Am Gericht

Teure Unschuld

Eine Frau wird im Umfeld einer Demo gegen den «Marsch fürs Läbe» verhaftet und per Strafbefehl verurteilt. Sie geht vor Gericht, wo es einen Freispruch gibt. An die Kasse kommt sie trotzdem.

Von Sina Bühler, 03.11.2021

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Mitte September 2021 fand er zum elften Mal statt, der sogenannte «Marsch fürs Läbe» gegen Abtreibung, mit evangelikalen Gross­familien, katholischen Pfarrern, Nonnen und tausend weiteren Teilnehmern. Ein ehemaliger Weih­bischof las die Grussworte von zwei amtierenden Bischöfen vor. Und dann marschierten die Abtreibungs­gegnerinnen durch Oerlikon, liessen Luftballone fliegen, schwenkten Plakate mit Bildern von lächelnden Babys und weichgezeichneten Föten. Abgeschirmt von der Polizei.

Im Vorfeld des Marsches hatte es wie in den Jahren zuvor schon hitzige Diskussionen um die Bewilligung gegeben. Der Zürcher Stadtrat erteilte sie erst nach einem Entscheid des Statthalters – und zwar für Oerlikon; nicht wie von den Organisatoren beantragt für die Innenstadt, wo es schon früher zu Anti-Abtreibungs-Märschen und Gegendemos gekommen war. Auch in Oerlikon tauchten 200 Gegen­demonstranten auf; gefolgt von der Polizei mit Kasten­wagen, Gitter, Wasser­werfer, Helm, Schild und Gummischrot­gewehr. Sie kontrollierte und verzeigte ein Dutzend Personen, nahm zwei von ihnen fest.

Regelmässig führt der «Marsch fürs Läbe» zu juristischen Nachspielen. So brachte die Kundgebung vom September 2019 eine Frau vor einen Einzel­richter in Strafsachen am Bezirksgericht Zürich.

Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 21. Oktober 2021, 13.30 Uhr
Fall-Nr.: GC200146
Thema: Teilnahme an einer nicht bewilligten Veranstaltung

Mit den Kundgebungen fundamentalistischer Christen haben die Behörden im Grunde genommen kein Problem. Dass die Bewilligung für den «Marsch fürs Läbe» auch für den September 2019 erst erteilt wurde, nachdem sich zwei Instanzen darüber gebeugt hatten, das Statthalter­amt und das Verwaltungsgericht, hatte mit Sicherheits­bedenken wegen allfälliger Gegen­demonstrationen zu tun.

Zwei Jahre später geht es vor Gericht um die Ereignisse am 14. September 2019. Um 14 Uhr stehen an diesem Tag um die tausend Christen auf dem Turbinen­platz im Zürcher Kreis 5, bereit, um für Embryonen, Föten und Jesus zu marschieren. Derweil organisieren sich die Gegnerinnen dezentral. Die Juso protestieren – mit Bewilligung – im angrenzenden Kreis 4, während im Kreis 5 viele kleine Gruppen versuchen, die Kund­gebung der Abtreibungs­gegner zu stören.

Es kommt zur Eskalation

Ein Teil der Gegendemonstranten versammelt sich ohne Bewilligung auf der Josefwiese, einem offenen Park. Gleichzeitig kommt es in der Nähe zur Eskalation. Gegen­demonstrantinnen bauen Barrikaden, die Polizei setzt Gummi­schrot und Wasser­werfer ein. Als unter der Hardbrücke Container brennen und die Feuerwehr an der Durchfahrt gehindert wird, flüchten jene, denen es unwohl wird, auf die Josefwiese. Die Polizei ihnen hinterher. Wie die «Wochenzeitung» später berichtet, setzt sie im Park, in dem Kinder spielen, Tränengas und Gummi­schrot ein.

Auch Susanna Meier, die in Wirklichkeit anders heisst, ist zu diesem Zeitpunkt auf der Josefwiese.

Zwei Jahre später sitzt sie in einem leuchtend blauen Pullover und mit einem Bowlerhut auf dem Kopf nervös vor dem Gerichts­saal. Die heute 60-jährige Frau stammt aus Südamerika und lebt seit 30 Jahren in Zürich. Sie arbeitet im Gesundheits­wesen. Nun muss sie als Beschuldigte vor dem Strafrichter antraben, begleitet von ihrer Verteidigerin Viviane Hasler.

