Heute Freunde, morgen – was?

Menschen mit Rastas, Trychler, kiffende Hippies, Männer in Sennenhemden – gegen die Pandemie­massnahmen ist eine vielfältige, oft stark polarisierende Bewegung entstanden. Ganz vorne mit dabei: die «Freunde der Verfassung». Wächst da eine politische Kraft heran, die über Corona hinaus Bestand hat?

Von Anja Conzett (Text) und Florian Spring (Bilder), 20.11.2021

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Bundesrat Berset als Pinocchio mit ganz langer Nase: Alle Bilder in diesem Beitrag stammen von einer Demonstration der Corona-Massnahmengegner in Bern.

«Danke allen, die eine Maske getragen haben», sagt der Kondukteur über den Lautsprecher, als der Zug in den Bahnhof einfährt, entnervt wie ein Lehrer, der eine Schar Kinder unter Kontrolle zu kriegen versucht, nachdem ihnen heimlich jemand Red Bull eingeflösst hat.

Der Zug zwischen Zürich und Bern ist an diesem Samstag gestossen voll, in Zwischen­abteilen und auch zwischen den Sitzreihen stehen die Passagiere, fast die Hälfte trägt keine Maske: Grossdemo der Massnahmen­gegnerinnen in der Bundes­stadt.

Samstag, 23. Oktober: Kurz nach Mittag füllt sich der Münster­platz; mit Männern in Tellhoodies, Männern in Sennen­hemden, Frauen in Trachten, Frauen in Leoparden­print, Frauen in selbst gemachten Filzjacken. Menschen mit Rastas, Afros, Zipfel­mützen, Turm­frisuren, Hitlerjugend­haarschnitten und Hidschabs.

Es wehen Schweizer Fahnen, Kantons­fahnen – Uri, Graubünden, Ticino, Innerrhoden – Regenbogen­fahnen, Antifa-Flaggen, die Flaggen der Libertären Partei, eine Flagge mit Anne Franks Konterfei und einem Holocaust­vergleich.

Um halb zwei marschieren sie auf den Bundes­platz; Dachdecker mit aufgeschundenen Händen, Studentinnen «für eine zertifikats­freie Bildung», Klein­unternehmer, Hausfrauen, grimmig dreinblickende Männer in Helly-Hansen-Bomber­jacken, kiffende Hippies, Bücher verteilende Christen, singende Hare Krishnas.

«Rave for Freedom» spielt ein spontanes DJ-Set vor dem Bundes­platz, daneben erklingen die Kuhglocken der Trychler, irgendwo ein Dudelsack, Djembe, Bodhrán, Handörgeli, Triller­pfeifen, deutscher Rap aus der Boombox, Alphörner.

Das Wetter ist blendend, die Stimmung ist es auch. Zwischen­zeitlich scheint es eher ein Volksfest zu sein als eine politische Demonstration. Ähnlich wie bei einem Stadtfest, einer Chilbi oder der Fasnacht ist auch die Durch­mischung.

Alle sind gekommen, Linke, Rechte, Junge, Alte, Familien mit Kindern, Menschen mit Migrations­geschichte, Menschen, die Menschen mit Migrations­geschichte nicht mögen – und als Journalistin kann es dir passieren, dass du irgendwann realisierst, dass die Frau, hinter der du seit fünf Minuten stehst, die eigene Schwester ist, dass sie Mitglied bei den «Freunden der Verfassung» ist. Nun, zumindest dieser Journalistin ist das passiert.

Wie viele Menschen an der Demonstration teilgenommen haben, ist ein Streitpunkt. Die Polizei schweigt, die Veranstalter sagen 50’000, die Medien schreiben von Tausenden. Sicher waren es weit über 20’000, wahrscheinlich eher weit über 30’000. Schon eine Woche zuvor waren in Rapperswil (von der dortigen Polizei verifiziert) 3000 Menschen gegen Masken, Impfen, Zertifikat und Covid-Gesetz marschiert.

Man kann ihre Auftritte und Inhalte gut, legitim, nervig oder gemein­gefährlich finden – eines muss man den Massnahmen­gegnerinnen lassen: In kürzester Zeit ist es ihnen gelungen, zu einer verblüffend heterogenen, schlag­kräftigen, referendums­fähigen Bewegung zu werden.

