«Meisterin der Wortwörtlichkeit»: Ilse Aichinger (1921–2016), aufgenommen im Jahr 1973. Brigitte Friedrich/Süddeutsche Zeitung Photo/Keystone

Aufruf zum Aichinger-Lesen

Am 1. November wäre Ilse Aichinger 100 Jahre alt geworden. Ihr literarisches Werk gehört zu den bleibenden des 20. Jahrhunderts.

Von Daniel Graf, 01.11.2021

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«Das vierte Tor», ihre erste Erzählung, erscheint am 1. September 1945 im «Wiener Kurier», vier Monate nach Kriegsende und auf den Tag genau sechs Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Aichingers Prosastück umfasst nur etwas mehr als eine Zeitungs­spalte, doch es ist einer der Texte, mit denen die deutsch­sprachige Nachkriegs­literatur beginnt.

Jenes «vierte Tor», von dem der Titel spricht, gehört zum Wiener Zentral­friedhof. Es führt zu dessen jüdischer Abteilung. Deshalb fährt die Tramway, mit der Aichingers Text einsetzt, «so schnell daran vorbei, als hätte sie ein schlechtes Gewissen».

Aber die Erklärung zum jüdischen Friedhof folgt bei Aichinger erst später. Zuvor stellt der Text selbst die Frage: «Wohin führt das vierte Tor?» – und spricht dann die Leserin direkt an: «Fragen Sie doch die Kinder mit den scheuen klugen Gesichtern», die da «beladen mit Reifen, Ball und Schultasche» auf das Friedhofs­gelände zusteuern. Aichinger macht den Leser zum Wiener Passanten, zum Akteur dieser Szene, der sich unversehens in einer zunehmend beklemmenden Unter­haltung wiederfindet:

[Die Kinder] tragen keine Blumen in den heissen Händen und sind nicht geführt von Vater, Mutter und Grosstante, wie andere Kinder, die man behutsam zum erstenmal einweiht in das Mysterium des Todes! Nicht wahr – das erschüttert Sie ein wenig und Sie fragen neugierig: «Wohin geht ihr?» «Wir gehen spielen!» «Spielen! Auf den Friedhof? Warum geht ihr nicht in den Stadtpark?» «In den Stadtpark dürfen wir nicht hinein, nicht einmal aussen herum dürfen wir gehen!» «Und wenn ihr doch geht?» «Konzentrations­lager» sagt ein kleiner Knabe ernst und gelassen und wirft seinen Ball in den strahlenden Himmel.

Es dürfte einer der ersten literarischen Texte – vielleicht der erste überhaupt – sein, in dem das Wort «Konzentrations­lager» fällt. Auch von den «Urnen aus Buchenwald» ist die Rede, vom «gelben Stern» und von Wien als einer «geistig getöteten, gefesselten Stadt».

«Ja, habt ihr denn gar keine Angst vor den Toten?», fragt das erwachsene «Sie» dieser Szene, bevor es aus Angst, mit den Kindern gesehen zu werden, verschwindet, mitsamt seinen «Herz­beklemmungen». Die Kinder antworten vielsagend: «Die Toten tun uns nichts!»

Aichingers Text, so lässt sich erschliessen, spielt im Jahr 1942, bevor sie am Ende ins Jahr 1945 überblendet und das Tram «die erste Station der Freiheit» ansteuern lässt. Unmissverständlich und in aller Klarheit verweist «Das vierte Tor» auf den Holocaust, lange bevor dieses Wort zur Bezeichnung für den nazistischen Zivilisations­bruch wird. Damit wird diese kurze Prosa­skizze zum geradezu programmatischen Text für Ilse Aichingers Schreiben «nach Auschwitz».

Noch allerdings steht ein solcher Text im Jahr 1945 ziemlich allein da – nicht nur in der neu gegründeten Tages­zeitung «Wiener Kurier», die mit ihren Leit­artikeln kräftig am öster­reichischen Opfer­mythos mitstrickte.

Von einer «Stunde null», von «Kahlschlag», wie die Stichworte einst lauteten, kann nach 1945 gross­mehrheitlich weder für die (west-)deutsche und österreichische Gesellschaft noch für die deutsch­sprachige Literatur die Rede sein. Die ersten Nachkriegs­jahre sind vielmehr dominiert von Restauration. Die literatur­geschichtlichen Kontinuitäts­linien sind sehr viel sichtbarer als eine Zäsur (was auch bedeutet, dass zumindest das Schreiben der Exilautorinnen weiterhin ein Gegen­gewicht zu den Verdrängungs­tendenzen der Zeit bildete). Dem Lesepublikum ist die Welt­flucht ins Überzeitlich-Metaphysische näher als historische Aufarbeitung und die Auseinander­setzung mit der eigenen Schuld. Und der Anti­semitismus in weiten Teilen der Gesellschaft ist mit dem Ende des Nazi­regimes nicht einfach verschwunden.

