Die Sage vom sauberen Strom

Ausstieg aus der Atomkraft, Klimaschutz und gleichzeitig keine verschandelte Natur – so verkauft die Politik der Bevölkerung die Energie­wende. Gäbe es bloss diesen Spielverderber nicht: die Stromlücke.

Von Yves Ballinari (Text) und Daniel Stolle (Animation), 01.12.2021

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So geht die Sage vom Schlafkraut, die aus dem Kanton Glarus überliefert ist:

Es habe einmal einer zur Herbstzeit einem Mungg zugeschaut, wie der eine Sorte Kraut frass und dann in sein Loch verschloff, um sich dort zum Winterschlaf niederzulegen. Dann habe dieser Mann auch von diesem Kraut gegessen. Bald sei dieser schläfrig geworden und habe sich deshalb in einem nahen Heugaden ins Heu verkrochen und sei eingeschlafen.

Als er wieder erwacht war, habe er einen langen Bart gehabt und sei es Frühling gewesen. Daheim habe man ihn für tot vermutet und kirchliches Gedächtnis abgehalten. Man kann sich das Erstaunen der Leute vorstellen, als der Vermisste wieder daheim erschien.

Sagen gibt es nicht nur im Glarnerland, sondern auch in Bundesbern. Eine davon geht so: Die Schweiz wird in den kommenden Jahrzehnten ihre Kernkraft­werke abschalten und stattdessen erneuerbaren Strom produzieren.

Sehr viel erneuerbaren Strom: genug für das abendliche Licht in den Wohn- und Schlaf­zimmern, genug für die Aufzüge in den Hochhäusern, für die Computer und Drucker in Büros, für Klima­anlagen, Wärme­pumpen und nicht zuletzt auch für die vielen elektrischen Autos, die künftig auf unseren Strassen fahren. Dafür sorgen wird der freie Markt, flankiert von der Schweizer Energie­strategie.

Die Sage vom sauberen Strom hat in den letzten Jahren die Runde gemacht. Das erste Mal nach dem Reaktor­unfall von Fukushima im Jahr 2011, erzählt durch Ex-Energie­ministerin Doris Leuthard. Dann wieder anlässlich der Abstimmung über die Energie­strategie, die das Stimmvolk 2017 angenommen hat. Und seit zwei Jahren trägt Leuthards Nachfolgerin Simonetta Sommaruga die Geschichte weiter, in Verbindung mit dem Netto-null-Emissionsziel, das der Bundesrat 2019 beschlossen hat. Stets mit der nach aussen strahlenden Zuversicht, dass die Strategie aufgeht und die Energie­wende gelingt.

Doch auch in dieser Sage kommt es zur unerwarteten Wendung. Eine Figur taucht auf, von der man dachte, dass sie bereits gestorben sei, so lange kam sie nicht mehr in der öffentlichen Debatte vor: die sogenannte Stromlücke. Sie symbolisiert die Furcht davor, dass die Schweiz in einigen Jahren in einen Engpass geraten könnte, weil es nicht mehr genug Kraftwerke im Land gibt.

In Zeitungsinterviews, in Mediencommuniqués und in offiziellen Videoansprachen tritt die Stromlücke seit diesem Sommer in Erscheinung. SVP-Politikerin Magdalena Martullo-Blocher warnt davor, ebenso Axpo-Chef Christoph Brand. Selbst Bundes­präsident Guy Parmelin ruft die Wirtschaft mit ernster Miene dazu auf, sich auf eine Mangel­lage vorzubereiten.

Als kämen diese Leute nicht aus einem Konferenz­zimmer, sondern direkt aus der Wildnis, schaut die Öffentlichkeit verdattert zu. Mit einer Stromlücke in der Schweiz haben bisher wenige gerechnet.

Dabei wäre eigentlich klar gewesen, dass diese Gestalt früher oder später wieder auf der Bühne erscheinen muss – so, wie sie in der Vergangenheit bereits ihre Auftritte gehabt hat und wie sie auch in Zukunft wieder aufkreuzen wird, wenn die Wirklichkeit nicht mithalten kann mit der ambitionierten Rhetorik rund um die Erzeugung von sauberem Strom.