Dahinter stehen verschiedene Organisationen, die mit mehr oder weniger diversem Stil eine mehr oder weniger unter­schiedliche Klientel bedienen: das eher ländliche Aktions­bündnis der Urkantone, die Jugend­bewegung Massvoll, der ominöse Stille Protest und die relativ junge Freie Linke.

Aber keine der Organisationen ist so erfolgreich und feder­führend wie die «Freunde der Verfassung».

Organisiert ist der Verein in schlag­kräftigen Regio­gruppen, bestens vernetzt und koordiniert mit ähnlich gesinnten Organisationen, ausgerüstet mit engagierten Mitgliedern, die praktisch im Alleingang mehrere tausend Unterschriften sammeln, nach eigenen Angaben finanziert durch Spenden (darunter mindestens ein namenloser Gross­spender, der einen sechsstelligen Betrag stiftete).

Gegründet wurden die «Freunde der Verfassung» im Sommer 2020 in Solothurn. Als das Covid-Gesetz ohne Widerstand im Parlament verabschiedet wurde, kündigten die «Freunde der Verfassung» – die damals noch «Freundinnen und Freunde der Verfassung» hiessen – das Referendum an. Im Januar kam dieses mit 85’000 Unterschriften zustande. Als das Gesetz im Juni mit rund 60 Prozent Stimmen angenommen wurde, sammelten sie und ihre Mitstreiterinnen in rekord­verdächtigen 25 Tagen 187’000 weitere Unterschriften für ein zweites Referendum, über das am 28. November abgestimmt werden soll.

Und nebenbei steuerten sie noch 30’000 Stimmen an das Referendum gegen das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) bei, das von linken Jung­parteien ergriffen wurde, aber ohne die Verfassungs­freunde wohl gar nicht zur Abstimmung gekommen wäre. Und obwohl sie erst etwas über ein Jahr alt sind, haben sie nach eigenen Angaben bereits 12’500 zahlende Mitglieder (Stand August). Zum Vergleich: Die Grüne Partei hat 10’500 (Stand 2020).

Kurz: Die «Freunde der Verfassung» haben die Mobilisierungs­kraft eines U2-Gratiskonzerts.

Nur, ist es eine Organisation, die gekommen ist, um zu bleiben? A force to be reckoned with? Ab wann wird eine Grassroots-Bewegung eigentlich eine politische Grösse? Was müssen die «Freunde der Verfassung» tun, wenn sie über die zweite Covid-Gesetz-Abstimmung und über die Pandemie hinaus bestehen wollen? Und wenn ihnen das gelingt, was für eine Kraft werden sie sein?

Darauf gibt die Organisation der Republik keine Antwort. Überhaupt spricht sie zurzeit nicht mit Journalisten. Als Grund wird die «falsche und verzerrte Darstellung der Massnahmen­kritiker» der letzten Monate in den Medien angegeben.

Was bleibt, sind eine Betrachtung aus der Ferne und zwei Betrachtungen aus der Menge – einmal an der Demo in Rapperswil, einmal an der Demo in Bern, die zwar vom Aktions­bündnis der Urkantone organisiert wurde, zu der die «Freunde der Verfassung» aber aufgerufen haben.

Die Organisation des Misstrauens

Auf einem Schild an der Demo in Bern: das Konterfei von Alain Berset, aus der Nase ragt ein Holz­stöckchen. Das ist eine der clevereren und harmloseren Würdigungen, mit denen der Gesundheits­minister an den Kund­gebungen bedacht wird. Das meiste ist weitaus gehässiger und teilweise tief unter der Gürtel­linie. Auch der Rest des Bundesrats kriegt sein Fett ab, zum Beispiel wenn einer der Redner an der kleineren, aber nicht minder illustren Kundgebung in Rapperswil unter tosendem Applaus den Rücktritt der Landes­regierung fordert – und die «Verantwortlichen der Pandemie» vor ein Kriegs­gericht stellen will.

Das ist radikal. Aber nicht weiter erstaunlich. Denn praktisch jede populistische Bewegung (egal ob links, rechts, irgendwo dazwischen oder völlig daneben) folgt der gleichen Rezeptur:

Als Erstes braucht es in mehr oder weniger breiten Kreisen eine ordentliche Portion Unzufriedenheit mit der jetzigen Situation, am besten verfeinert mit einer gehörigen Prise Verunsicherung (einer realen oder wahr­genommenen Krise); alles gut vermischt mit ein paar Schaufeln Misstrauen in jene, die an der Macht sind. Jetzt muss das Ganze noch organisiert werden, indem funktionierende Gremien und breite Kommunikations­kanäle aufgebaut werden und eine geschickte Öffentlichkeits­arbeit erfolgt, als Krönung noch ein geniales Branding – et voilà: die Opposition.

