Der heilige Ort des Wirtschafts­liberalismus: Mont Pèlerin über dem Genfersee.

Auf dem Berg des magischen Denkens

Am Mont Pèlerin hat der Siegeszug des Neoliberalismus begonnen. Ein Ortsbesuch.

Von Theresia Enzensberger (Text) und Sandrine Lagnaz (Bilder), 23.10.2021

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Um zum Geburtsort des modernen Neoliberalismus zu gelangen, muss ich eine weite Reise tun. Ich muss zwei Züge und eine Stand­seilbahn nehmen, an grasenden Rehen, Schweizer Flaggen und dem «Zentrum für höhere tibetische Studien» vorbei, in dessen Garten ein älterer, buddhistischer Mönch in oranger Kleidung den Garten bestellt.

Und dann stehe ich dort.

Vor mir erhebt sich ein drohender Klotz, die Fassade grau und beige, verhangen wie der bewegte Himmel über dem Genfersee. «Pèlerin Palace» steht in grossen Lettern über dem Eingangstor.

Die drei Türme des Gebäudes ragen hoch über dem Tal auf, Vevey und Montreux liegen ausgebreitet dort unten, auf der anderen Seite des Sees stechen die französischen Alpen durch den Nebel. Das ist er also: der heilige Ort des Wirtschaftsliberalismus.

Hier, im ehemaligen «Hôtel du Parc» trafen in der Oster­woche 1947 39 Wirtschafts­wissenschaftler, Journalisten, Historikerinnen und Philosophen zusammen – eine Gruppe bedeutender Köpfe, die auf den weiteren Lauf der Weltgeschichte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben sollte.

Die Einladung hatte Friedrich Hayek ausgesprochen, der schon seit einigen Jahre mit dem Projekt beschäftigt war, einen neuen Liberalismus zu schaffen, als Bollwerk gegen die Drohung eines neuen Kollektivismus. Schon 1938 hatte er am «Colloque Lippmann» teilgenommen, bei dem man sich auf den Begriff Neoliberalismus einigte. 1944 veröffentlichte er sein Buch «Der Weg zur Knechtschaft», in dem er vor dem Autoritarismus warnte, den er in der zentralen, nationalen Planung zu erkennen meinte, die sich unter den Zwängen der Kriegs­wirtschaft auch in den westlichen Demokratien ausgebreitet hatte. Für ebenso autoritär hielt er die Art von Sozial­liberalismus, für die John Maynard Keynes und seine Anhänger eintraten.

Hayek war der Meinung, Kapital, Güter und Löhne müssten vor staatlichem Zugriff konsequent geschützt werden. Konkret bedeutete das ein Veto zum Auf- und weiteren Ausbau der Sozial­systeme, die Rückführung staatlicher Einrichtungen in die private Hand, Steuer­senkungen und Markt­öffnung. Der neue Liberalismus, der Hayek vorschwebte, grenzte sich vom klassischen Diktum des «Laissez-faire» allerdings insofern ab, als er dem Staat eine ordnende Rolle zuwies, um den freien Markt zu stützen. Für diese Unternehmung brauchte er Mitstreiter.

Zentraler Knotenpunkt neoliberaler Netzwerke

Und so sass man also zusammen, in diesem herrschaftlichen Gebäude der Belle Époque, zwischen bunt­gemusterten Tapeten und mit weitem Blick über den Genfersee; zwischen dem bislang kältesten Winter und dem heissesten Sommer seit Beginn der Temperatur­messungen. Gedanklich befand man sich zwischen den Schrecken des zweiten Weltkriegs und den Schrecken, die man kommen sah, nämlich die eines autoritären Kollektivismus und einer sozial­liberalen Wirtschaftspolitik.

Es war ein kosmopolitisches Tagungs­volk, einige waren aus Amerika angereist, einige aus Österreich, aus England, Frankreich, Italien; mit Walter Eucken gab es sogar einen Teilnehmer, der die Kriegszeit in Deutschland verbracht hatte. Milton Friedman war dabei, ebenso wie Karl Popper, Wilhelm Röpke und Ludwig von Mises. Als einzige Frau war die Historikerin Cicely Veronica Wedgwood geladen.

