Strassberg

Sieg der Askese

Historisch ist der fette Körper ein Symbol von Widerstand und Subversion. Warum ist er heute schambesetzt?

Von Daniel Strassberg, 26.10.2021

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«Erst kommt das Fressen, dann die Moral.» Als Bertolt Brecht die «Drei­groschen­oper» schrieb, bedachte er nicht, dass das Essen selbst moralische Fragen aufwerfen kann. Und damit auch politische, etwa im Hinblick auf die globale Verteilung der Nahrungs­mittel (Hunger), auf den Einfluss auf das Klima (Methan­ausstoss der Kühe) und auf das Über­gewicht in der westlichen Welt (Gesundheits­kosten). Vor dem globalen Hunger und der Klima­erwärmung können wir die Augen notfalls verschliessen. Vor dem Über­gewicht nicht, insbesondere vor dem eigenen nicht. Der Über­gewichtige trägt buchstäblich schwer an seiner Schuld.

Im letzten halben Jahr habe ich 11 Kilo abgenommen, und ich versuche, noch mal so viel wegzukriegen (der BMI liegt nach wie vor über 30). Es war ein ziemlich schwieriges Unter­fangen, wie man sich unschwer vorstellen kann. Ich habe dieses heautontimorumenon (Kants Ausdruck für Selbst­quälerei) nicht aus gesund­heitlichen Gründen auf mich genommen, obschon mein Hausarzt mir den baldigen Tod vorausgesagt hat, wenn ich nicht abnähme. Nein, es war nicht die Todes­angst, es war die Scham, die mich antrieb.

Scham ist schlimmer als der Tod, das wusste schon Kafka: «‹Wie ein Hund!› sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben», lautet der letzte Satz des «Prozesses». Und so habe ich mich gefühlt: Ich ging nicht mehr in die Bade­anstalt, konnte mich im Spiegel kaum mehr ansehen und kaufte nur noch Kleider, die meine Figur verdeckten. Schon wieder gelogen: Ich kaufte sie nicht, ich musste sie eigens anfertigen lassen.

Als ich etwa 8 Kilo abgenommen hatte, begann ich mich allerdings zu fragen, wofür ich mich eigentlich schäme. Oder andersrum gefragt: Weshalb lacht man jemanden für sein Über­gewicht aus? Unter­suchungen haben tatsächlich gezeigt, dass Über­gewicht jene «Behinderung» ist, für die Kinder am häufigsten ausgelacht, ausgeschlossen und gemobbt werden.

Weshalb also gelten der Dicke und noch mehr die Dicke als lächerlich?

Die erste intuitive Antwort, dass sie ihr Unglück selbst verschuldet haben, ist wenig plausibel, denn niemandem würde es je einfallen, einen Querschnitt­gelähmten auszulachen, der ohne Helm Fahrrad gefahren und dabei gestürzt ist. Nein, Selbst­verschulden reicht nicht, um diese seltsame Mischung aus Abscheu und Lächerlichkeit zu erklären, die Über­gewichtige begleitet. Dazu müssen wir ein wenig in die Geschichte eintauchen.

Im 3. Jahr­hundert vor unserer Zeit­rechnung erfand ein gewisser Menippus von Gadara – im heutigen Jordanien – eine neue Literatur­gattung, die seither als menippeische Satire bekannt ist. Die wohl bekannteste ist der «Satyricon» von Petron, der 1969 von Federico Fellini verfilmt wurde. Von Menippus selbst sind keine Werke erhalten, aber Lukian von Samosata, der Gross­meister der menippeischen Satire, machte ihn zum Protagonisten eines seiner bekanntesten Werke: «Menippus oder das Toten­orakel».

Menippus möchte das Geheimnis des guten Lebens ergründen und lässt sich deshalb ins Toten­reich schmuggeln, um von den verstorbenen Geistes­grössen zu erfahren, wie man richtig zu leben hat. Doch er wird bitter enttäuscht: Im Jenseits herrscht keineswegs jene Harmonie und Schönheit, die in den Schriften der griechischen Philosophen in Aussicht gestellt wurde. Im Gegenteil, es wird gefressen, gesoffen und herum­gehurt. Nur Sokrates bleibt standhaft, aber er erweist sich dafür als nerv­tötender Besser­wisser.

Einzig der blinde Seher Teiresias weiss vernünftigen Rat: Das beste und vernünftigste Leben ist das der Ungelehrten. Gib die Narrheit auf, den überirdischen Dingen nach­zugrübeln und den Ursprung und letzten Zweck der Dinge erforschen zu wollen; verachte die künstlichen Schlüsse der Sophisten und halte dich überzeugt, dass alle diese Dinge eitle Possen sind. Hingegen sei dein einziges Streben darauf gerichtet, die Gegen­wart dir zu Nutzen zu machen, so viel du kannst. Im Übrigen gehe an den meisten Dingen mit Lachen vorüber und halte nichts für wichtig genug, um dich darum zu bemühen.