«Dieses Misstrauen, dieser Frust, den man auch haben darf, ergibt sich aus gesellschaftlichen Veränderungen oder – wie im Falle der Pandemie – kontextuellen Veränderungen», sagt Marc Bühlmann, Politologe und Direktor von Année Politique Suisse an der Universität Bern, das seit 1965 politische und gesellschaftliche Entwicklungen beobachtet und analysiert. «Früher konnte man noch Gott anflehen oder den Teufel verfluchen, heute manifestiert sich die Wut gegen das Repräsentativ­system, die Politikerinnen und Politiker, das ist nicht nur in der Schweiz so.»

Und doch ist die Schweiz anders. Eine Bewegung wie die «Freunde der Verfassung» lässt sich auch rein formal nicht mit einer Bewegung wie den gilet jaunes in Frankreich vergleichen, der es im Herbst 2018 enorm schnell und nachhaltig gelungen ist, den Frust und das Misstrauen ihrer Landes­genossinnen zu organisieren. «Das System in Frankreich ist so starr und komplex, dass man als Französin erst eine Blockade des politischen Repräsentativ­systems provozieren muss, um sich Gehör zu verschaffen. Da muss die Wut wirklich gross werden», sagt Bühlmann.

In der Schweiz dagegen, mit ihrer durchtrainierten direkten Demokratie, herrscht «ein institutionalisierter Zwang zum Dialog», sagt Bühlmann. «Das Geniale und relativ Einmalige an der Schweiz ist, dass sich das Repräsentativ­system die Kritik nicht nur anhören muss – es muss sie auch relativ unmittelbar verarbeiten. Aus demokratie­theoretischer Sicht ist begrüssens­wert, dass es Organisationen wie die ‹Freunde der Verfassung› gibt, weil sie das oft diffuse Misstrauen bündeln, in die direkte Demokratie einbringen und damit ein Potenzial zur Versachlichung schaffen.»

Wenn man die Zukunft der «Freunde der Verfassung» anhand anderer Bewegungen ablesen will, muss man sich also auf die Schweiz konzentrieren. Zum Beispiel auf eine Bewegung, die Ende Siebziger-, Anfang Achtziger­jahre entstand. Damals stellte der Bundesrat einen Anstieg von tödlichen Verkehrs­unfällen fest, worauf Experten vorschlugen, eine Gurten­trag­pflicht einzuführen. Der Bundesrat tat dies 1976 via Verordnung, also ohne Gesetzes­änderung, worauf die Gegnerinnen der Gurten­trag­pflicht vor Bundes­gericht erfolgreich klagten. Daraufhin nahm der Bundesrat eine entsprechende Gesetzes­änderung vor, gegen die selbst­verständlich das Referendum ergriffen wurde. Das Volk nahm die Pflicht, sich anzuschnallen, 1981 hauchdünn an. «Auch damals entstand in kürzester Zeit eine heterogene, schlag­kräftige Bewegung, die ebenfalls mit der Einschränkung der Freiheit argumentierte», sagt Politologe Bühlmann.

Und was geschah mit der Anti-Gurt-Bewegung nach der Abstimmung? «In einer direkten Demokratie kann man auf einem Thema surfen und viel bewegen. Aber wenn das Thema verschwindet, die Abstimmung vorüber ist, verschwindet in der Regel auch die Bewegung wieder.»

Die Pandemie dürfte die Schweiz auch noch über die Abstimmung über die Revision des Covid-19-Gesetzes hinaus beschäftigen. Und doch haben die «Freunde der Verfassung» ein ähnliches Problem: Trotz ihres Engagements beim Referendum gegen das PMT werden sie nach wie vor extrem mono­thematisch wahrgenommen. Ihr Thema ist der staatliche Umgang mit der Pandemie.

«Die einzige Bewegung, die es trotz mono­thematischer Wahrnehmung geschafft hat, über Jahre relevant zu bleiben, ist die Grüne Partei», sagt Bühlmann. Was vor allem daran liegt, dass zu ihrem Glück – respektive Unglück – Umwelt­themen und Klima­erwärmung nicht an Dringlichkeit verloren, sondern gewonnen haben.

