Auf lange Sicht

Trotz Impfung im Spital: Wie häufig ist das wirklich?

Wie Grafiken, die im Netz kursieren, täuschen können. Und wie sich die Lage aktuell tatsächlich präsentiert.

Von Marie-José Kolly, 15.11.2021

Zahlen, Balken, Pfeile: Jeden Montag schärfen wir Ihren Blick für die ganz grossen Zusammenhänge.

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«Eine Grafik, die ich mehr als 10 Sekunden ansehen muss, um sie zu verstehen, ist wertlos», sagte ein hochdekorierter Statistiker einmal an einer Konferenz zu mir. Und ich stimme ihm grösstenteils zu.

Warum?

Weil die meisten Leserinnen, ich eingeschlossen, sich schlicht nicht die Zeit nehmen, länger hinzuschauen und zu überlegen, was eine komplexe Visualisierung nun genau aussagt. Was die kleingedruckten Details bedeuten. Wie so oft im Leben zählt, leider, der erste Eindruck.

Das heisst im Gegenzug auch, dass man mit Daten und Grafiken allerlei Unfug in die Welt setzen kann. Was besonders jene gerne machen, die an entstellenden Aussagen interessiert sind. An Desinformation.

Manchmal passiert ein grafischer Ausrutscher aber auch jenen, die eigentlich informieren wollen – die aber vielleicht nicht beachten, dass viele Leute nicht die data literacy oder die graphics literacy besitzen, die es zum Verständnis bräuchte. Oder die hastig gearbeitet haben – und wenig auf ihre Zielgruppen bedacht.

Auch solche Grafiken verwenden dann jene gern, die damit eine ganz bestimmte Aussage untermauern wollen. Umso besser, wenn eine Darstellung auch gleich noch einen offiziellen Absender hat.

Ein aktuelles Beispiel

Jetzt wäre es irgendwie blöd, hier eingangs gleich eine irreführende Grafik zu zeigen und Ihnen als Erstes eine irreführende Aussage ins Gehirn zu brennen. Der erste Eindruck zählt, und Visualisierungen sind wirkungsmächtig.

Machen wir es also umgekehrt, schauen wir uns zunächst eine vernünftige Grafik an.

Wahrscheinlich haben Sie in den letzten Wochen auch von Impf­durchbrüchen gehört. Oder kennen selber jemanden, der sich trotz der Impfung mit Corona angesteckt hat. Und vielleicht haben Sie sich schon gefragt: Wie häufig passiert das denn nun genau? Und wie häufig enden solche Fälle im Spital?

Die kurze Antwort, auf die gleich noch ein «Aber» folgt:

Ende Sommer mussten massiv mehr Ungeimpfte ins Spital – und etwas mehr Geimpfte

Spitaleintritte pro 100’000 Einwohner: gleitender Mittelwert über 7 Tage

vollständig geimpft
teilweise geimpft
nicht geimpft
27. Januar30. Juni6. November01 Person pro 100'000

Quelle: Bundesamt für Gesundheit

Lassen Sie uns zunächst auf die Zahlen ab dem 30. Juni fokussieren.

Die rote Linie, die Hospitalisierungs­rate unter den Ungeimpften, liegt ab diesem Zeitpunkt stets deutlich oberhalb der dunkelblauen Linie, welche die Hospitalisierungs­rate unter den vollständig Geimpften zeigt. Pro 100’000 ungeimpfte Personen landeten also deutlich mehr im Spital als pro 100’000 geimpfte.

Man sieht ausserdem zwei unterschiedliche Dynamiken. Unter den Ungeimpften nahmen die Spitaleintritte über den Sommer hinweg erst steil zu und dann ab Mitte August wieder ab.

Im August mussten, gemessen an der Zahl aller Geimpften, auch etwas mehr Geimpfte ins Spital als zuvor. Seither hat sich aber der Anteil der Geimpften, die mit Covid-19 ins Spital mussten, nicht mehr gross verändert.

Impfdurchbrüche sind grundsätzlich erwartbar – denn die Impfung schützt eben nicht zu 100 Prozent vor einer Ansteckung, sondern zu rund 94 Prozent, gemäss den klinischen Studien, die im Herbst 2020 publiziert wurden. Und mit der ansteckenderen Delta-Variante, die auch Impfungen besser umgehen kann als frühere Varianten, ist die Wirksamkeit leicht gesunken. Impfdurchbrüche kommen also noch etwas häufiger vor.

Man musste auch damit rechnen, dass ein (kleiner) Teil der Personen im Spital landen würde, obwohl sie schon geimpft sind. Nach einer gewissen Zeit nimmt dieser Anteil erwartungsgemäss zu, denn bei Menschen, die älter oder vorerkrankt sind, hat das geschwächte Immunsystem weniger stark auf die Impfung reagiert. Und sie wurden prioritär geimpft: Es ist also schon viel Zeit vergangen, während derer die Zahl Ihrer Antikörper abnehmen konnte. Deshalb gibt es für sie nun auch Booster-Impfungen.

Nun zum «Aber» und damit zu den Zahlen vor dem 30. Juni: Die Grafik oben unterschlägt, dass bei vielen Patientinnen der Impfstatus unbekannt ist – besonders in der ersten Jahreshälfte waren die diesbezüglichen Meldungen der Spitäler oft lückenhaft.

