Strassberg

Awokeness

Ein Umsturzversuch durch Sprache, Rituale, Gesten – warum wir gerade an einem so schmerzhaften wie faszinierenden historischen Experiment teilnehmen.

Von Daniel Strassberg, 30.11.2021

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Im Jahr 1905 fand in China eine über tausend Jahre alte Tradition ihr Ende. Die letzten Kandidaten absolvierten die äusserst anspruchs­volle Aufnahme­prüfung für die Beamten­kaste der Mandarine. Die Prüfung, mit der eine lange und schwierige Ausbildung abgeschlossen wurde, sollte garantieren, dass nur die fähigsten und gebildetsten Studenten eine Laufbahn als Richter, Verwalterin oder Lehrer aufnehmen konnten.

Der Hauptteil der Prüfung bestand in der Auslegung klassischer Texte. Allerdings war weder eine gründliche Kenntnis des Textes noch ein tiefes Verständnis noch eine originelle Sicht gefragt, sondern lediglich die in K’ung Ying-tas Buch «Die korrekte Bedeutung der fünf Klassiker» auswendig gelernten Inter­pretationen.

Geprüft wurde die Fähigkeit der künftigen Beamten, im richtigen Moment die richtigen Formeln auszusprechen.

Das können wir nur belächeln: Intelligenz und Bildung drücken sich in eigen­ständigem Denken, theoretischer Klarheit und argumentativer Stringenz aus, so wird jedenfalls behauptet, und nicht im Nach­plappern auswendig gelernter Floskeln. Zudem werden heute auch in ausgesprochen praktischen Berufen Kenntnisse der relevanten Theorien und ihrer Anwendung verlangt. Dahinter steckt die Vorstellung, dass wir uns der Welt mit Theorien nähern, um in ihr auf der Basis dieser Theorien zu handeln. Die Praxis ist dieser Ansicht nach bloss eine Fortsetzung der Theorie.

Doch braucht eine Schreinerin wirklich eine Theorie des Holzes? Natürlich muss sie etwas über die Beschaffenheit des Holzes wissen und die Werkzeuge kennen, die sie benutzt, doch dies ist kein theoretisches – wörtlich übersetzt: betrachtendes – Wissen, sondern ein Handlungs­wissen, ein Wissen der Hand gleichsam.

Das Beispiel aus dem chinesischen Kaiser­reich wiederum zeigt, dass es auch ein soziales Handlungs­wissen gibt, das den täglichen Umgang mit anderen Menschen regelt, das aber theoretisch gar nicht formuliert werden kann.

Der Wissenschafts­forscher Michael Polanyi (1891–1976) spricht deshalb in diesem Zusammen­hang von «schweigendem Wissen» (tacit knowledge): Dieses beinhaltet sprachliche Formeln, Rituale und Gesten; es bestimmt, wie man sich kleidet, wie man jemanden anspricht, wie man jemanden begrüsst, es legt den Abstand fest, den es zum anderen einzuhalten gilt, und es unterscheidet zwischen erlaubten und unerlaubten Berührungen. All dies zusammen­gefasst nennt der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) dann «soziale Praxis».

Die soziale Praxis setzt eine Inter­pretation der sozialen Macht­verhältnisse voraus: Wen wir duzen, hängt zum Beispiel davon ab, wie wir die jeweilige Situation einschätzen. Eine falsche Einschätzung hat schon manche Freundschaft und manche Karriere gekostet.

Implizites Praxiswissen – Gesten, sprachliche Formeln und Rituale – spiegelt also Macht­verhältnisse und schafft sie zugleich auch. Weil sich solche Macht­spiele auf kleinstem Raum abspielen, sprach der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984) von der «Mikro­physik der Macht».

Nichts anderes meinte auch Friedrich Nietzsche (1844–1900) mit seinem berühmt-berüchtigten «Willen zur Macht». Dieser will andere weder beherrschen noch unterdrücken, er will lediglich durch neue Inter­pretationen an den bestehenden Macht­verhältnissen rütteln. Anders als für Karl Marx ist die Geschichte für den deutschen Philologen und Philosophen Nietzsche nicht die Geschichte der Klassen­kämpfe, sondern der Kämpfe um die jeweils richtige, das heisst die durchsetzungs­starke Interpretation.

In «Jenseits von Gut und Böse» spricht Friedrich Nietzsche von den zahlreichen Versuchen, die Moral aus der Natur heraus­zulesen, als sei die Natur ein Text über Ethik.