Das heisst, die «Freunde der Verfassung» haben zwar mindestens 1500 Mitglieder mehr als die Grünen – aber auch zwei Probleme mehr.

  1. Als parlamentarische Partei können die Grünen ihre Themen im Rats­betrieb kontinuierlich bewirtschaften.

  2. Im Gegensatz zum Ende der Klima­krise ist das Ende der verhassten Covid-Massnahmen absehbar.

Die «Freunde der Verfassung» wollen nach eigenen Angaben aber über die Pandemie hinaus bestehen bleiben. Und so erweitern sie auch stetig ihre bereits beachtlichen Kommunikations­kanäle (25’000 Abonnenten auf Telegram, 11’000 auf Facebook, 12’000 auf Youtube und gemäss NZZ über 100’000 Newsletter-Abonnentinnen), zuletzt mit einer Zeitung, deren Redaktion aus dem Vorstand der Verfassungs­­freunde besteht – und mit der die Briefkästen privater Haushalte geflutet werden: «Moment!». Auflage 3 Millionen, gemäss Redaktion vor allem mit Spenden finanziert.

Und auch die Basis, die an den medien- und damit rekrutierungs­wirksamen Demonstrationen aufwartet, zeigt bislang keine Müdigkeits­erscheinungen. An den Demos in Rapperswil und Bern ist ein Button omnipräsent: «Widerstand ist sexy», was jeder bestätigen kann, der es geschafft hat, bereits in Teenager­jahren eine gepflegte Pubertät hinzulegen. Aber auch Pubertäten haben Halbwerts­zeiten, und wenn die Massnahmen enden, wogegen will man dann demonstrieren?

«Das Gefühl, zu einer Gruppe zu gehören, etwas zu bewegen – obwohl sie ja bis auf die Debatte bislang nichts bewegt haben –, das ist ein gutes, ein starkes Gefühl. Das hängt man nicht einfach wieder in den Schrank und wartet auf die nächste Bewegung», sagt Bühlmann. «Aber es wird schwierig, diese Spannung aufrecht­zuerhalten, wenn das Thema, das jetzt viele auf die Strasse bringt, plötzlich wegfällt.»

Die Infrastruktur ist da, und wie – aber was nützt die längste, noch so gut gewartete Pipeline, wenn man keinen Stoff hat, den man transportieren kann?

Neue Themen müssen her und am besten eine ganze Reihe, denn: «Um langfristig als schlagfertige Organisation auftreten zu können, muss man Leute hinter sich haben, die gleicher Meinung sind – nicht nur bei einem Thema, sondern bei möglichst vielen», sagt Bühlmann.

Das könnte ein Problem werden.

Je breiter die Bewegung, desto schmaler der Grat

An der Demo in Bern: Zwei junge Männer, eine Flagge mit Sozialisten-Faust vor schwarz-rotem Hintergrund über der Schulter, laufen sichtlich entrüstet davon. «Was für verdammte Arschlöcher!», sagt der eine und scheint sich einen Moment lang zu überlegen, ob er nicht doch umkehren und die Konfrontation suchen soll – er lässt es und protestiert weiter vorne gegen die Massnahmen weiter.

Auch das ist irgendwie eine Leistung: Die Kund­gebungen der Massnahmen­gegner sind wohl die einzigen, an denen sich Antifaschistinnen und Faschisten nicht nur in Form von Demonstrantinnen und Gegen­demonstranten aufs Dach zu geben drohen, sondern auch im gleichen Zug, Schulter an Schulter. Und irgendwie ist es ja ganz rührend, wenn libertäre Jungspunde linken Stadträtinnen auf der Bühne zujubeln oder die links-grün wählende Feministin samt Frauen­streik-Button sich einen Moment lang vom SVP wählenden Berg­bauern verstanden fühlt.

Die Frage ist, wie lange der Friede währt. Was eint die Massnahmen­gegner ausserhalb dessen, dass sie gegen die Massnahmen sind?

Die Organisation selbst betont immer wieder, dass sie weder links noch rechts ist. Und tatsächlich scheinen die Mitglieder von Vorstand und Präsidium breit gestreut.