Ob der bizarre Kontrast zwischen den drohenden Katastrophen, die an besagtem Oster­wochenende 1947 auf der Tages­ordnung standen, und den eleganten, holz­vertäfelten Räumlichkeiten, in denen man diskutierte, einem der Tagungs­teilnehmer auffiel?

Jedenfalls wurde am Ende der Konferenz der Grundstein für eine Organisation gelegt, die bis heute als zentraler Knoten­punkt welt­umspannender neoliberaler Netzwerke fungiert. Seit ihrer Gründung hat die Mont Pèlerin Society fünf Regierungs­chefs und etliche Finanz- und Wirtschafts­minister zu ihren Mitgliedern gezählt, sich in der Politik­beratung mit der Vernetzung internationaler Thinktanks einen bedeutenden Platz gesichert und sogar an der Schaffung des «Alfred-Nobel-Gedächtnis­preises für Wirtschafts­wissenschaften» mitgewirkt. So konnten sich acht Mitglieder der Organisation über einen Nobelpreis freuen, obwohl der Wirtschafts­nobelpreis mit der von Alfred Nobel gestifteten Auszeichnung nur den Namen teilt.

Die Mont Pèlerin Society hat über die letzten Jahrzehnte rund um den Globus die Politik mitgestaltet, hat den Zeitgeist entscheidend geprägt und überall dort konkreten Einfluss genommen, wo sich eine Gelegenheit bot, neoliberale Wirtschafts­politik umzusetzen – in Chile, im England der 70er-Jahre, im Amerika der 80er- und 90er-Jahre und, nicht zuletzt, in Osteuropa nach dem Zusammen­bruch der Sowjetunion.

1906 erbaut als «Hôtel du Parc»: Eines von mehreren Luxus­hotels, die in der Region gebaut wurden nach der Eröffnung der Stand­seilbahn Vevey–Mont Pèlerin im Jahr 1900.

Auch der Ort, an dem der Grundstein für diese einfluss­reiche Gesellschaft gelegt wurde, ist mit der Zeit gegangen. Der Hotel­betrieb ist zwar eingestellt worden, offenbar werden aber Wohnungen auf dem Immobilien­markt angeboten, und drei Zimmer in zwei Appartements wurden als Luxus-Airbnbs vermietet, als ich meinen Besuch plante. Das Zimmer kostete theoretisch 170 Franken die Nacht; mit Service- und Reinigungs­gebühren und einer obligatorischen Buchung für zwei Nächte landete man dann aber schnell bei fast 520 Franken für einen Aufenthalt. Jean, mein «Host», wie es im Airbnb-Jargon heisst, kommt mir in kurzen Hosen und Sandalen entgegen.

Jean ist Franzose, hat eine gegelte Fussballer­frisur, ich schätze ihn auf Mitte dreissig. In der Lobby schallt uns laute Popmusik entgegen, eine haar­sträubende Mischung aus golden angemalten Louis-quatorze-Sesseln, silbernen Ottomanen und glitzernden Kron­leuchtern bevölkert den Raum. Ansonsten ist es gespenstisch leer.

Es herrscht der internationale Oligarchenstil

In der Wohnung im ersten Stock, die ich in den nächsten zwei Tagen bewohnen werde, zeigt mir Jean nicht ohne Stolz die technische Ausstattung: ein smarter Herd; ein Elektro­kamin, der mittels Wasser­dampf die Illusion von Flammen erzeugt; eine Armatur mit unendlich vielen Knöpfen, mit denen sich, wenn man Glück hat, die Gardinen öffnen oder das Licht dimmen lässt. Im Spa-Bereich gibt es eine Sauna, die über ein digitales Feld bedient, aber nicht geöffnet werden kann. Vor einer Wand aus grauem, glitzerndem Backstein stehen zwei abstrus hässliche Leder­sessel, deren dramatisch zerknautschte Oberflächen an die Gesichter von Bulldoggen erinnern. Auf der Terrasse stehen zwischen riesigen silbernen Töpfen abweisend ein paar Gartenmöbel.

In diesem Haus stört nichts Altes, nichts tatsächlich Historisches. In den 2010er-Jahren wurde das Gebäude komplett entkernt und saniert. Hier herrscht jetzt der internationale Oligarchen­stil, ein Stil, nach dem überall dort gebaut wird, wo Investoren glauben, amerikanische, chinesische und russische Millionäre anlocken zu können.