Einzelrichter Tobias Brütsch stellt ihr ein paar wenige Fragen zu ihrer Person und zu ihren Finanzen – und wechselt dann rasch zum Hauptthema.

«Sie waren eine von circa 175 Personen, die am 14. September 2019 an einer unbewilligten Demonstration gegen den ‹Marsch fürs Läbe› im Kreis 5 teilnahmen», stellt er fest.

Nein, sagt Meier, sie habe an dieser Demonstration nicht teilgenommen.

«Sie wurden aber eingekesselt und anschliessend verhaftet. Wieso?», insistiert der Richter.

«Das habe ich mich auch gefragt», antwortet die Frau.

Aus dem «Hauptharst» verhaftet

Vor mehr als einem Jahr war bei ihr ein Strafbefehl ins Haus geflattert. Eine knappe Seite, dicht beschrieben, ohne Absätze – in Lucida Console, einer Schrift aus den 80er-Jahren, die vielleicht den Text alter Polizei­schreibmaschinen imitieren soll.

Der Strafbefehl besteht vor allem aus Text­bausteinen, die weder leicht verständlich noch besonders lesbar sind: «Wegen (eventual)vorsätzlicher Widerhandlung gegen die allgemeine Polizei­verordnung der Stadt Zürich bzw. die Verordnung über die Benutzung des öffentlichen Grundes durch Teilnahme an einer nicht bewilligten Veranstaltung, indem die beschuldigte Person am 14. September 2019 (sicherlich gegen Ende hin) am Demonstrationszug ‹Gegendemo zum Marsch fürs Läbe› teilnahm, für welche Demonstration die erforderliche Bewilligung nicht vorlag und (…)»

In diesem Stil geht es 19 Zeilen lang weiter, bevor die Conclusio folgt: Susanna Meier wird schuldig gesprochen und verurteilt. Zu einer Busse von 200 Franken und einer Kosten- und Gebühren­pauschale von weiteren 250 Franken.

Für die Frau war der Inhalt des Schreibens ein chiffriertes Rätsel. Und selbst für versierte Gerichts­reporterinnen wird erst nach mehrfacher Lektüre klar, was Meier eigentlich vorgeworfen wird.

Sie soll an der Gegendemo teilgenommen haben, die um 12.45 Uhr auf der Josefwiese begann und um 16.45 Uhr von der Polizei mit einer Einkesselung von Demonstranten beim Zürcher Haupt­bahnhof beendet wurde. Meier habe sich «im Hauptharst» des Demonstrations­zugs befunden und sei deshalb verhaftet worden. Wegen mehrerer Lautsprecher­durchsagen, Scharmützel und Vermummungen müsse ihr klar gewesen sein, dass die Demo illegal war.

Bloss ein Kaffee mit einer Freundin

Die 60-Jährige bleibt dabei: Weder habe sie Durchsagen gehört, noch habe sie an einer Kund­gebung teilgenommen. Und dass es für Demonstrationen Bewilligungen brauche, das habe sie auch nicht gewusst.

Sie habe sich an diesem Nachmittag mit einer Freundin zum Kaffee auf der Josefwiese getroffen. An einem Stand zum Thema Abtreibung habe sie sich kurz mit jemandem unterhalten. «Als Schweizerin mit einem ausländischen Background interessieren mich solche Informationen. Ich wähle ja hier», sagt sie.

Doch dann sei es ungemütlich geworden im Park. Sie bemerkte Polizisten auf der Viadukt­brücke, die an der Josefwiese vorbeiführt, und sie sah, dass Frauen mit Kinder­wagen davonrannten. «Ich wusste, dass ich nicht auf der Josefwiese bleiben kann, und bekam Angst. Da haben meine Freundin und ich beschlossen, spazieren zu gehen.» Sie seien plaudernd die Geschäfte entlanggelaufen und gegen Ende der Konradstrasse plötzlich vor der Polizeisperre gestanden.

Ihre Freundin konnte noch passieren, Meier schaffte es nicht mehr. Sie wurde von der Polizei eine Stunde lang festgehalten. Danach durfte sie gehen, als eine der Ersten.

Ein dummer Zufall?

Zuerst habe sie gedacht, die Sache sei damit erledigt. Doch dann kam im Juni 2020 der Strafbefehl. Und die Angst war auch wieder da.

«Sie sagen also, es war ein dummer Zufall, dass Sie im Kessel gelandet sind?», fragt Brütsch.