Eine alte Bekannte

Schon Ende der 1980er-Jahre prophezeite die Strombranche einen drohenden Mangel. Kurz zuvor hatte die Politik das Kernkraftwerk­projekt in Kaiseraugst definitiv beerdigt. Und der Strom­verbrauch wuchs weiter.

Ein neues Kernkraftwerk würde helfen, die sich für den Winter 2005 abzeichnende Stromlücke wenigstens zu begrenzen, hiess es damals. Die düsteren Prognosen trafen dann nicht ein; die Schweiz hatte auch weiterhin genug Strom.

Ende der 2000er-Jahre war es dann wieder so weit. In Gösgen sollte ein zweites Kernkraft­werk entstehen. Die damalige Aare-Tessin AG für Elektrizität (Atel) hatte dafür ein Gesuch platziert. Auch die Energie­konzerne Axpo und BKW beabsichtigten, die Kernkraft­werke in Beznau und Mühleberg mit leistungs­fähigeren Neubauten zu ersetzen. Als Grund gaben sie Versorgungs­engpässe an: 2020 würde die Schweiz in eine Stromlücke geraten.

Dann kam die Finanzkrise, und es kam Fukushima. Deutschland beschloss den Atomausstieg, Atel ging in Alpiq auf, und ein neues Kernkraft­werk war auch in der Schweiz bald vom Tisch. Bereits im Mai 2011, zwei Monate nach dem Reaktor­unfall, fällte der Bundesrat den Entscheid zum schrittweisen Atomausstieg. Im Winter folgte ihm das Parlament, und bald darauf nahm die Energiestrategie 2050 Gestalt an: der Umbau des Energie­systems.

Die Umstände für einen solchen Plan waren damals günstig. Strom war an den Märkten im Überfluss vorhanden. In Europa herrschte Krise, Elektrizität war billig – und die Diskussion ums Klima war mehr Aktivismus als Umsetzung. So beschloss die Stimmbevölkerung 2017 an der Urne eine neue Energie­strategie. Sehr zur Freude von deren Architektin Doris Leuthard. «Machen wir uns auf, das Potenzial der neuen Energien zu nutzen!», sprach sie nach gewonnener Abstimmung in die Mikrofone. Um sogleich hinzu­zufügen: «Aber es gibt keine Hektik.»

So döste die Diskussion um die Stromlücke, sediert vom Schlafkraut der Energie­strategie, ein weiteres Mal weg. Bis diesen Sommer unabhängig voneinander drei Dinge passierten:

  • Und der Strompreis stieg im internationalen Handel – hauptsächlich wegen wirtschaftlicher Verwerfungen im Zuge der Corona-Krise – ziemlich stark an.

Plötzlich war sie wieder da: die Sorge davor, dass im Winter, wenn es dunkel und kalt ist, in der Schweiz nicht genügend Strom fliessen würde.

Neu ist dabei, dass es nicht mehr nur um die Kernenergie und um längere Laufzeiten für die bestehenden Kraftwerke geht. Auch Erdgas buhlt nun um die Rolle als Lücken­büsser. So will etwa der Fachverband Powerloop zur künftigen Strom­versorgung im Winter 2000 kleine Gaskraftwerke, sogenannte Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen, im ganzen Land bauen. Das widerspricht nicht nur der Energie­strategie, sondern auch der Klima­strategie des Bundes.

Die Cheferzählerin hat ein Problem

Bundesrätin Simonetta Sommaruga steckt damit in einer unbequemen Lage. Die Cheferzählerin der Schweizer Energiesaga wird von der Vergangenheit eingeholt, noch bevor sie die Zukunft gestalten kann.

An einem feuchten Oktobertag reiste sie deshalb ins sagenumwobene Glarnerland, um die Geister zu bannen. Hoch über Linthal auf 2500 Meter über Meer liegt der aufgestaute Muttsee – ein Ort mit grosser energie­politischer Symbolik. Hier wurde die längste Staumauer der Schweiz gebaut, ein Pfarrer weihte sie 2016 mit einer Segnung ein. Das Seewasser treibt das Pumpspeicher­werk Limmern an, das leistungsfähigste seiner Art in der Schweiz. Es soll zu den Spitzenzeiten Strom ins Netz einspeisen.