Da wäre zum Beispiel Sandro Meier, Ökonom und unterdessen Vollzeit für die Kampagnen­führung des Vereins zuständig, der sich gegenüber der NZZ als ehemaliger «Links-grün-Wähler» bezeichnet. Medien­verantwortlicher und Reederei­agentur-Besitzer Michael Bubendorf wiederum war einmal Mitglied bei der SVP. Vorstands­mitglied Alec Gagnaux engagierte sich für die Ecopop- und für die Vollgeld­initiative. Für Letztere setzte sich auch Christoph Pfluger ein, Solothurner Verleger, Autor und Kritiker des Finanz­sektors sowie Gründungs­mitglied der «Freunde der Verfassung»; wegen Uneinigkeit in Impf­fragen unterdessen aus dem Vorstand ausgetreten. Weiterhin im Vorstand aktiv ist Markus Häni, ehemaliger Kanti­lehrer, der aufgrund seiner Aufrufe zu Ungehorsam gegenüber den Massnahmen seine Stelle verlor. Präsidiert wird die Organisation von Werner Boxler, Life-Coach und ausgebildeter Sozial­pädagoge, und Marion Russek, die von sich sagt, sie sei bis zur Pandemie unpolitisch gewesen (ihr Engagement im Zuger Komitee gegen die Atom­ausstiegs­initiative muss ihr entfallen sein).

Zweifellos ein bunter Haufen. Und für was steht der?

Auf ihrer Website finden sich unter der Kategorie «Unsere Werte» Punkte, die den Beigeschmack von rechter Rhetorik haben («Der Souverän als oberste Staats­macht», die portierte Unfehlbarkeit des Volkes), genauso wie Sätze, die inhaltlich und tonal in jedem linken Partei­büchlein stehen könnten («Rechtliche Gleichheit für alle, unabhängig von Nationalität, Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, Glaube, Alter oder Vermögen, bei gleichzeitiger Förderung der kulturellen Vielfalt»).

Aber nichts davon ist wirklich konkret. Konkret wird es dann, wenn es darum geht, gegen etwas zu sein: gegen Covid-Massnahmen, PMT, staatliche Medien­förderung.

Reicht das? Politologe Marc Bühlmann schüttelt den Kopf. «Nicht einmal die SVP kommt nur damit durch, anti zu sein – irgendwann läuft sich das tot.»

Die «Freunde der Verfassung» würden jetzt wahrscheinlich sagen, dass sie sehr wohl für etwas stehen: die Wahrung der in der Verfassung festgehaltenen Grund­rechte, die Freiheit.

Aber welche Partei sieht sich schon nicht als Hüterin der Grund­rechte? Und wie nachhaltig ist Freiheit als Programm?

«Man kann jede Gesetzes­vorlage irgendwie auf das Thema Freiheit drehen, weil jedes Gesetz eine Einschränkung bedeutet. Die Frage ist, wie glaub­würdig man dabei argumentieren kann», sagt Bühlmann. «Heute gehe ich auf die Strasse, weil das Covid-Gesetz meine Freiheit einschränkt, aber gehe ich morgen auch gegen das Medien­gesetz auf die Strasse?»

Organisationen leben von ihrer Glaub­würdigkeit. Da holpert es auch schon. Kann man glaub­würdig für Daten­schutz weibeln, ohne sich mit den Daten­kraken von Big Tech anzulegen? Kann man glaub­würdig an allen Orten Transparenz fordern und gleichzeitig verschweigen, wer hinter den Gross­spenden an die eigene Organisation steckt?

Kein Zweifel, Glaub­würdigkeit ist schnell verspielt. Wie aber erarbeitet man sie sich?

«Damit man lang­fristig glaub­würdig sein kann, müssen Entscheide mit Werten begründet werden. In der Politik bedeutet das, man ist entweder konservativ, sozial­demokratisch, sozialistisch, nationalistisch, ökologistisch oder liberal. Ideologiefrei zu sein, funktioniert länger­fristig nicht.»

Das würde bedeuten, dass sich die «Freunde der Verfassung» auf Werte festlegen müssen. Und was sie heute so stark macht, könnte ihnen dabei morgen das Genick brechen: die Heterogenität.