Ich werde mich während meines Aufenthalts oft verirren – an keiner der unzähligen Türen steht angeschrieben, ob sich dahinter nun der Wein­keller, der Konferenz­raum oder das Heimkino verbirgt –, und genauso oft werden hinter einer der Türen Bauschutt, kahle Wände oder eine monströse Krake aus Kabeln zutage treten. Der Ort ist einer Vorstellung von Luxus und Modernität verpflichtet, die kalt und bombastisch zugleich wirkt; und die mit dem Versuch zusammen­hängt, die Kosten­einsparungen der Bauherren durch spiegelnde Oberflächen zu kaschieren.

Nur an der Fassade hat die Denkmal­pflege keine Änderungen zugelassen, sie wurde komplett rekonstruiert. Die Imitation erkennt man trotzdem, man hat das Gefühl, sich in einer Simulation zu befinden. Aber natürlich war auch das Original in gewissem Sinne schon eine Nachahmung: Die Hotel­grossbauten der Belle Époque, von denen das «Hôtel du Parc» mit dem Baujahr 1906 ein spätes Exemplar war, orientierten sich an den Wohnstätten des Adels.

Ich versuche mir vorzustellen, wie Hayek hier, in diesem «Schloss des Grossbürgertums», am ersten Tag der Konferenz über den Zigarren­rauch hinweg die Teilnehmer begrüsste. An der Schreib­maschine sass die neunzehn­jährige Dorothy Hahn, eine Studentin an der London School of Economics, und schrieb mit. Ihre Protokolle sind kurze Zusammen­fassungen, die heute im Archiv des Hoover-Instituts zu finden sind.

Angriff auf den Laissez-faire-Liberalismus

Es war Hayek, der am selben Nachmittag den ersten Vortrag hielt. In Bezug auf seinen Titel, «Individualism & Economic Order» («Individualismus und wirtschaftliche Ordnung»), sagte er: «Die zwei Begriffe bezeichnen nicht notwendiger­weise dasselbe System, und es ist das System, das von letzterem beschrieben wird, das wir wollen.» Das Bekenntnis zur Wettbewerbs­ordnung war ein Angriff auf den Laissez-faire-Liberalismus, dem Anwesende wie Ludwig von Mises und Henry Hazlitt anhingen.

Hayek zufolge sollte Liberalismus nicht die völlige Abwesenheit des Staates bedeuten, sondern:

Eine Strategie, welche den Wettbewerb, den Markt und die Preise bewusst als Ordnungs­prinzipien anwendet und den gesetzlichen Rahmen, der vom Staat durchgesetzt wird, nutzt, um den Wettbewerb so effektiv und vorteilhaft wie möglich zu gestalten – und ihn nur dort ergänzt, wo er nicht effektiv gestaltet werden kann.

Welche Form diese Ausgestaltung annehmen sollte, das war eine der Haupt­fragen, mit der sich die Konferenz­teilnehmer in den nächsten Tagen auseinander­setzen sollten. Worin hingegen Einigkeit bestand, war die Sorge über die «extremen egalitären Ziele» zeitgenössischer Gesellschaften, von denen Hayek sprach und die sich in Steuer­politik und der «Macht» der Gewerkschaften ausdrückten.

Hayek befand:

Die Frage, wie die Macht von Gewerkschaften angemessen eingeschränkt werden kann, sowohl rechtlich als auch tatsächlich, ist eine der wichtigsten Fragen, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken können.

Die Anwesenden mögen es als Provokation empfunden haben, dass Hayek in seinem Vortrag ausgerechnet Keynes’ berühmte Sätze von der Macht der Ideen in voller Länge zitierte. In der «Allgemeinen Theorie» heisst es:

Praktische Männer, die sich von intellektuellen Einflüssen verschont halten, sind üblicher­weise Sklaven eines toten Ökonomen. An der Macht befindliche Verrückte, die Stimmen in der Luft hören, leiten ihren Irrsinn von einem wenige Jahre alten akademischen Geschreibsel ab. Ich bin sicher, dass die Macht von Partikular­interessen im Vergleich zum allmählichen Vordringen von Ideen grob überschätzt wird.

Auch deshalb hatte die Mont Pèlerin Society von Anfang an einen klaren Auftrag: die Ideen des Neoliberalismus in die Welt zu tragen und in möglichst vielen Bereichen umzusetzen. Was ein solches Vorgehen notwendiger­weise mit sich bringt, sind sehr unterschiedliche Auslegungen und Umsetzungen dieser Ideen.