Für die – literarisch verarbeiteten – Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden blieb da zunächst wenig Raum. Genau darum aber handelt es sich in der Erzählung «Das vierte Tor». Die Geschichte über die Kinder, die nicht die Toten, sondern ihre Mitmenschen zu fürchten haben, erzählt auch von Ilse Aichingers eigener Biografie.

Gemeinsam mit ihrer Zwillings­schwester Helga wurde Ilse Aichinger am 1. November 1921 als Tochter einer Ärztin und eines Lehrers geboren. Die Mutter, Berta Aichinger, geborene Kremer, kam aus einer jüdischen Familie. Sie konvertierte vor der Geburt der Kinder zum Katholizismus und taufte auch die Töchter katholisch. 1926 trennten sich die Eltern, Berta Aichinger zog mit den Mädchen von Linz nach Wien, wo sie als Kinder­ärztin eine Praxis führte und für die Stadt als Schul­ärztin tätig war. Dann wurden 1938 die «Nürnberger Rassen­gesetze» in Österreich eingeführt. Fortan galt Berta Aichinger als «Volljüdin», ihre Töchter als «Mischling 1. Grades». Umgehend verlor die Mutter ihre Praxis, ihre Stellung als städtische Ärztin sowie ihre Wohnung.

Ilse Aichingers Schwester Helga konnte im Juli 1939 mit einem der letzten Kinder­transporte nach England fliehen, zu ihrer Tante Klara Kremer, die bereits in London lebte. Der Kriegs­beginn am 1. September 1939 verhinderte, dass die restliche Familie nach­kommen konnte. Aichingers Gross­mutter Gisela Kremer, bei der die Mädchen einen Gutteil ihrer Kindheit verbracht hatten, sowie die jüngeren Geschwister der Mutter, Erna und Felix, wurden am 6. Mai 1942 nach Minsk deportiert und unmittelbar nach der Ankunft im Vernichtungs­lager Maly Trostinez ermordet. Ilse Aichinger, so berichtet sie Jahrzehnte später in einem Interview, musste zusehen, wie ihre Gross­mutter «auf der Schweden­brücke in Wien» mit einem «Viehwagen» abtransportiert wurde. Von den Ermordungen ihrer Verwandten erfuhr sie erst nach dem Krieg.

Während der Kriegsjahre wird Aichinger dienst­verpflichtet und zu teilweise 12- bis 16-stündiger Arbeit pro Tag gezwungen. In freien Stunden führt sie in einer Art literarischem Tagebuch ihre ersten schrift­stellerischen Aktivitäten fort: Aufsätze, Prosa-Miniaturen, Gedichte, Textentwürfe. Und sie schreibt Briefe an ihre Zwillings­schwester. Weil jedoch ab 1942 de facto die einzig mögliche Kommunikation über Karten des Internationalen Roten Kreuzes erfolgte, auf denen sich nur alle drei Monate maximal 25 Wörter zwischen nahen Verwandten übermitteln liessen, ist klar: Die längeren Texte an Helga aus dieser Zeit sind gar nicht zum Abschicken gedacht gewesen. «Fiktive Briefe» nennt sie die Literatur­wissenschaftlerin Nikola Herweg, die die soeben erschienene Korrespondenz der Schwestern zwischen 1939 und 1947 herausgegeben hat – vielleicht die wichtigste Neuerscheinung im Jahr des 100. Geburtstags.

DLA Marbach
DLA Marbach
Rot-Kreuz-Nachrichten à 25 Wörter: Ilse und Berta Aichinger kommunizieren von Wien aus mit Bertas Schwester Klara Kremer und mit Helga Aichinger – die da bereits Helga Singer heisst.
Ilse Aichinger (links) mit ihrer Zwillingsschwester Helga und deren Tochter Ruth 1948 in London, in der Phase ihres ersten Wiedersehens nach dem Krieg. DLA Marbach

Ilse Aichinger und ihre Mutter überleben in Wien. Nach dem Krieg beginnt sie das Medizin­studium, das ihr während des National­sozialismus verwehrt war. Sie bricht aber 1947 ab, um ihren während der Kriegsjahre begonnenen Roman «Die grössere Hoffnung» abzuschliessen, der 1948 in dem mittlerweile in Amsterdam beheimateten Verlag von Brigitte und Gottfried Bermann Fischer erscheint.