Ein Beispiel: Die Organisation zitiert oft und gerne die Präambel der Verfassung, gemäss der sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst. Aber wer sind diese Schwachen? Sind es selbst­ständige Nidwaldner Beizer, die wegen der Pandemie Umsatz­einbussen hatten? Oder ist es die allein­erziehende IV-Bezügerin, die einen dunkleren Teint hat als die Schweizer Durchschnitts­bevölkerung?

Egal, wie sich die «Freunde der Verfassung» entscheiden würden – ein beachtlicher Teil ihrer Anhängerschaft würde sich in jedem Fall abwenden. Je breiter die Bewegung, desto schmaler der Grat, auf dem man manövrieren kann.

Die «Freunde der Verfassung» haben damit drei Möglichkeiten:

  1. Sie schärfen ihr Profil nicht, bearbeiten nur punktuell Themen und riskieren, in die Bedeutungs­losigkeit zu rutschen.

  2. Sie schärfen ihr Profil nicht, bearbeiten breit abgestützte Themen, die einmal den einen Flügel, einmal den anderen Flügel zufrieden­stellen, und büssen an Glaub­würdigkeit und langfristig an Mitgliedern ein.

  3. Sie machen es wie viele Bewegungen, die heterogen starten, schärfen ihr Profil, entscheiden sich für eine Stoss­richtung und verlieren alle anderen Flügel.

«Jede Partei hat Flügel­kämpfe, ein Spektrum», sagt Bühlmann. Nur ist die Erfahrung, damit umzugehen, dort um einiges grösser als bei einer neuen Gruppierung, die so schnell gewachsen ist. «Wenn der grosse gemeinsame Nenner wegfällt, droht nicht gerade der Tod, aber die Marginalisierung.»

Kein Wunder also, wollen die «Freunde der Verfassung» trotz guter Wahl­chancen keine Partei werden – sie müssten sich schlicht bei zu vielen Themen einig sein, bei denen sie nicht einig sind.

Wie aber bleibt man als Bewegung stark, auch ohne Partei zu werden? Zum Beispiel, indem man eine Gesetzes­initiative lanciert. Die von den «Freunden der Verfassung» angekündigte Initiative, die es erlauben würde, Gesetze direkt via Volks­beschluss – also ohne Umweg über das Parlament – zu verabschieden, würde bei Annahme nicht nur ihnen, sondern auch allen anderen ausser­parlamentarischen Bewegungen sehr viel mehr Einfluss und Gewicht geben. Die Sache hat einen Haken: «Solche Initiativen gab es immer wieder, mal von rechts, mal von links – die Chancen sind aber verschwindend gering, der Stoff ist zu technisch, die Veränderung zu einschneidend; der politische Widerstand gross», sagt Bühlmann.

Das sind schlechte Nachrichten für die Verfassungs­freunde. Aber unabhängig davon, wie es mit ihnen langfristig weiter­geht – bei zwei, drei, vier Abstimmungen werden sie mit Sicherheit noch eine Rolle spielen. Vielleicht sogar eine tragende.

Und das ruft die Partei auf den Plan, die seit Jahren wahnsinnig erfolgreich das Misstrauen der Bevölkerung in den Staat organisiert.

Folklore­truppe der SVP?

Von der Teilnehmer­zahl einmal abgesehen, unterscheiden sich die Demonstrationen in Rapperswil und Bern vor allem in einem: den Reden nach dem Marsch. Während die Ansprachen in Rapperswil von rechten Rednern dominiert werden, sprechen in Bern vor allem linke Aktivistinnen wie das feministische Kollektiv «Lookdown». Auffallend ist jedoch, dass der Applaus bei linken Rednern verhaltener ist als bei rechten oder politisch nicht klar verortbaren Rednerinnen. Was unter anderem wahrscheinlich daran liegt, dass «bedarfs­finanzierte Care-Arbeit» als Schlacht­ruf wesentlich schlechter geeignet ist als «Liberté!» – aber es untermauert auch, was verschiedene Umfragen und Studien festgestellt haben: Die Bewegung ist zwar heterogen, hat aber eine klare rechte Schlagseite.

Gemäss einer Studie der Universität Basel, die bis letzten Dezember die «Politische Soziologie der Corona-Proteste» untersuchte, würden 43 Prozent der Protestierenden bei den nächsten Wahlen SVP wählen. Eine aktuelle Umfrage der Forschungs­stelle Sotomo für die SRG stellt fest, dass die Gegnerinnen des Covid-19-Gesetzes vor allem bei Wählern mit SVP-Bindung zu finden sind – 69 Prozent lehnen die Vorlage klar ab. Zweit­platziert sind die Wählerinnen der Grünen mit 16 Prozent klarem Nein.