Diese unbekannten Fälle wurden in den oben visualisierten Daten jeweils in gleichem Mass den drei Impfstatus zugerechnet, wie das Bundesamt für Gesundheit auf Anfrage der Republik schreibt. Ob das die Realität adäquat darstellt, darüber kann nur spekuliert werden: Ging die Information auf der Meldung seitens Ärztin oder Spital in der Hektik vergessen? Dann könnten Unbekannte tatsächlich gleich häufig für vollständig, teilweise und nicht Geimpfte stehen. Oder sich proportional auf die verschiedenen Gruppen verteilen. Oder war der Impfstatus bei vielen Meldungen unbekannt, weil die ungeimpften Patientinnen lieber nicht über ihren Impfstatus sprechen?

Das Ausmass dieser Unbekannten sieht man, wenn man die Kurven nicht als Inzidenz pro 100’000 (vollständig, teilweise oder nicht geimpfter) Einwohner berechnet, sondern einfach als absolute Werte zeigt:

Vor dem Sommer war der Impfstatus häufig unbekannt

Spitaleintritte: gleitender Mittelwert über 7 Tage

vollständig geimpft
teilweise geimpft
nicht geimpft
unbekannt
30. Januar30. Juni6. November03060 Personen

Quelle: Bundesamt für Gesundheit

Wie man anhand der grauen Linie sieht, sind die Zahlen nach Impfstatus bis Ende Juni mit besonders viel Unsicherheit behaftet – und entziehen sich deshalb bis zu einem gewissen Grad einer Interpretation.

Wenn man, wie in dieser zweiten Grafik, absolute Werte statt Inzidenzen abbildet, vernachlässigt man allerdings eine weitere wichtige Tatsache: Die Grund­gesamtheiten der vollständig, teilweise und nicht Geimpften haben sich über die Zeit massiv verändert. Zwischen Januar und heute liegt eine Impfkampagne, mittlerweile sind fast 65 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Bei den Älteren sind es nochmals deutlich mehr.

Vielleicht haben Sie sich die Kurve angeschaut und sich gefragt: Warum landen heute mehr vollständig als teilweise Geimpfte im Spital?

Das liegt natürlich nicht daran, dass teilweise geimpfte Personen weniger gefährdet wären als vollständig geimpfte (das Gegenteil ist der Fall), sondern daran, dass es weniger von ihnen gibt.

Dieses Problem ergibt sich auch, wenn man diese Zahlen in Prozent aller Hospitalisierten darstellt – so wie dies in letzter Zeit oft gemacht wurde. Und dann ist dort noch ein weiteres Problem.

Die Grafik, die wir nur zähneknirschend zeigen

Bei einem kurzen Blick auf die nächste Grafik könnte der Eindruck entstehen, dass in den Spitälern die Belastung durch geimpfte Covid-19-Patienten rapide gestiegen wäre. Oder gar: Dass der Nutzen der Impfung innert kurzer Zeit abgenommen hätte, sodass Geimpfte ähnlich stark gefährdet wären wie Ungeimpfte. Beides ist nicht der Fall.

Die Darstellung ist irreführend, weil 100 Prozent sich auf unterschiedliche Verhältnisse beziehen

Spitaleintritte in Prozent: gleitender Mittelwert über 7 Tage

vollständig geimpft
teilweise geimpft
nicht geimpft
unbekannt
30. Januar6. November050100 %

Quelle: Bundesamt für Gesundheit

Sie erinnern sich an die beiden Grafiken weiter oben: Die vierte Covid-Welle war darauf gut zu erkennen. Hier ist sie unsichtbar geworden, weil die Zahl der Spitaleintritte täglich neu als «100 Prozent» definiert wird. Die vierte Welle ist hinter der Darstellung in relativen Zahlen verschwunden.

Oder anders ausgedrückt: 20 Fälle an einem Sommertag sind 100 Prozent. Und 2000 Fälle an einem Novembertag sind 100 Prozent.

An den relativen Zahlen liegt es auch, dass die Spitaleintritte vollständig geimpfter Personen hier als Problem erscheinen. Sie erinnern sich: Seit August sind diese Spitaleintritte eigentlich ziemlich stabil. Hier variieren sie aber, und zwar primär aus dem Grund, dass die Hospitalisierungen bei den Ungeimpften während dieser vierten Welle erst so stark stiegen und wieder sanken.

Wenn man nun, wie das die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich macht, die Grafik erst beim Maximum dieser Welle beginnen lässt, könnte man beim schnellen Lesen tatsächlich den Eindruck erhalten, dass mittlerweile immer weniger Ungeimpfte und immer mehr Geimpfte wegen Covid-19 ins Spital müssen.

Das ist falsch: Seit August müssen nicht mehr Geimpfte ins Spital – sondern weniger Ungeimpfte.

Bleiben Sie deshalb wachsam: Manchmal lohnt es sich eben doch, etwas länger auf eine Grafik zu schauen. Besonders dann, wenn die methodische Einordnung zur Grafik schmal ausfällt – oder wenn ihr Absender eine dezidierte Meinung vertritt, die vielleicht sogar dem wissenschaftlichen Konsens zuwiderläuft.

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