Darin erzählt Aichinger die Geschichte ihrer Protagonistin Ellen, von «einem jungen Mädel» zur Zeit der Verfolgung in Wien, wie sie in einem Brief an Helga nach England schreibt. «Dieses junge Mädel», fügt sie hinzu, «bist Du und ich». Und mit ihnen seien zugleich alle Jugendlichen gemeint, «die gelitten haben».

«Die grössere Hoffnung»

Eine Fliege kroch von Dover nach Calais.

Der vermutlich bekannteste Satz des Romans steht gleich auf dessen erster Seite. Und von Beginn an macht der Text deutlich, dass er zwar ungeschönt von der jüngsten Vergangenheit erzählt, von Juden­verfolgung, Krieg und Tod, dabei in seinen literarischen Mitteln aber weit über einen dokumentarischen Realismus hinausgreift.

Schon der allererste Satz reisst einen eigenen Assoziations­raum auf, indem er den Orts­namen wörtlich nimmt: «Rund um das Kap der Guten Hoffnung wurde das Meer dunkel.» Es beginnt, wortwörtlich, mit einer Hoffnungs­perspektive, die sich noch im selben Satz verdunkelt. Ein Kipp­moment, auf den ein weiterer folgt. Denn die Dunkelheit, nicht als Metapher, sondern nun wieder ganz konkret beim Wort genommen, bietet in Wirklichkeit jenen Schutz, die da unterwegs sind:

Das Schiff ging von Hamburg aus in See. Das Schiff trug Kinder. (…) Kinder, die fliehen mussten. Keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu bleiben und keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu gehen.

Kinder mit falschen Grosseltern, Kinder ohne Pass und ohne Visum, Kinder, für die niemand mehr bürgen konnte. Deshalb fuhren sie bei Nacht.

Die Szene bekommt jedoch noch einmal eine Wendung.

Die Schiffsreise ist eine imaginierte, bloss geträumte, jedenfalls für Ellen. «Die grössere Hoffnung» handelt von jüdischen Kindern, die der Verfolgung ausgesetzt sind, fliehen wollen und nicht können. Ellen, die «halbjüdische» Protagonistin des Romans, wird gleich aus dem Schlaf aufschrecken und sich auf dem Fussboden des Konsulats wiederfinden, wo sie vergeblich um ein Visum ersucht, mit dem sie ihrer bereits ausgewiesenen Mutter nach Amerika folgen könnte.

«Dieser eigentümliche Roman», schrieb Ruth Klüger Jahrzehnte später in einem Nachwort, «ist sowohl ein krass realistischer wie ein Traum­roman und zwar nicht einmal das eine, dann das andere, sondern beides immer zugleich.» Das ist vermutlich das Treffendste, was sich in einem Satz zum literarischen Verfahren dieses vielschichtigen Romans sagen lässt.

«Ellen schrie im Schlaf», heisst es weiter in der Eingangs­szene:

Sie lag quer über der Landkarte und wälzte sich unruhig zwischen Europa und Amerika hin und her.

Hier wird deutlich, warum Ilse Aichinger als «Meisterin der Wortwörtlichkeit» gilt. Die Heldin des Romans liegt auf einer grossen Weltkarte. Doch die Erzähl­stimme, im Verbund mit der Fantasie des Mädchens, streicht den Abbild­charakter der Karte durch, spielt das Spiel des Kindes mit, das nicht nur mit dem Finger auf der Karte, sondern im Kopf zwischen den Kontinenten reist.

Und während eben noch die Fliege von Dover nach Calais kroch, genau in der entgegen­gesetzten Richtung, die einst Aichingers Familie hätte nehmen wollen, findet der Konsul Ellen bald schlafend «zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der Freiheits­statue» und stellt resigniert fest, dass sie von dort «nicht wegzubringen» war.

Aichinger arbeitet mit starken perspektivischen Verfremdungen, aber sie zoomt gerade nicht, wie es die Weltflucht-Literatur der Zeit tut, vom historischen Geschehen weg. Vielmehr stellt sie dieses auch in seinen psychischen Auswirkungen vor Augen und lässt im Kontrast mit der Wahrnehmung der Jugendlichen das zutiefst Menschen­feindliche des Naziregimes umso greller hervortreten. Das gilt auch für das Spiel der Kinder, dem unter der Bedingung der Existenz­bedrohung alles Unschuldige abgeht. Spielen wird zur Überlebens­technik. Und auf Ebene der Roman­lektüre zu einem weiteren Gradmesser für das Ausmass, in dem der Naziterror die Normalität pervertiert hat.