Die Überschneidung mit der SVP kommt nicht von ungefähr, denn auch wenn sich die «Freunde der Verfassung» unparteiisch geben, bespielen sie das Feindbild «politische Elite», bestehend aus Parlamentariern, Bundes­rätinnen, Experten und Medien – und sind damit auf Linie mit der SVP. Nur: Was bedeutet das für die Volks­partei?

«Umfragen sind mit Vorsicht zu geniessen», sagt Bühlmann. «Aber wenn die ‹Freunde der Verfassung› eine Partei gegründet hätten, hätten sie wohl die SVP Stimmen gekostet und sonst keine andere Partei – zumindest nicht nennenswert.»

Ist es also ein Glücksfall für die SVP, dass die «Freunde der Verfassung» keine Partei gründen wollen? «Langfristig nicht», sagt Bühlmann. Sie könnten zwar sicher ein paar wenige Parlaments­sitze holen, «aber wenn sie in Kommissionen Einsitz nehmen wollen, Einfluss nehmen wollen, würde ihnen keine Wahl bleiben, als sich der SVP-Fraktion anzuschliessen, ähnlich wie die MCG oder die Lega, die zwar populistische Parteien sind, aber nicht ausschliesslich rechts.» Und wenn sich die «Freunde der Verfassung» wider Erwarten rechts von der SVP positionieren? «Dann werden sie früher oder später von der SVP geschluckt, wie die Auto­partei, die ihrerseits ebenfalls sehr schnell sehr gross wurde, bevor sie verschwand.»

Das heisst: Die SVP gewinnt in jedem Fall. Entsprechend reagiert die Partei auch auf die Bewegung: erst Stimm­freigabe bei der ersten Abstimmung zum Covid-19-Gesetz (obwohl die Mehrheit der SVP-Parlamentarier klar für die Vorlage stimmte), bei der kommenden Abstimmung mit wenigen Ausnahmen die Nein-Parole. Dann zeigt sich Bundesrat Ueli Maurer im Trychler-Pulli und es erklärt Übergrossvater Christoph Blocher (notabene erst nach der Abstimmung), warum er im Juni fünfmal Nein gestimmt hat – beim Covid-Gesetz und ja, auch beim PMT, obwohl er als Bundesrat damals für die grund­rechtlich fragwürdige präventive Bespitzelung von Terror­verdächtigen weibelte.

«Man muss der SVP noch nicht einmal Kalkül unterstellen», sagt Bühlmann. «Es liegt ein Stück weit in ihrer Natur, dass sie einer Bewegung wie den ‹Freunden der Verfassung› nahesteht.» Die moderne SVP ist durch die Abstimmung zum EWR-Nein gross geworden. Wie den «Freunden der Verfassung» heute ist es ihr damals gelungen, das Misstrauen in die anstehenden Veränderungen zu organisieren. «Und weil sie bereits eine erfahrene Partei war, konnte sie das Thema ohne weiteres ins Programm aufnehmen und daraus eine Linie formen: Anti-Europa, Anti-Ausländer», sagt Bühlmann.

Ähnlich wie damals der SVP ist es den «Freunden der Verfassung» gelungen, unpolitische Menschen zu mobilisieren und zu organisieren. Das kommt der SVP gelegen. Denn: «Die SVP hatte vor der Pandemie ein bisschen ein Form­tief, weil die Klientel, die sie bislang bediente – eine globalisierungs­kritische, rurale Bevölkerung – wohl nicht mehr so unzufrieden ist wie auch schon», sagt Bühlmann. «Die Pandemie, in der das Misstrauen mancher Bevölkerungs­kreise sich wieder sehr konkret manifestiert, ist insofern ein Segen für die SVP.»

Die SVP braucht die «Freunde der Verfassung» – bei der Abstimmung um das Medien­förderungs­gesetz im Februar genauso wie bei der schon lange angedachten Initiative, die die SRG-Gebühren auf 200 Franken reduzieren will und voraus­sichtlich im nächsten Jahr lanciert wird. Und die «Freunde der Verfassung» wiederum brauchen die Unterstützung einer etablierten Partei – denn referendums­fähig zu sein und Demonstrationen mit Zehn­tausenden Teilnehmerinnen auf die Beine zu stellen, bedeutet nicht, dass man Abstimmungen gewinnt.

