen auflösen würde, wenn die Aussen­politische Kommission nur endlich in den Genuss einer professionellen Gruppen­therapie kommen könnte?

Natürlich gäbe es auch gute Gründe, darüber zu streiten, ob die zusätzlichen Gelder in Brüssel sehr viel ausrichten würden. Ganz falsch dürfte eine Geste des guten Willens nach dem einseitigen Abbruch der Gespräche und bei der Inexistenz eines glaub­würdigen alternativen Fortsetzungs­plans allerdings nicht sein. Die Grund­analyse der Aussen­politischen Kommission – nämlich dass es jetzt eine Blockade sowohl im Bereich der Kooperation mit der EU als auch im Bereich des künftigen Zugangs zum EU-Binnen­markt gibt und dass wenigstens die Kooperation wieder in Gang gebracht werden muss, solange bei der langfristigen Sicherung des Markt­zugangs die Hürden unüberwindbar bleiben – ist eigentlich von schlagender Schlichtheit. Kaum das «Realitäts­fernste», was in der Schweizer Europa­politik gerade so herum­geboten wird.

Die traditionellen Mitteparteien, bis anhin die eigentlichen Trägerinnen einer zwar immer vorsichtigen, aber pragmatisch den eigenen Vorteil suchenden Handels­diplomatie, haben ihre historische Mission jedoch offensichtlich aufgegeben: Gerade noch vier Ja-Stimmen konnte die «Mitte» für das Vorhaben einer zusätzlichen Kohäsions­milliarde mobilisieren. Vier!

Das ist nicht mehr eine Partei­spaltung, das ist quasi geschlossene Fahnen­flucht. Martin Landolt zum Beispiel hat sich als BDP-Präsident im Nationalrats­wahlkampf 2019 noch als leidenschaftlicher Verteidiger eines Abkommens mit der EU und als Kampf­gefährte der Operation Libero zu profilieren versucht. Zwei Jahre später ist Landolt nur noch Wasser­träger einer kompasslosen Pfister-Mitte. Die Zusatz­milliarde lehnte Landolt ab. Genau wie der Chef.

Nur etwas kann man der schlingernden «Mitte» zugutehalten: Bei der FDP ist der Paradigmen­wechsel noch brutaler. Der Freisinn mobilisierte noch exakt eine einzige Stimme für die Zusatz-Kohäsions­milliarde: die «Euro­enthusiastin» Markwalder. Das wars.

Ansonsten marschieren unsere Liberalen, unter Führung des deklarierten Insta-Gegners Thierry Burkart, im Gleichschritt mit der SVP. Der Bilateralismus wurde aus einer pragmatischen, wirtschafts­nahen, bürgerlichen Mitte heraus ausgehandelt und durchgesetzt. Er verband die Interessen der Export­wirtschaft mit einem grossartigen sozial­partnerschaftlichen Pakt. Dafür gibt es momentan in der Schweiz gar keine tragfähige politische Basis mehr. Die bürgerliche Mitte ist weggebrochen.

Wer die Krise des Bilateralismus verstehen will, muss nicht primär nach Brüssel blicken – auch wenn die zunehmende Grösse und Rigidität der Gegen­partei sicherlich ein Teil des Problems ist. Die entscheidende Ideologisierung hat sich in Bern vollzogen.

Es gibt allerdings auch gute Nachrichten: Zum einen konsolidieren sich die Grün­liberalen als proeuropäische, auch zu einer konstruktiven Zusammen­arbeit mit der Linken fähige Kraft. Sie treten an die Stelle der dereinst progressiven FDP, und der Freisinn – auch dies ein unergründliches Polit­mysterium – scheint weder fähig noch gewillt, sich irgendwie dagegen zu wehren.

Die Rechnung dürfte ziemlich einfach sein: Wenn die FDP und die Mitte auf je um 12 Prozent geschrumpft sind – und gemeinsam mit der SVP die 50 Prozent nicht mehr überschreiten –, wird eine pragmatische Europa­politik wieder eine Realität werden können. Die Konturen einer neuen Koalition der Vernunft beginnen sich zu profilieren. In zwei Jahren könnte es noch nicht so weit sein. Aber in sechs?

Zum anderen ist mit der Abstimmung über die Zusatz­milliarde etwas ganz Entscheidendes geschehen: Die Linke hat einen ersten wichtigen Schritt gemacht, um die Reihen zu schliessen. Dass sämtliche SP-National­räte für die Verdoppelung der Kohäsions­zahlung gestimmt haben, erscheint bemerkens­wert. Es ist ja weiss Gott nicht so, als würde es an linken euroskeptischen Kräften fehlen. Die aktuelle Blockade mit Brüssel gründet auch darin, dass die Sozial­demokraten im entscheidenden Augenblick das Insta nicht mehr mittrugen. Jetzt aber zeichnet sich eine Konsolidierung ab: Die SP hält das Ziel einer verstärkten Binnenmarkt­integration weiter aufrecht. Die bürgerlichen Traditions­parteien hingegen scheinen den Bilateralismus de facto zu verabschieden. Ihre langfristigen Lösungs­vorschläge konzentrieren sich nicht mehr auf akzeptable Markt­zugangs­abkommen, sondern auf neu auszuhandelnde Freihandels­verträge.

Letztlich geht es nur um eine Frage: Wollen wir Teil des EU-Binnen­markts bleiben? Kämpfen wir darum, dass die negativen Konsequenzen der Personen­freizügigkeit angemessen abgefedert werden können – oder vollziehen wir einen fundamentalen Paradigmen­wechsel? Die SP wird eine ausgebaute Integration nur dann akzeptieren, wenn sie einhergeht mit bestimmten Garantien. Aber sie steht heute wieder für das Ziel, diesen Kampf auch auszufechten.

Die Mitte und die FDP hingegen erwecken zunehmend den Eindruck, sie hätten den Bilateralismus eigentlich schon lange beerdigt. Offen ausgesprochen wird das zwar noch nicht, aber alle Signale gehen in diese Richtung. Mit kongenialem diplomatischem Genie brachte Gerhard Schwarz diese Woche in der NZZ den Eiertanz auf den Begriff. Seine explizite Forderung lautet: «Statt Teilhabe am EU-Binnen­markt möglichst freier Zugang zum Markt, also Freihandel statt Integration». Allerdings legt Schwarz grossen Wert darauf, auch diese Zukunft ausserhalb des Binnen­marktes weiterhin als «Bilateralismus» zu bezeichnen. Aber aufgepasst: ein «genügsamer Bilateralismus».

Die Schweiz wird Zeit brauchen, vermutlich ziemlich viel Zeit, um wieder eine tragfähige europa­politische Vision zu entwickeln. Ein Klärungs­prozess steht an. Er betrifft das innen­politische Kräfte­verhältnis – und erst in zweiter Linie die EU.

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