«Eins, zwei, drei, abgepasst, wir spielen Verstecken»: Nichts kann diesen Satz aus seiner abgründigen Doppel­deutigkeit herauslösen. Er lässt sich, auch wenn er im Roman eine konkrete Spiel­situation beschreibt, nicht vom realhistorischen Kontext der Verfolgung trennen. Jedem dieser Sätze kommt unweigerlich eine doppelte Realitäts­ebene zu, und Aichingers Text erlaubt weder eine Reduzierung dieser Mehrspurigkeit, noch verleugnet er den verstörenden Kontrast zwischen den Ebenen.

Als eines der ersten grossen literarischen Werke reflektiert Aichingers Roman auch die Grund­situation allen Schreibens «nach Auschwitz» (noch bevor Adorno das entsprechende Diktum prägen wird): Die Wörter selbst sind nicht mehr von ihren historischen Gebrauchs­spuren zu trennen. Nicht nur ist die Sprache als Mittel zu Propaganda und Dehumanisierung missbraucht worden. Die Geschichte hat sich auch in vermeintlich unschuldige Wörter eingeschrieben, die fortan ein anderes, abgründigeres Assoziations­spektrum mit sich führen. Das Wort «Stern» zum Beispiel, ein Leitmotiv von Aichingers Roman.

Es gibt eine Szene, in der Ellen eine Torte für den Geburtstag von Georg besorgen will. Sie, die «Halbjüdin», die nicht den «Judenstern» tragen muss, ist im Freundes­kreis der Kinder noch die Einzige, die in eine Konditorei darf. Aber in der Wahrnehmung des jugendlichen Mädchens ist das kein Vorteil, im Gegenteil: «Ellen hatte die Kinder mit dem Stern beneidet.» Das ist ein ungeheuerlicher Satz. Und dennoch psychologisch genau, weil das Mädchen sich so nur noch ein weiteres Mal nicht zugehörig fühlt. Also beginnt auch Ellen den Stern zu tragen, vergisst das aber, als sie in die Konditorei tritt, und nun, als sie gedemütigt und des Ladens verwiesen wird, brennt der Stern «wie glühendes Metall durch Kleid und Mantel bis auf die Haut. // Und was sollte sie Georg sagen?»

«Wie glühendes Metall» hat sich auch die Geschichte in die Semantik eingebrannt. Nie mehr ist das Wort «Stern» von seiner abgründigen Mehr­deutigkeit zu lösen. Und dennoch hält der Roman dem nazistischen Missbrauch des Symbols andere Bedeutungs­ebenen des Wortes entgegen und hält auch an der Symbolik des Sterns als Hoffnungs­zeichen fest. Was Ilse Aichinger literarisch «durchspielt», wird zum Einspruch gegen die vollkommene Verein­nahmung des Symbols durch die Nazis, eine Weigerung, den Verfolgern die Bedeutungs­zuweisung zu überlassen. Eine Wider­setzung, die zugleich – es ist bei Aichinger immer ein Zugleich – in vollem Geschichts­bewusstsein anerkennt, dass das Wort nie wieder dasselbe sein wird.

Als «Die grössere Hoffnung» 1948 erschien, wurden nur wenige Exemplare verkauft, die Würdigung in der Kritik setzte erst mit Verzögerung ein. Für einen Text wie diesen waren die Aller­wenigsten in den deutschen Besatzungs­zonen und in Österreich schon bereit.

1948 ist auch das Jahr, in dem Paul Celans «Todesfuge» erstmals auf Deutsch veröffentlicht wird (sie war zuvor in rumänischer Übersetzung erschienen) – und zunächst weitgehend ohne Echo bleibt. Und es ist das Jahr, in dem Ilse Aichinger ihre «Spiegel­geschichte» schreibt, die das Leben einer Frau im Moment ihres Todes rückwärts ablaufen lässt. Das ist formal grandios gemacht, die Geschichte bis heute ein Klassiker. Dennoch ist es frappant, dass Aichinger mit diesem tatsächlich überzeitlichen Text zunächst mehr Aufmerksamkeit erhält als für ihren Roman. 1952 wird sie mit der «Spiegel­geschichte» den Preis der Gruppe 47 gewinnen – just bei jener Tagung in Niendorf, die für Paul Celan zutiefst ambivalent verläuft, weil er zwar durch seinen Auftritt einen Verleger findet, die Lesung aber auch von antisemitisch getönten Äusserungen des Gruppen­gründers Hans Werner Richter begleitet wird, die Celan für immer auf Abstand zu der Gruppe gehen lassen.