Das ist den «Freunden der Verfassung» durchaus bewusst. Denn auch wenn sie sicherlich ein Sammel­becken sind für Verschwörungs­theoretiker und an Demonstrationen wie in Bern Menschen herumlaufen, die Schilder hochhalten, auf denen «The Earth is Flat» steht – auf ihren offiziellen Kanälen bemühen sie sich mehrheitlich um Sachlichkeit (von gelegentlicher Kampagnen­polemik, vereinzelten Fake-News-Zwischen­rufen und persönlichen Attacken abgesehen), sie berufen sich teilweise auch auf seriöse Quellen, sprechen den demokratischen Prozessen ihr Vertrauen aus und rufen seit geraumer Zeit nur noch zu bewilligten Demonstrationen auf. Klar legen sie Zahlen und Unklarheiten zugunsten ihres Narrativs aus und lassen gewichtige Informationen weg, die nicht ins Weltbild passen. Aber tut das im Abstimmungs­kampf nicht jede Partei mehr oder weniger?

Die «Freunde der Verfassung» tun es sicherlich eher mehr als weniger, und doch signalisiert ihr Auftritt unmissverständlich, dass sie von den etablierten Parteien und Institutionen ernst genommen werden wollen – «aber der einzige Akteur, der wenigstens so tut, als würde er sie ernst nehmen, ist die SVP», sagt Bühlmann. «Ein interessantes Gedanken­spiel: Was wäre, wenn die SP oder eine andere Partei auf die ‹Freunde der Verfassung› zugegangen wäre – ohne Anbiederung, ohne blind zuzustimmen, aber mit der Bereitschaft zum Dialog?»

Nur: Das ist leichter gesagt als getan. Denn auch wenn sie sich auf ihren offiziellen Kanälen um einen sachlichen Tonfall bemühen, an der Demo in Bern treten dann doch Redner wie Verfassungs­freund und Vorstands­mitglied Markus Häni auf, der in einem Nebensatz plötzlich von der «Endphase des Master­plans der Ära Gates/Schwab» spricht. (Wobei fairer­weise gesagt werden muss, dass der Redner, der an beiden Demos den grössten Stuss rauslässt, von der SVP und nicht von den «Freunden der Verfassung» gestellt wird: ein Schwyzer Kantonsrat, der von «Tausenden von Impftoten» in der Schweiz, Kriegs­gerichten und «Kämpfen bis zum letzten Bluts­tropfen» fabuliert.)

Die extremen, teilweise scheinbar völlig von der Realität losgelösten und damit den demokratischen Diskurs vergiftenden Stimmen in den Reihen der Massnahmen­kritiker sind nicht zwingend repräsentativ für die Mehrheit, aber sie sind da, und sie sind laut. Und die «Freunde der Verfassung» hüten sich oft davor, sich in aller Deutlichkeit von ihnen zu distanzieren. Genau das macht es für jede Partei, die nicht SVP ist, enorm schwierig, die neue Bewegung und ihre grösste Organisation ernst zu nehmen.

Für die wiederum ist die singuläre Schützen­hilfe der grössten Partei keineswegs nur positiv: «Mit jeder Abstimmung mehr, bei der sie zufällig auf SVP-Linie liegen, mit jedem Referendum, für das sie gemeinsam Unter­schriften sammeln, steigt für die ‹Freunde der Verfassung› das Risiko, dass sie sozusagen zur Folklore­gruppe der SVP werden, die vor Abstimmungen jeweils trychelnd durch die Gassen zieht», sagt Bühlmann. «Oder sie enden wie die Auns, die zwar eine partei­übergreifende und unabhängige Bewegung sein will, faktisch aber unter dem Protektorat der SVP steht.»

Für die «Freunde der Verfassung» stellen sich also eine ganze Reihe von Hürden, wenn sie sich langfristig als breit abgestützte, schlag­kräftige, unabhängige Stimme in der Polit­landschaft halten wollen. Ausgeschlossen ist es nicht. So, wie es nicht ausgeschlossen ist, dass sie Ende November die zweite Abstimmung zum Covid-19-Gesetz doch noch gewinnen. In beiden Fällen dürfte es eng werden.

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