Seitlich an der Mauer entsteht neu die grösste und höchstgelegene Solaranlage der Schweiz. Alpinsolar soll in einem Jahr den Betrieb aufnehmen und vor allem im Winter Elektrizität produzieren. Also dann, wenn der Bedarf gross ist und die Produktion gering, weil die Flüsse wenig Wasser führen, die Solarpanels im Unterland unter der Nebeldecke liegen – und auch Pumpspeicher­werke wie jenes in Limmern nicht viel nützen, weil ihre Speicher­kapazität nur für ein paar Tage ausreicht, nicht aber für eine ganze Jahreszeit.

Soll die Energiestrategie aufgehen, so muss die Schweiz die erneuerbaren Energien in dramatischem Ausmass ausbauen. Die Strategie sieht vor, dass Solar- und Windanlagen bereits 2035 jährlich Strom im Umfang von 17 Terawattstunden generieren. Das entspricht etwa der doppelten Menge, die das Kernkraftwerk Leibstadt erzeugt. Es bedeutet, dass auf zahlreichen Wohnhäusern, aber auch auf Industrie­gebäuden, auf Parkplätzen, an Strassen­rändern und an Lärmschutz­anlagen bald Solarzellen angebracht werden müssen. Gerade der alpine Raum rückt für den Bau von Fotovoltaik­anlagen in den Fokus, da diese dort im Winter mehr Strom liefern als im Unterland. Deshalb ist der Schauplatz Muttsee tatsächlich zukunfts­weisend. Allerdings nicht im positiven Sinn.

Dass solche Projekte bei den derzeitigen Rahmen­bedingungen eigentlich gar nicht rentieren, ist mehr als ein Schönheits­fehler. Es ist das Kernproblem: Alpinsolar wurde nur gebaut, weil sich Lebensmittel­einzelhändler und Migros-Tochter Denner verpflichtet hat, den Strom über die kommenden 20 Jahre hinweg zu einem fixen Preis abzunehmen. Dieser Preis liegt, wie zu hören ist, über dem aktuellen Marktpreis, ist für die Betreiberin Axpo aber trotzdem nicht kostendeckend. Rein wirtschaftlich gesehen ist heute kein Energie­versorger daran interessiert, in den Schweizer Alpen Dutzende von Solarkraft­werken zu bauen.

In der Not muss immer der Gotthard helfen

Der Realitätscheck für die Energiewende wird jedes Jahr im November gemacht. Das Bundesamt für Energie berichtet dann jeweils, ob die Schweiz ihre Zwischenziele für den Ausbau von erneuerbaren Energien erreicht hat. Im vergangenen Jahr lag die Schweiz dabei auf Kurs – das bescheidene Ziel für 2020 wird sie wohl erreichen. Weniger gut sieht es für die fernere Zukunft aus. Um das Ziel für 2030 zu erreichen, müsste jedes Jahr 1,5-mal so viel Solar- und Windstrom zum Mix hinzugefügt werden wie heute: 450 statt 300 Gigawattstunden. Und im Hinblick auf 2050 müssten es sogar über 4-mal so viel sein: rund 1300 Gigawattstunden.

Nüchterne Zahlen bekommen dem Erzählfluss einer Geschichte selten gut. In diesem Fall lasten sie schwer auf der Energie­strategie. Mit jedem Jahr, in dem der Ausbau stockt, wächst der Berg an Projekten, die künftig im Schnellzug­tempo verwirklicht werden müssen. Und als wäre das nicht genug, verkündete das Bundesamt für Energie kürzlich eine weitere Hiobsbotschaft: Sollte die EU nicht kooperieren, so könnte der Schweiz im schlimmsten Fall schon ab 2025 für zwei Wintertage der Strom ausgehen.