Eine wirkliche Heimat wurde die legendäre Gruppe 47 nie für sie: Ilse Aichinger 1952 mit Heinrich Böll (links) und ihrem späteren Ehemann Günter Eich. Süddeutsche Zeitung Photo/dpa

Wie die Lyrik Paul Celans wird auch Ilse Aichingers Buchdebüt erst verspätet in seiner Bedeutung gewürdigt. «Die grössere Hoffnung» bleibt ihr einziger Roman.

Doch noch einmal zeitlich zurück.

Denn zwei Jahre vor dem Roman ist in Form eines kurzen Essays ein weiterer Schlüssel­text zu Aichingers Werk erschienen. Man könnte ihn heute auch als Schlüssel­text zu unserer Gegenwart lesen. Sein Titel:

«Aufruf zum Misstrauen»

Natürlich ist dieser Slogan eine Provokation, 1946 ebenso wie heute. Und entsprechend fängt Aichinger ihren nur zwei Seiten langen Text auch an:

Ein Druckfehler? Lassen Ihre Augen schon nach? Nein! Sie haben ganz richtig gelesen – obwohl Sie diese Überschrift unverantwortlich finden (…)

Da ist also wieder das «Sie» aus dem «Vierten Tor», die direkte Anrede des Lesers, die sich nicht scheut, ebendiesem auch gleich die eigene Reaktion voraus­zusagen. Und dann:

Beruhigen Sie sich, armer, bleicher Bürger des XX. Jahrhunderts! Weinen Sie nicht! Sie sollen ja nur geimpft werden. Sie sollen ein Serum bekommen, damit Sie das nächste Mal um so widerstandsfähiger sind (…) Sie sollen nicht Ihrem Bruder misstrauen, nicht Amerika, nicht Russland und nicht Gott. Sich selbst müssen Sie misstrauen!

Eine «Impfung» also. Gegen die Krankheiten Ressentiment und Ideologie. Gegen die Selbst­gerechtigkeit. Wider eine Weltsicht, die sich abgedichtet hat gegenüber jeder Irritierbarkeit und Empathie, gegenüber jeglicher Möglichkeit zur Selbst­korrektur. Diese Ideologie­kritik liesse sich in wichtigen Grund­gedanken auch auf Gegenwärtiges anwenden.

Es ist jedoch evident, dass Aichingers Ethik der Selbst­hinterfragung eine dezidiert zeitgeschichtliche Signatur aufweist. Ihr kurzer Text – wie im Grunde ihr gesamtes Werk – schreibt sich von der Erfahrung der Shoah, von der Zeugenschaft eines singulären Menschheits­verbrechens her. Mit dem Bild der Impfung formuliert der «Aufruf zum Misstrauen» ein «Nie wieder!», das dialektisch die Möglichkeit eines neuen Vertrauens an die Voraus­setzung einer gesunden Selbst­skepsis bindet:

Und wir beruhigen uns wieder. Aber wir sollen uns nicht beruhigen! (…) Werden wir misstrauisch gegen uns selbst, um vertrauens­würdiger zu sein!

Im Lauf der Jahrzehnte wird sich der Ton von Aichingers Texten gegenüber den ersten Nachkriegs­jahren deutlich verändern.

Das Pathos, das dem «Aufruf» schon an den Ausrufe­zeichen abzulesen ist und das auch «Die grössere Hoffnung» prägt, wird einem nüchterneren, verschiedene Metamorphosen durchlaufenden Sprechen an der Grenze zum Schweigen weichen. Die schrift­stellerische Haltung aber, die die frühen Texte kennzeichnet, bleibt ein Merkmal des gesamten Werks. Aichingers Schreiben geht im landläufigen Begriff von «engagierter Literatur» nicht auf. Ihr literarisches Engagement, schreibt Marko Pajević im soeben erschienenen «Ilse Aichinger Wörterbuch», «ist radikaler als in der gängigen Vorstellung.» Ihre Texte senden keine Botschaften, keine konsumierbaren «Meinungen» zu einer bestimmten Streitfrage. Aichingers Ideologie­kritik zielt, viel grundsätzlicher, auf die Sprache und das Denken selbst. Dabei geht es ihr auch darum, die Phrasen, die vorgefertigten Antworten, das nicht mehr Hinterfragte auszuhebeln. «Die bestehende Sprache kontern», hat Aichinger das einmal in einem Interview genannt.