Teiresias propagiert – fast zweitausend Jahre vor Nietzsche – das Lachen als Lebens­haltung; kein hämisches Auslachen, sondern ein politisches, wider­ständiges Lachen, das sich vor allem gegen das platonische Schönheits­ideal wendet. Im Gastmahl klärt die Priesterin Diotima Sokrates auf:

Es muss nämlich der, welcher auf dem richtigen Wege auf dies Ziel hinstrebt, in seiner Jugend sich den schönen Körpern zuwenden, und zwar zuerst, wenn sein Führer ihn richtig leitet, einen solchen schönen Körper lieben. Um des Urschönen willen muss er von den vielen Schönen ausgehen und so stufenweise innerhalb desselben immer weiter vorschreiten, bis er schliesslich das allein wesenhafte Schöne erkennt.

Aus: Platon, «Symposion», 201d ff. (Ausschnitte).

Den wohlproportionierten Körper des schönen Jünglings liebt man nicht um seiner selbst willen, sondern weil er Ausgangs­punkt auf dem Weg zur Wahrheit ist. Dazu darf der schöne Körper aber nichts Über­mässiges, Schmutziges oder Hervor­stechendes aufweisen – deshalb der kleine Penis. Und er hat keine Körper­öffnungen, die mit der Umgebung in Austausch stehen können. Der schöne Körper ist glatt und geschlossen.

Statuette eines Jünglings im Archäologischen Nationalmuseum Athen. Giovanni Dall’Orto

Nietzsche hat klar erkannt, dass gegen die Lebens­feindlichkeit der Ideale nur der Spott hilft:

Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut als die Schelmen­kappe: wir brauchen sie vor uns selber – wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um jener Freiheit über den Dingen nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert.

Aus: Friedrich Nietzsche, «Die fröhliche Wissenschaft», § 107.

Später richteten sich die menippeischen Satiren nicht mehr gegen die platonische Philosophie und ihr Schönheits­ideal, sondern gegen die christliche Askese und ihre Körper­feindlichkeit. Im Mittel­alter entstand daraus eine eigentliche Gegen­welt: Satirische Evangelien, satirische Predigten, satirische Gottes­dienste und satirische Festtage feierten den Unsinn, das Lachen, die Masslosigkeit, die Völlerei und die Sitten­losigkeit. Die über­gewichtigen Helden dieser Gegen­welt waren zugleich Sinn­bilder der Lebens­freude und des Wider­standes gegen die Kirche.

Es war zwar nicht so, dass man um die Gefahren der Völlerei nicht wusste, regelmässig verenden die Protagonisten der Satiren im Laufe einer Fresserei. Aber darum ging es ihnen ja: Während die platonische Philosophie und die Kirche die Ewigkeit und das Jenseits predigten, verkörperten die Dicken den Wandel, das Entstehen und Vergehen, die Geburt und den Tod. Die Ähnlichkeit der Dicken mit den schwangeren Frauen zeugt davon, Obelix und Bud Spencer sind davon noch schwache Reminiszenzen. Das Lachen galt demnach weniger der politischen Macht als ihrer verlogenen Ideologie, die das Leben und den Genuss ins Jenseits verschieben wollte.

Jedenfalls kam die Kirche, unter dem Druck des Volkes, nicht mehr darum herum, diese Gegenwelt zu akzeptieren und ihr einen Platz einzuräumen: Die Fastnacht wurde ein fester Bestand­teil des Kirchen­jahres.

Der Riese Gargantua, illustriert von Gustave Doré. Wikipedia

Als letztes menippeisches Werk gilt François Rabelais’ «Gargantua und Pantagruel» oder wie der volle Titel lautet: «Die schrecklichen und entsetzlichen Abenteuer und Helden­taten des hoch­berühmten Pantagruel, König der Dipsoden, Sohn des grossen Riesen Gargantua. Neu zusammen­gestellt von Meister Alcofrybas Nasier».

Und so klingt das bei Rabelais:

Und sie drangen ihm [dem Riesen Gargantua, der soeben in Paris angekommen ist] also beschwerlich zu Leib, dass er zuletzt gezwungen war, sich auf die Türme von Notre-Dame zu retirieren und niederzulassen. Wie er nun da sass und dies viele Volk um sich her sah, sprach er laut: «Ich glaub, die Schlingel meinen, dass ich ihnen hie mein Pflaster­geld und meinen Willkomm zahlen soll. Ist billig; sollen ihren Wein han, aber par ris, per risum, spottweis.» – Da lupft’ er lächelnd seinen schönen Hosen­latz, zog sein Ablauf­rohr an die Luft herfür und bebrunzelte sie so haarscharf, dass ihrer 260’018 elend ersoffen, ohn die Weiber und kleinen Kinder.