Sah sich die Volksseele von äusseren Mächten bedroht, wandte sie sich in der Vergangenheit einem sagen­umwobenen Ort zu: dem Gotthard. Auch die Energiewende wird mittlerweile auf seinem Buckel ausgetragen. Oben auf dem Pass steht in karger Berglandschaft eine Pionier­anlage: Es sind fünf Windräder, die der Tessiner Energieversorgerin AET gehören. Sie produzieren nicht nur im Sommer, sondern auch im Winter Strom, was für die Versorgung besonders wertvoll ist. Zwanzig Jahre hat AET dafür gekämpft. Das Ergebnis steht in starkem Kontrast dazu: Es braucht in der Schweiz ein Generationen­projekt, um gerade einmal 5000 Haushalte mit Windstrom zu versorgen.

Dutzende solcher Windprojekte stecken in der Schweiz in der Bewilligungs­phase. Viele von ihnen werden jedoch nie darüber hinausgelangen, wenn sich an den Rahmen­bedingungen nichts ändert. Widerstand der Bevölkerung, aber auch von Umwelt­verbänden blockiert viele Projekte.

Dabei nutzen sie streng genommen nur ihre Rechte. Diese machen es Gegnern möglich, Anlagen über mehrere Instanzen zu bekämpfen und damit um Jahre hinaus­zuzögern. Ähnlich läuft es bei der Wasserkraft, der wichtigsten Säule der Schweizer Strom­produktion. Auch hier ist der Ausbau weitgehend blockiert.

Um den Projektstau zu lösen, stellte Sommaruga an einer Tagung vor kurzem effizientere Bewilligungs­verfahren in Aussicht. Die Prozesse sollen gestrafft und zentral beim Bund liegen. Damit würden Einsprachen schneller behandelt – und ein wesentlicher Teil der geplanten Wind­projekte könnte tatsächlich realisiert werden, heisst es aus der Branche.

Doch auch dies wäre nur ein Mosaikstein in der künftigen Strom­versorgung. Damit die Energiewende gelingen kann, bräuchte die Schweiz in der Fotovoltaik, in der Windkraft, aber auch in weiteren potenziellen Stromquellen wie der Geothermie einen regelrechten Investitions­boom.

Zuständig dafür wäre eigentlich die Stromwirtschaft. Sie hat stets brav genickt, wenn die Energie­strategie zur Debatte stand. Doch ihre Prioritäten hat sie woanders gesetzt.

Die Protagonisten spuren nicht

Grösster Akteur ist die Axpo, die sich im Eigentum der Nordwestschweizer Kantone befindet. Ende Oktober präsentierte sie ein eigenes Szenario für 2050, das dem des Bundes teils widerspricht: Laut Axpo braucht es zur Schliessung der Stromlücke nicht nur Solar- und Windanlagen, sondern auch zusätzliche Gaskraftwerke. Diese würden ab 2040 ihren Betrieb aufnehmen, wenn die Kernkraftwerke nach 60 Jahren Laufzeit abgestellt werden. Der Bund dagegen rechnet in seinen Energie­perspektiven mit Laufzeiten von 50 Jahren.

Die Energiewende ist laut Axpo machbar, wenn die Bewilligungs­verfahren substanziell beschleunigt werden können. Zudem brauche es Subventionen, solange auf fossile Energie­träger keine CO2-Steuer erhoben würde. Bei der Wasserkraft ist Axpo pessimistisch. Bereits wenn die Produktion auf dem heutigen Niveau verharre, wäre das ein Erfolg.

Das ist relativ viel Wenn und Aber für den wichtigsten Stromversorger in der Schweiz. Zielstrebiger treibt der Konzern die Entwicklung der erneuerbaren Energien im Ausland voran. Vornehmlich mit Windkraft und Solar­energie wächst Axpo nach eigenen Angaben in Frankreich rasant. Am stärksten aber legte das Unternehmen zuletzt beim Handel mit Gas zu.