Aber, wie gesagt, das ist Interpretation, nicht Text; und es könnte jemand kommen, der, mit der entgegen­gesetzten Absicht und Interpretations­kunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Macht­ansprüchen herauszulesen verstünde. (…) Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? – nun, um so besser. –

Friedrich Nietzsche: «Jenseits von Gut und Böse», § 22.

Die Natur ist kein Buch, in dem man lesen kann, was richtig und was falsch ist. Dieselben Erscheinungen können mit demselben Recht als gut oder böse interpretiert werden – und daran ist absolut nichts auszusetzen, denn es geht ja immer darum, seine eigene Inter­pretation durchzusetzen –, nicht nur mit Theorien, Welt­anschauungen oder Ideologien, sondern auch mit sozialen Praktiken. In Japan regeln die gesellschaftlichen Hierarchien die Tiefe der Verbeugung bei der Begrüssung. Wer sich nicht daran hält, deutet entweder die Situation falsch oder stellt die Hierarchie infrage.

Tatsächlich nehmen wir gerade an einem faszinierenden historischen Experiment teil, am Versuch nämlich, die Macht­verhältnisse mit neuen sprachlichen Formeln, Ritualen und Gesten umzustürzen. Es ist der Versuch, die Welt nicht durch neue Theorien, nicht durch Propaganda und nicht durch Gewalt zu verändern, sondern sie durch neue Praktiken neu zu interpretieren und Macht­verhältnisse dadurch zu verändern.

Wenn sich «Ärzt:innen» als neue Sprachpraxis durchsetzt, so die Annahme, wird sich dadurch das Geschlechter­verhältnis mit der Zeit auch verändern. Die Rede ist natürlich von der Woke-Bewegung, die in der Sprache ihrer Gegner Cancel-Culture heisst. Woke bedeutet wach sein, und zwar für die alltäglichen, vor allem sprachlichen Diskriminierungen von Frauen, nicht­binären Personen und People of Color.

Zunächst ein Eingeständnis: Ich selber habe meine liebe Mühe mit der Woke-Bewegung. Ich habe nicht nur zahlreiche theoretische Einwände, sondern ich tue mich auch mit den neuen Sprach­regelungen ausgesprochen schwer. Auf die Auflistung meiner Einwände will ich hier aber gerne verzichten. Sie decken sich weitgehend mit jenen, die derzeit in unzähligen Fernseh­diskussionen und Feuilleton­artikeln vorgebracht werden, und sie gehen teilweise vielleicht sogar noch weiter.

Der Punkt, den ich machen möchte, ist ein anderer: Mit den «anti-woken» Stimmen, welche die Argumente vorbringen, die eigentlich auch die meinen wären, kann ich mich nicht identifizieren. Im Gegenteil: Sie strapazieren meine Nerven noch mehr als ihre Gegnerinnen. Weshalb?

Weil die alten weissen Männer, die übrigens auch Frauen sein können, erstens nicht begreifen, dass es in dieser Auseinander­setzung nicht mehr um Theorien, sondern um die Durch­setzung einer neuen (Sprach-)Praxis geht; und weil sie zweitens, wenn sie ihre Argumente und Theorien vortragen, keinen Augenblick über ihre eigenen Interessen nachdenken: dass sie nämlich mit scheinbar vernünftigen Argumenten und objektiven Theorien gegen ihren drohenden Macht­verlust ankämpfen.

Bourdieu, der viel über soziale Praktiken nachgedacht hat, schreibt dazu:

Die Dringlichkeit, die mit Recht als eine der wesentlichen Eigenschaften der Praxis angesehen wird, ist das Produkt des Beteiligt­seins am Spiel und des Präsentseins in der Zukunft, die sie mitenthält; es genügt, sich wie ein nüchterner Beobachter ausserhalb des Spiels zu stellen, Abstand vom erstrebten Spielergebnis zu gewinnen, und schon verschwinden die Dringlichkeiten, Appelle, Bedrohungen, vorgeschriebenen Spielzüge, aus denen sich die reale, d. h. real bewohnte Welt zusammensetzt. Nur dem, der sich vollständig vom Spiel zurückzieht, der vollständig mit dem Zauber, der illusio bricht und damit auf alles verzichtet, um das es bei diesem Spiel geht, d. h. auf jedes Setzen auf die Zukunft, (…) nur ihm kann sich die Welt in der Absurdität einer des Künftigen und mithin des Sinns entblössten Gegenwart darbieten, wie die ins Leere gehenden Treppen der Surrealisten. Der Sinn für das Spiel ist der Sinn für die Zukunft des Spiels, der Sinn für den Sinn der Geschichte des Spiels, die dem Spiel seinen Sinn verleiht. Das bedeutet, dass nur der eine gewisse Chance hat, die Praxis (…) zu erklären, der die Effekte kennt, die die wissenschaftliche Praxis allein schon durch Totalisierung erzeugt.