«Ja», antwortet Meier.

Brütsch befragt die Beschuldigte, ob sie einen Bezug oder eine Meinung zum «Marsch fürs Läbe» habe?

Sie glaube, sagt Meier, die Leute hätten ein Recht, sich zu äussern.

Jetzt ist der Richter verwirrt. Ob sie die Demo oder die Gegen­demonstration meine?

Meier antwortet, sie habe nicht gewusst, dass es eine Gegen­demonstration gegeben habe.

Ob sie andere Menschen an der Demo gekannt habe?

Die Frau bejaht. Sie habe im Kessel einen älteren Herrn kennengelernt. Als sie ihn mehr als ein Jahr später wieder getroffen habe, habe er ihr erzählt, dass er ohne Busse davon­gekommen sei: «Da habe ich mir Sorgen gemacht.»

Hoffnung nach der Einvernahme

Der Strafprozess wird von einem Dolmetscher übersetzt. Meier versteht zwar Hochdeutsch, aber von der juristischen Sprache fühlt sie sich überfordert. Darum hat sie sich mit dem Strafbefehl an eine Anwältin gewandt, die im Namen ihrer Mandantin Einsprache erhob.

Nach einer Vorladung bei der Stadtrichterin hätten sie beide kurz Hoffnung geschöpft, erzählt Susanna Meier in einer Gerichts­pause. Doch nach der Einvernahme habe sich herausgestellt, dass die Busse nicht zurück­gezogen werde. Dass sie sich vor Gericht gegen eine Verurteilung wehren müsse.

In ihrem Plädoyer betont die Verteidigerin, dass die 60-jährige Frau von Anfang an beteuert habe, nichts mit der Demonstration zu tun zu haben. Die Polizei habe nichts bei ihr gefunden: weder Material noch Kleidung, um sich zu vermummen. Sie habe nie Kontakt zu den Organisatorinnen gehabt, überhaupt niemanden gekannt.

Die Verteidigerin verlangt einen Freispruch sowie eine Entschädigung von 473 Franken und 60 Rappen für die zwei Arbeitstage, die Meier für das Strafverfahren hatte aufwenden müssen. Ausserdem fordert sie für ihre Mandantin eine Genugtuung von 100 Franken: weil sie eingekesselt und festgehalten worden war. Plus die Erstattung der Anwalts­kosten von rund 3000 Franken.

Es gibt halt keine Beweise

Nach einer halben Stunde Beratung verkündet Tobias Brütsch sein Urteil. Susanna Meier wird freigesprochen. Der Richter teilt ihr aber auch mit, dass sie weder eine Entschädigung noch eine Genugtuung bekomme. Und dass ihr die Anwalts­kosten nicht zurückerstattet würden.

Als Grund dafür nennt er Zweifel an ihrer «Story». Susanna Meier sei nicht ganz unbeteiligt gewesen, sie habe sich im Umfeld der Gegendemo aufgehalten. Es gebe bloss keine Beweise – ein Freispruch «in dubio pro reo»: im Zweifel für die Angeklagte.

Die Anwaltskosten könne der Staat deshalb nicht übernehmen, weil es eine sehr einfache Angelegenheit gewesen sei – ein Bagatellfall, der ja nur mit einer geringen Busse geahndet worden sei. Dafür brauche es keine Verteidigung. Und dann sagt der Richter noch: «Ich habe den Eindruck, dass Sie sich bewusst unter Ihrem Wert verkauft haben.» Das sei nur als Rand­bemerkung zu verstehen.

Ob er damit wohl die Deutschkenntnisse der Frau meint? Oder deren politische Interessen? Brütsch führt die «Rand­bemerkung» nicht weiter aus.

Susanna Meier ist also nicht schuldig – und bleibt trotzdem auf ihren Anwalts­kosten sitzen. 3000 Franken. Der Freispruch kommt sie teuer zu stehen. Hätte sie den Strafbefehl akzeptiert und die Busse bezahlt, sie wäre deutlich billiger davongekommen.

Als sie nach dem Urteil aus dem Gerichtssaal kommt, fehlen ihr die Worte.

Ihre Anwältin Viviane Hasler sagt eine Woche später auf Nachfrage, dass sie Berufung angemeldet und das begründete Urteil bestellt habe – wobei sie natürlich nicht den Freispruch anfechten will.

Illustration: Till Lauer

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