Alpiq, der zweitgrösste Stromversorger, stellte vergangenes Jahr in seinem Geschäfts­bericht klar, wie er die Rollen­verteilung im Strommarkt sieht: Das Geschäfts­modell von Alpiq basiere auf Schweizer Wasserkraft und Kernenergie einerseits – sowie auf Gaskombi­kraftwerken, Wind- und Solaranlagen im Ausland andererseits. Bisher besteht das Portfolio an erneuerbaren Produktions­stätten vor allem aus Windkraft­anlagen in Frankreich. Ohnehin ist Alpiq durch seine Tätigkeiten in 32 Ländern längst ein Konzern mit internationaler Ausstrahlung.

BKW, die Nummer drei, legt in der Schweiz vor allem durch Investitionen abseits der Strom­produktion zu. In den letzten Jahren hat die Firma viel Geld in den Zukauf von Haustechnik­unternehmen gesteckt. Ende Oktober bekräftigte sie, fortan auch stärker in die Fotovoltaik zu investieren. Der Fokus liegt allerdings nicht in den Schweizer Alpen, sondern im sonnigen Südeuropa. Ein Vorvertrag eröffnet der BKW die Möglichkeit, allein in Italien über die nächsten vier Jahre über hundertmal so viel installierte Fotovoltaik-Leistung zu erwerben, wie die Anlage am Glarner Muttsee-Staudamm erbringen kann.

Der Weg des geringsten Widerstands führt also ins Ausland. Das ist auch beim EWZ so. Es produziert umgerechnet ein Drittel des Strom­bedarfs der grössten Stadt der Schweiz, Zürich, durch Windkraftwerke, die alle im Ausland stehen. Gemeinsam ersetzen sie ungefähr die Leistung, die das Unternehmen vor seinem Atomausstieg vom Kernkraftwerk Gösgen bezog. Wo die erneuerbare Energie eingespeist werde, sei nicht entscheidend, heisst es vom Unternehmen. Deshalb investiere es bevorzugt dort, wo es am günstigsten, am umwelt­verträglichsten und am besten akzeptiert sei. Also etwa in Windanlagen in Deutschland, Frankreich, Norwegen und Schweden.

Wird ausnahmsweise doch in der Schweiz gebaut, so läuft dies unter dem hoffnungsvollen Label «Leuchtturm­projekt». Auch das EWZ hat seinen Leuchtturm auf einer Staumauer errichtet: Seine Solaranlage an der Albigna-Staumauer im Bergell darf sich rühmen, in der Schweiz die älteste ihrer Art zu sein, denn sie ging schon 2020 in Betrieb. Doch allzu weit leuchtet auch dieses Projekt nicht. Gerade einmal 210 Stadtzürcher Haushalte werden durch die Albigna-Anlage mit Strom versorgt.

Wichtiger als die inländische Versorgungs­sicherheit ist den Strom­firmen der Profit. Das ist zwar stossend, da fast alle dieser Firmen den Kantonen und Gemeinden gehören. Wer, wenn nicht der Staat, soll sich um die Versorgungs­sicherheit kümmern? Doch dieser Fokus ist politisch gewollt. Und bei den derzeitigen Gesetzen und Rahmen­bedingungen nichts als folgerichtig.

Viele Autoren schreiben am Drehbuch

Diese Rahmenbedingungen zu ändern, wäre Sache der Politik. Doch statt an einer kohärenten Energie­strategie zu arbeiten, verstricken sich die Parteien im Bundeshaus in ihre eigenen Widersprüche.

Weder die SP noch die Grünen haben bisher den Nachweis erbracht, dass sie für den Ausbau erneuerbarer Energien im Zweifel andere Interessen – wie etwa den Schutz von Gewässern oder bestehenden Berglandschaften – geschlossen unterordnen. Lieber erzählen sie ihren Wählerinnen, alles zusammen sei problemlos möglich: Atomausstieg, Klimaschutz und keine weiteren Eingriffe mehr in die Schweizer Natur.

Die Grünen ordnen der Kernenergie im Zweifelsfall sogar das Klima unter: Um den Ausstieg nicht zu gefährden, halten sie Gaskraftwerke für eine Option. Damit sind sie auf einer Linie mit Roger Nordmann, SP-Nationalrat und Energie­politiker. Er will im Winter ebenfalls Strom aus Gaskombi­kraftwerken beziehen und unterstützt den Vorschlag von Powerloop, 2000 kleine Gaskraftwerke zu bauen. Wie sich die Schweiz dabei nicht in Abhängigkeit von Gaslieferanten wie Russland begeben soll, bleibt unklar.