Wenn die Autorin also ihr Misstrauen auch auf eine konventionelle, gedankenlos eingesetzte Sprache richtet, geht es ihr in Wirklichkeit einmal mehr darum, eine neue Vertrauens­würdigkeit zu erlangen – der Wörter in diesem Fall.

«Schlechte Wörter» heisst dann auch eines ihrer einschlägigen Bücher. Es steht programmatisch für Aichingers späteres Werk, das einen Kontra­punkt zum Schaffen der Vierziger­jahre setzt – und doch an zentrale ethische und ästhetische Konstanten der frühen Texte anknüpft.

«Schlechte Wörter», «Kleist, Moos, Fasane»

Bereits ab Mitte der Fünfziger­jahre ist Ilse Aichingers Schreiben zunehmend von einer scheinbar paradoxen Doppel­bewegung geprägt.

Einerseits steuert ihr Werk schon vom Umfang der Texte und von teils langen Publikations­pausen her immer stärker auf eine Verknappung zu, bis an die Grenze des schrift­stellerischen Verstummens. Andererseits sind es gerade die späteren Erzählungen, die diese Kontraktions­bewegung mit einem sprach­spielerischen Gegen­impuls versehen, der stellenweise bis ins geradezu Übermütige reicht und sich den Eigen­dynamiken sprachlicher Assoziations­ketten überlässt.

Seit den Erzählungen des Bandes «Eliza Eliza» (1965) verzichtet Aichingers Prosa mehr und mehr auf so etwas wie eine Handlung. Die Texte nähern sich der reflexiven Prosa­miniatur oder dem Prosa­gedicht. Im Band «Schlechte Wörter» von 1976 haben sie teilweise nur noch eine Länge von ein bis zwei Seiten. Der Verzicht auf einen Plot wird demonstrativ: «Niemand kann von mir verlangen, dass ich Zusammen­hänge herstelle, solange sie vermeidbar sind», lässt Aichinger ihre Erzählerin in der Titel­geschichte sagen.

Ilse Aichinger, im August 1981. Isolde Ohlbaum/laif

Der schmale Lyrikband «Verschenkter Rat» von 1978 versammelt Gedichte aus vielen Jahren. Dann vergeht fast ein Jahrzehnt, bis unter dem erratischen Titel «Kleist, Moos, Fasane» (1987) wieder eine Textsammlung in Buchform erscheint. Der erste Teil des Buches enthält neue Erzählungen, der dritte Rezensionen, Reden und Äusserungen Aichingers zum Werk anderer Autorinnen. Der Mittelteil «Kleist, Moos, Fasane» lässt Aichingers Poetik der Verknappung regelrecht augenfällig werden.

Chronologisch geordnet sind hier Aufzeichnungen aus den Jahren 1950 bis 1985 versammelt: Aphorismen und kurze Notate, die meist nur ein bis zwei Zeilen umfassen. Für manche Jahre findet sich bloss ein einziger Satz. Unter der Jahreszahl 1972 etwa steht: «Die Gleichgültigkeit einüben.» Der Rest der Seite: leer. Für die Jahre 1979 bis 1982 oder 1984: kein einziger Eintrag.

Natürlich: Es ist auch die Anlage des Buches, die eine Nähe zum Schweigen besonders markant hervortreten lässt. Aber eine Bewegung hin zur äussersten Reduktion ist auch den Einträgen selbst abzulesen. Wobei bereits eine recht willkürliche Auswahl an Beispielen zeigt, welche verschiedenen Register Aichinger selbst auf engstem Raum zum Einsatz bringt:

Diese Sucht, einfach wegzubleiben. (1950)

Behutsam kämpfen. (1951)

Genug Angst haben. (1951)

Nur die notwendigen Bewegungen. (1961)

Das Ärgste wäre es, zuletzt das Suchen nicht gefunden zu haben. Es ist auffindbar. (1969)

Man muss nicht mutig sein, wenn man mutig ist. (1977)

Schreiben ist sterben lernen. (1977)

Nichts, was auch nur im entferntesten an Rettung erinnert. (1977)

Kätzchen, mein Meerrettich geht unter. (1983)