Pierre Bourdieu: «Sozialer Sinn».

Unter der wissenschaftlichen Praxis der Totalisierung versteht Bourdieu den Anspruch von Theorien, alles erklären zu können. Es ist nicht schwer, meint Bourdieu, die Welt absurd erscheinen zu lassen, wenn man sich aus der real bewohnten Welt zurückzieht und von weit oben, von einem scheinbar objektiven Stand­punkt aus, die Welt beobachtet. Doch der Preis dafür ist hoch: Wer sich zurückzieht, nimmt am sozialen Spiel nicht mehr teil, er fällt aus der Welt und verzichtet gleichsam auf die Zukunft.

So ergeht es mir, einem alten (67) weissen Mann, zurzeit: Ich verstehe die soziale Praxis nicht mehr, ihre Sprache, ihre Gesten und Rituale sind mir fremd. Ich kann am Spiel nicht mehr teilnehmen, weil ich seine Regeln nicht mehr beherrsche und sie auch nicht mehr lernen will. Dadurch sind meine Theorien nicht mehr gefragt und noch weniger meine Solidaritäten. Ich habe mich mit den Anliegen der Frauen­bewegung immer solidarisch geglaubt, genauso mit anti­rassistischen, anti­faschistischen und sozialen Ideen. Doch diese Solidaritäten sind ohne die entsprechende Praxis obsolet. Weil ich die Welt anders interpretiere, bin ich nicht mehr Teil der Gruppen, denen ich mich in der Vergangenheit verbunden fühlte.

Natürlich schmerzt dieses Gefühl, aus der Welt gefallen zu sein. Und natürlich habe ich häufig Angst, meine Meinung offen zu äussern. Doch sind dieser Schmerz und diese Angst nicht die exakte Spiegelung der Erfahrung derjenigen, die bislang ausgeschlossen waren? Und eröffnet diese Erfahrung nicht auch die Möglichkeit einer kritischen Sicht auf die eigenen Rituale, Gesten und Sprech­verbote, mit denen sich die Generation «alte weisse Männer» bislang ihre Macht erhalten und Privilegien gesichert hat?

Eine soziale Bewegung, die wie die Woke-Bewegung auf sprachliche und andere soziale Praktiken zielt, ist möglich, aber auch nötig geworden, weil der Zugang zur Öffentlichkeit durch die Verbreitung des Internets nicht mehr durch die alten Instanzen kontrolliert wird. Wer Zugang zur öffentlichen Debatte haben wollte, musste bis anhin die Kontrolle von gatekeepern passieren: Verlegerinnen, Chef­redaktoren, Professorinnen oder Beamte haben bestimmt, wer sich öffentlich äussern kann. Explizite Sprech­verbote waren gar nicht nötig, weil ohnehin nur diejenigen an den Wächtern vorbei­kamen, die ihre sprachliche Praxis teilten – und das waren in der Regel Männer, weil auch die Wächter Männer waren. Obwohl diese Seilschaften immer noch existieren und noch immer viel Macht besitzen, hat das Internet einen anderen, direkteren Zugang zur Öffentlichkeit ermöglicht. Und das war die Chance bisher marginalisierter Gruppen, eine Art Gegen­kontrolle – und man könnte durchaus sagen: eine Gegen­gewalt – aufzubauen.

Obwohl ich selbst zu der Zielgruppe dieser Gegen­gewalt gehöre, wünschte ich mir, meine Genossen und Genossinnen wären etwas woker und würden nicht mehr so tun, als wären Sprech­verbote etwas Neues, was sie selbst nie anwenden würden. Dieselben deutschen Professoren, die gerade lautstark gegen die Cancel-Culture aufbegehren und sich dabei hemmungslos mit der AfD ins Bett legen, scheuen sich nicht, eine Dissertation oder eine Habilitation gnadenlos abzuschiessen, wenn sie den strengen Sprach­regelungen der Akademie nicht folgt. Das, liebe Freunde, ist auch Cancel-Culture und unterscheidet sich nur wenig vom Gebaren der chinesischen Mandarine.

Illustration: Alex Solman

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