Bei den Grünliberalen wird am Atomausstieg nicht gerüttelt. Und auch die Mittepartei verteidigt die Energie­strategie. Sie hütet damit das Erbe ihrer Ex-Bundesrätin Doris Leuthard, die als Umwelt­vorsteherin die Energie­wende auf den Weg brachte. Allerdings kommen sogar innerhalb einer gemitteten Partei Erbstreitigkeiten vor: 2007 hatte die CVP noch festgehalten, erneuerbare Energien reichten nicht aus, um einen Versorgungs­engpass zu schliessen. Die Schweiz müsse sich auch die Option der Kernenergie offenhalten. Gerade im Energie­kanton Aargau, aus dem auch Leuthard stammt, hat sich diese Haltung innerhalb der CVP ein Stück weit erhalten. Bis heute hat die Mittepartei es nicht geschafft, sich glaubhaft als politische Kraft hinter der Energie­wende zu etablieren. Diese Erwartungen erfüllen Grüne und Grünliberale am besten.

FDP-Präsident Thierry Burkart dagegen sagt, es liege im Interesse des Landes, die Kernkraft­werke so lange wie möglich laufen zu lassen, sofern sie sicher seien. Dieser Meinung ist auch die SVP. Energie­politiker Christian Imark hält die Energie­strategie für komplett gescheitert und lässt keine Gelegenheit aus, um Sommaruga zu kritisieren.

Die Pointe: Ausgerechnet die Partei, die am vehementesten gegen den Klimaschutz und gegen die Förderung erneuerbarer Energien ankämpft, lobbyiert heute als einzige für die – hinter der Wasserkraft – klimafreundlichste Strom­produktions­form: die Kernenergie.

Auf ein baldiges Wiedersehen

«Wir können uns nicht leisten, nochmals zehn Jahre zuzuwarten», sagt die angesprochene Energie­ministerin. Simonetta Sommaruga weiss sehr wohl, dass in der Schweizer Energie­politik vieles noch nicht zusammenpasst. Trotzdem muss sie weiter durchs Land tingeln und ihre Geschichte erzählen: dass die Energie­wende möglich sei, wenn sich die Schweiz nur genug anstrenge.

An Ideen mangelt es der Bundesrätin nicht. Um Blackouts zu verhindern, will Sommaruga Stausee­betreiber künftig dafür entschädigen, dass sie eine Notreserve für den Winter anlegen. Im revidierten Energiegesetz sind zudem Förder­beiträge vorgesehen, unter anderem für Solar­anlagen. Und das revidierte Stromversorgungs­­gesetz soll generell mehr Wettbewerb in den Markt bringen. Ob das ausreicht, wird von vielen Exponenten in der Strombranche allerdings angezweifelt. Sie wollen keine Investitions­hilfen – Geld wäre ja genug da – sondern einen mehr oder weniger garantierten Abnahmepreis. Also die Aussicht, dass Investitionen in der Schweiz kein finanzielles Risiko sind.

Wie unter diesen Umständen die Energie­wende zustande kommen kann, ist nebulös.

So gesehen ist die Stromlücke zum richtigen Zeitpunkt aus ihrem Schlaf erwacht. Und allem ungläubigen Staunen zum Trotz – allen Vorbehalten darüber, dass Interessen­gruppen diese Figur jetzt für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren – signalisiert ihr Wieder­kommen eben doch, dass die Sage vom sauberen Strom in sich noch nicht stimmig ist. Solange sich daran nichts ändert, wird die Stromlücke die Energie­wende hartnäckig begleiten.

Zum Autor

Yves Ballinari setzt sich als unabhängiger Wirtschafts­journalist mit erneuerbaren Energien, Digitalisierung und Mobilität auseinander, unter anderem für «energate», ein auf Energie­themen spezialisiertes Medium. Seit einigen Jahren ist er aktives Mitglied des Schweizer Recherche­netzwerks investigativ.ch.

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