Es ist ein beliebter Allgemein­platz, zu behaupten, der Begriff des Neo­liberalismus sei heutzutage aufgeweicht und diffus; niemand wisse mehr genau, was eigentlich damit gemeint sei. Dabei sind die Kämpfe um Definition und Erbe der Ideen der «Genfer Schule», wie es der Historiker Quinn Slobodian nennt, schon in der Gründungs­phase angelegt. Wer durch die möglichst weitreichende Verbreitung von Ideen auf Politik und Geistes­wissenschaften einwirken will, muss damit rechnen, dass Markt­fundamentalistinnen wie Reagan, Thatcher, Trump oder Politiker des «Dritten Weges» wie Schröder und Blair, sich diese Ideen nicht nur aneignen, sondern zu ihren Zwecken auch umformen.

Wie Ola Innset in seinem Buch «Reinventing Liberalism» beschreibt, erinnert sich Dorothy Hahn, die junge Studentin aus dem ausgebombten London, noch heute daran, dass es beim Mittagessen Orangen gab. Sie hatte in ihrem Leben noch keine Orange gegessen und wusste nicht, wie man sie schält. Hayek kam ihr zu Hilfe, was Hahn ungemein peinlich war. Diese Anekdote sagt viel darüber aus, wie sehr die Tage am Mont Pèlerin von den Realitäten der Nachkriegs­zeit geprägt waren.

Chaos als perfekte Ausgangslage für neoliberale Ideen

Das «Dazwischen» bestimmte die Atmosphäre. Was sich hier, in frühesten Tagen des Neoliberalismus, schon andeutet, ist das Gewicht, das diesem «Dazwischen» in den folgenden Jahrzehnten zukommen wird. Wirtschafts­politik wird für die breite Bevölkerung immer dann zu einer manifesten Schicksals­frage, wenn gerade eine Krise oder ein Umbruch stattgefunden hat, dann nämlich, wenn der Staat reagieren muss. Nach der Wirtschafts­krise 1929 nahm die Wirtschafts­politik eine keynesianisch-sozial­liberale oder auch faschistisch-interventionistische Wendung, die sich in den folgenden Jahren als Konsens verfestigten. Es war dieser Konsens, den Hayek und seine Anhänger gefährlich fanden und mit aller Macht bekämpfen wollten. Daher die Dringlichkeit, mit der 1947 auf dem Mont Pèlerin die Diskussionen geführt wurden.

Auch das Ende des Zweiten Weltkrieges, die neue Front­stellung des Ost-West-Konfliktes und das Ende der Kriegs­wirtschaft bedeuteten einen Epochen­bruch. Und eine Krise, sei es ein Krieg, eine Wirtschafts­krise, eine Natur­katastrophe, ein politischer Umbruch oder auch eine Pandemie, ist immer auch eine Chance für Transformation. Das Chaos und die Desorientierung, die auf einen solchen Umbruch folgen, bilden die perfekte Gelegenheit, um neoliberale Ideen in der Politik zu verankern, wie Naomi Klein in ihrem Buch «Die Schock-Strategie» argumentiert.

Im heutigen «Pèlerin Palace» scheinen Krisen nicht zu existieren.

Das Äussere musste bei den Sanierungs­arbeiten in den 2010er-Jahren original­getreu erhalten bleiben.
Ein neu erbauter Spa-Bereich macht das Gebäude heute zu einem Luxus-Airbnb.

Als ich mit Maske zur Tür hereinkomme, winkt Jean ab. Das hier sei private property, sagt er. Ich behalte meine Maske auf und frage ihn, wem dieses Gebäude heute gehöre. Er sei der Besitzer, erklärt er mir, und überblickt stolz die vollgestellte Lobby, schon seit 2008 wohne er hier. Später, am Pool, der gekippt ist und dunkelgrün, sagt er etwas von einem Neuanfang und davon, dass es mit seinen ehemaligen Geschäfts­partnern Probleme gegeben habe. Seine Bulldogge, die er Nala getauft hat, pinkelt ins Gras.