Aus: François Rabelais, «Gargantua und Pantagruel».
«Der Kampf zwischen Karneval und Fasten» von Pieter Bruegel der Ältere. Kunsthistorisches Museum Wien

Das Bild «Der Kampf zwischen Karneval und Fasten» von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahre 1559 markiert das Ende eines fruchtbaren Dialogs zwischen der offiziellen Kirche und ihrer kritischen Gegenwelt. Das ausschweifende Leben kam als politischer Protest nicht mehr vor, nur asketische Lebens­formen, wie die der pietistischen Sekten in Deutschland und der Puritaner in England, konnten noch als politische Kritik durchgehen.

Im aufstrebenden Bürgertum hatte der männliche Körper der Produktion, der weibliche der Reproduktion zu dienen. Dafür musste er fit bleiben, groteske Über­treibungen und vulgäres Treiben hatten keinen Platz mehr, das war der Gesundheit abträglich. Die Medizin war besorgt, dass die Produktions- und Reproduktions­maschinerie nicht stillsteht, dafür musste sie den Körper gründlich vermessen und erforschen. Entsprechend veröffentlichten Ärzte in der Zeit der beginnenden Industrialisierung Hunderte von Fibeln mit Ratschlägen für das gesunde Leben, die ausgewogene Ernährung und den hygienischen Sex.

Der Körper hat sich vom Ausdrucks­mittel zum Kapital gewandelt, dessen Besitz das Überleben sichert.

Seither ist Fettleibigkeit kein Zeichen des Wider­standes und der Lebens­freude mehr, sondern eine krankhafte Anomalie, die der ärztlichen Kunst überantwortet wird. Im Jahre 1832 erfindet der Statistiker Adolphe Quetelet den BMI (Body-Mass-Index) und schliesst damit die Normalisierung des Körpers ab. Der Körper hat als Ort des politischen Wider­standes ausgedient.

Natürlich kann niemand leugnen, dass Übergewicht ein erhebliches gesund­heitliches Risiko darstellt. (Obwohl meist verschwiegen wird, dass leichtes Über­gewicht das Leben verlängert und Über­gewicht ohne Begleit­erkrankungen wie Diabetes oder Blut­hochdruck kein Risiko darstellt.) Aber die Faszination, die Fett­leibigkeit auslöst und die in zahlreichen voyeuristischen Fernseh­shows wie «The Biggest Loser» eifrig zelebriert wird, die Vehemenz, mit der sie bekämpft wird, und die Heftigkeit der Abscheu, die sie auslöst, legen den Verdacht nahe, dass die Fettleibigen eine unbewusste Erinnerung an die Zeiten wachrufen, als das Lachen und der Exzess noch einen Wider­stand gegen die Obrigkeit darstellten.

Aufruf zum Reichsarbeits­dienst im nationalsozialistischen Deutschland um Mitte 1930. Glasshouse Images/Alamy

Der gesunde Arbeiter- und Soldaten­körper als politisches Kapital feierte im Faschismus und im sowjetischen Kommunismus seinen letzten grossen Höhepunkt. Seither wären Normierung und Disziplinierung des Körpers für Arbeit und Reproduktion eigentlich nicht mehr nötig. Maschinen über­nehmen immer mehr die körperliche Arbeit, und die Reproduktions­medizin ist auf einen gesunden weiblichen Körper zunehmend nicht mehr angewiesen. Tatsächlich schien in der Zeit nach 1968 die Befreiung des Körpers möglich geworden zu sein, nun allerdings weniger durch die Todsünde der Völlerei – obschon der Film «La grande bouffe» von Marco Ferreri aus dem Jahre 1973 auch diese Möglichkeit durchspielte – als durch die der hippie­kommunären Unzucht.

Aber um den Widerstand des Körpers zu brechen, musste dem unbotmässigen Treiben dennoch ein Ende gesetzt werden, und wieder kam die Medizin zu Hilfe. Mit dem Aufkommen des HI-Virus verbot sich ungeregelter Sex von selbst, und bald löste er dieselbe Empörung und Abscheu aus wie einst die Fettleibigkeit.

Die sexuelle Befreiung ist danach in ihr Gegenteil umgeschlagen: Der nackte Körper blieb zwar sichtbar, aber er wurde entsexualisiert. Statt zu einem Hort der widerständigen Lust wird er zum Ort der Normalisierung und Disziplinierung. Er muss schlank sein, um auf dem Markt bestehen zu können. Die enthemmte Sexualität wurde als symbolisches Kapital nach kurzer Zeit in das Herrschafts­dispositiv zurück­geholt – im Gegensatz zur Fettleibigkeit, die nach wie vor ausgeschlossen bleibt. Dazu eine nette Anekdote: Kürzlich öffnete in Tokio das erste Nackt­restaurant seine Tore. Wer sich allerdings bei der Gewichts­kontrolle am Eingang als übergewichtig erweist, wird nicht eingelassen.

Illustration: Alex Solman

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