So sehr die späte Prosa Ilse Aichingers herkömmliche Gattungs­grenzen unterläuft, so sehr hat sich auch die Autorin zeitlebens dem Literatur­betrieb entzogen. Zwar gehörte sie zu den frühen Entdeckungen der Gruppe 47, lernte dort den Schrift­steller Günter Eich kennen, den sie 1953 heiratete, war mit zahlreichen Autorinnen und Intellektuellen der Zeit befreundet: etwa mit Peter Bichsel, Franz Wurm oder Heinrich Böll. Und besonders eng mit Ingeborg Bachmann, die sie in den ersten Nachkriegs­jahren als ihre zweite Schwester bezeichnet (die Mutter, Berta Aichinger, nannte Bachmann gar ihren «3. Zwilling», wie man im soeben erschienenen Briefwechsel Aichinger – Bachmann nachlesen kann). Über private Verbindungen hinaus aber war Ilse Aichinger alles Betriebliche suspekt – anders als Ingeborg Bachmann. Nicht zuletzt deshalb ist die Freundschaft zwischen den beiden bekanntesten Autorinnen der Gruppe 47 mit der Zeit deutlich abgekühlt.

Aichingers Distanz zum Buchmarkt lässt sich jedoch nicht ohne weiteres mit einer Reduktions- und Rückzugs­bewegung ihrer Prosa parallelisieren. Schon deswegen nicht, weil ihre Texte auch auf die Gegen­bewegung aus sind: die Öffnung und Erweiterung der Bedeutungs­ebenen, die sprach­spielerische Vervielfältigung der Bezüge.

Die konventionelle Sprache «kontern» heisst bei Aichinger immer auch: poetischer Überschuss anstelle von instrumentellem Sprachgebrauch.

In einer der gewichtigsten Neuerscheinungen zu Aichingers Jubiläums­jahr hat der Literatur­wissenschaftler Thomas Wild eindrücklich gezeigt, welche Bedeutung die kleinen Verschiebungen, die kleinen Veränderungen von Worten und Redens­arten bei Aichinger haben. Und anknüpfend an Essays der Lyrikerin und Übersetzerin Uljana Wolf hat Wild auch noch einmal mit Nachdruck auf die Bedeutung des Fremd­sprachlichen in Aichingers Werk verwiesen.

«Meine Sprache ist eine, die zu Fremdwörtern neigt», sagt Aichingers Erzählerin in «Meine Sprache und ich». Tatsächlich gilt das auch für Aichingers Schreiben. Ihre späte Prosa enthält immer wieder völlig unvermittelt Wörter aus dem Englischen, jener Sprache, zu der sie seit der Trennung von ihrer Zwillings­schwester Helga 1939 und dem ersten Wieder­sehen bei ihrer England­reise 1947 eine besondere Beziehung hat.

Auch dieser buchstäbliche «Verfremdungs­effekt» prägt die Erzählungen aus «Schlechte Wörter». Am markantesten geschieht das vielleicht in der Erzählung «Dover», benannt nach dem Ort, der Kontinental­europa mit der britischen Insel verbindet. Der Text beginnt so:

Wult wäre besser als Welt. Weniger brauchbar, weniger geschickt. Arde wäre besser als Erde. Aber jetzt ist es so. Normandie heisst Normandie und nicht anders. (…) Nur Dover ist nicht zu verbessern. Dover heisst so wie es ist. Von diesem, wie viele sagen, unbeträchtlichen Ort sind alle Bezeichnungen und das, was sie bezeichnen, leicht aus den Angeln zu heben. Delft, Hindustan, auch beyond. Obwohl beyond kein Ort ist.

Weil diese Prosa das Deutsche angelsächsisch aus den Angeln hebt, also schon nach den Anfangs­zeilen beyond der Sprachgrenze liegt, kann es sein, dass man auch im Fortgang doppelt sieht, wenn Wörter wie «still» und «Fall» plötzlich in beiden Sprachen lesbar sind. Dann huscht unvermittelt eine Annie (any?) durch die Zeilen, und Dover verschiebt sich durch einen kleinen Buchstaben­tausch nach Denver. Man kann es kaum anders sagen: In Dover öffnet Aichinger alle Schleusen der Assoziation.

Welche sprachgenerative Kraft das haben kann, lässt sich auch an neuen Büchern zu ihrem Werk nachvollziehen. Etwa wenn zeitgenössische Autorinnen unter dem Titel «Die Hochsee der Ilse Aichinger» eine Aichinger-Hommage in Form eigener Texte vorlegen. Oder wenn Thomas Wild in seinem Essay kurzzeitig die Literatur­wissenschaftler-Rolle ablegt und aus dem kleinen Wörtchen Dover unzählige andere angelt: Do over Dove Doer or oder …

Aichingers Text umspielt weniger den Ort als vielmehr den Namen Dover. Das hat, so scheint es, nichts mehr mit der Verweis­funktion der Sprache zu tun, ist nur noch Sprache selbst – sprach­spielerischer (d)overload.

Aber dann wäre es kein Aichinger-Text.

Denn da steht eben auch: «Wer dort umsteigt, sieht sich flüchtig um.» Und dieses beiläufige «flüchtig» ist in seiner Doppel­deutigkeit wieder so abgründig wie die Kliffe von Dover, verweist zurück auf die Jahre der Verfolgung, auf erfolgte und misslungene Fluchten. Bei allem Aus-den-Angeln-Heben: Aichingers «Dover» bleibt zugleich verankert in der Geschichte.

Und ihre «Fremdwörter» sind immer auch die eigenen: vertraute Wörter, die wieder ein Stück weit fremd werden müssen, um nicht gedankenlos und geschichts­vergessen gebraucht zu werden.

So erklärt sich auch Aichingers rätsel­haftester Titel: «Kleist, Moos, Fasane».

Im Text selbst sind die Spuren gelegt, sie führen auf die Wiener Stadtkarte, das Fasan­viertel im dritten Bezirk. Hier, parallel zur Kleistgasse, in der Hohlweggasse 1, haben Ilse und Helga Aichinger (und zeitweise die ganze Familie) bei ihrer Grossmutter gelebt, bevor Gisela, Erna und Felix Kremer in eine Massen­unterkunft gezwungen, deportiert und ermordet wurden.

«Ich erinnere mich der Küche meiner Grossmutter», beginnt die Erzählung, die den Namen Hohlweggasse ausspart, wie auch die persönliche Erinnerung für die Autorin vor allem eine schmerzliche Abwesenheit bedeutet. Aber auch Aichingers drittes Titelwort findet sich auf dem Wiener Stadtplan. Fast. Quer zur Hohlweggasse liegt die Mohsgasse: mit «h», nicht mit Doppel-«o». Benannt ist sie, wie Thomas Wild erläutert, nach dem Mineralogen Friedrich Mohs.

Ilse Aichinger legt ihrer Erzählung also eine reale Topografie und eine historische Erinnerungs­folie zugrunde. Und zugleich schreibt sie mit einer ihrer charakteristischen Verschiebungen dem Text das Wort «Moos» ein. Die Titelwörter verweisen auf Strassen­namen. Und zugleich auf etwas anderes. Keine der beiden Lesarten löscht die andere. Auf den literarischen Landkarten Ilse Aichingers gibt es keine einspurigen Deutungswege.

Zum Weiterlesen

Ilse Aichinger: Werke in acht Bänden. Herausgegeben von Richard Reichensperger. Frankfurt am Main, Fischer 1991. 1524 Seiten, ca. 83 Franken.

Ilse Aichinger: «Aufruf zum Misstrauen». Verstreute Publikationen 1946–2005. Heraus­gegeben von Andreas Dittrich. Frankfurt am Main, S. Fischer 2021. 320 Seiten, ca. 37 Franken.

Helga und Ilse Aichinger: «Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe». Briefwechsel zwischen Wien und London 1939–1947. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Nikola Herweg. Edition Korrespondenzen, Wien 2021. 380 Seiten, zahlreiche Abbildungen, ca. 31 Franken.

Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger und Günter Eich: «halten wir einander fest und halten wir alles fest!». Der Briefwechsel. Herausgegeben von Irene Fussl und Roland Berbig. Mit einem Vorwort von Hans Höller. Piper/Suhrkamp, München und Berlin 2021. 379 Seiten, ca. 55 Franken.

Birgit Erdle, Annegret Pelz (Hrsg.): «Ilse Aichinger Wörterbuch». Wallstein, Göttingen 2021. 368 Seiten, ca. 32 Franken.

Thomas Wild: «ununterbrochen mit niemandem reden». Lektüren mit Ilse Aichinger. Frankfurt am Main, S. Fischer 2021. 368 Seiten, ca. 40 Franken.

Marie Luise Knott, Uljana Wolf (Hrsg.): «Die Hochsee der Ilse Aichinger». Ein unglaubwürdiger Reiseführer zum 100. Geburtstag. Wunderhorn, Heidelberg 2021. 64 Seiten, ca. 24 Franken.

Teresa Präauer: «Über Ilse Aichinger». Mandelbaum, Wien/Berlin 2021. 96 Seiten, ca. 19 Franken.

Uljana Wolf: «Etymologischer Gossip». Essays und Reden. kookbooks, Berlin 2020. 232 Seiten, ca. 32 Franken.

Jutta Sauer: «Wie nur ein Haifisch trösten kann». Ilse Aichinger. Ein Porträt. Aviva, Berlin 2021. 216 Seiten, ca. 30 Franken.

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