Einen Blick ins Handels­register und eine kurze Google-Recherche später weiss ich, dass es sich bei Jeans ehemaligem Geschäfts­partner um Ilyas Chrapunow handelt. Langsam dämmert mir, was Jean gemeint haben könnte, als er von «Problemen» sprach.

Kasachische Oligarchenfamilie, russische Mafia

Ilyas Chrapunow ist der Sohn von Wiktor Chrapunow, dem ehemaligen Bürger­meister von Almaty. 2008 floh Wiktor Chrapunow mit seiner Frau Leila in die Schweiz – angeblich mit einem Jet voller Kunst, Antiquitäten und anderer Wert­gegenstände. Ihr Sohn Ilyas war bereits vor Ort, er hatte dort die Universität besucht. «Es ist gut, schweizerisch zu sein!», lautete der Slogan der Firma, die von den Chrapunows in Genf als Zentrum ihrer finanziellen Aktivitäten etabliert wurde: die Swiss Development Group.

Seit 2012 klagt die Stadt von Almaty in mehreren Ländern gegen die Chrapunows. Der Vorwurf: Sie sollen mehr als 300 Millionen Dollar veruntreut und durch Immobilien­geschäfte in die Schweiz geschleust haben. Ausserdem, so ist es in Gerichts­­akten des United States District Court in New York zu lesen, sollen sie in den USA gemeinsam mit Muchtar Abljasow, dem ehemaligen Energie­minister Kasachstans, Investitionen getätigt haben. Bis 2009 war dieser Vorsitzender der BTA Bank, von der er mehr als 10 Milliarden Dollar gestohlen haben soll. Abljasow, der sich auch in den «Paradise Papers» die Ehre gibt, ist Ilyas Chrapunows Schwiegervater.

Die Swiss Development Group jedenfalls fängt 2008 an, in der Schweiz zu investieren. Neben einem Einkaufs­zentrum, einem Beach Resort und mehreren anderen Luxus­immobilien kauft die Firma auch das «Hôtel du Parc». Fortan soll es «Pèlerin Palace Private Residences» heissen und von der Kempinski Group verwaltet werden.

Die Hoffnungen, die die Chrapunows in ihr Prestige­projekt setzen, sind gross. 2013 jubelt die NZZ, hier werde die «teuerste Wohnung» der Schweiz verkauft. Der Basketball­spieler Tony Parker lässt sich auf die Liste der Interessenten setzen, Claudia Schiffer wirbt als «Botschafterin des Hauses» für die Appartements. Allein, drei Jahre später, im Januar 2016 ist das Gebäude immer noch eine Baustelle. Der Schweizer Sender RTS berichtet, dass rund fünfzehn am Bau beteiligte Unternehmen die Swiss Development Group wegen unbezahlter Rechnungen in Höhe von 2,5 Millionen Franken verklagen.

Angesichts der Schwierigkeiten, in denen sich die Chrapunows zu diesem Zeitpunkt schon befinden, ist ihre Abwesenheit nicht weiter verwunderlich.

Wiktor Chrapunow gilt 2012 als von Interpol gesucht, in England und den USA laufen Gerichts­verfahren, und auch die Schweizer Staats­anwaltschaft eröffnet ein Straf­verfahren gegen die Familie. Im selben Jahr übergibt Ilyas Chrapunow den Firmen­vorsitz der Swiss Development Group an den Schweizer Geschäfts­mann und früheren Genfer CVP-Präsidenten Philippe Glatz, der allerdings laut der New Yorker Anklage­schrift lediglich als Strohmann der Chrapunows agiert haben soll.

2016 berichtet die «Financial Times» über eine weitere Verbindung der Chrapunows in die Schatten­welt der internationalen Finanz­wirtschaft: Die Familie soll Wohnungen im «Trump Soho» gekauft und mit Felix Sater von der Bayrock Group zusammen­gearbeitet haben. Sater, der sich 1998 schuldig bekannte, an einem 40 Millionen Dollar schweren Börsen­betrug der russischen Mafia beteiligt gewesen zu sein, und der 2006 noch als einer der engsten Berater von Donald Trump galt, geriet 2019 in das Visier des Sonder­ermittlers Robert Mueller. Tatsächlich ist in einer alten Marketing­broschüre der Bayrock Group unter «Internationale Projekte» zu lesen: «Die Bayrock Group und ein Partner sind im Begriff, das ‹Hôtel du Parc› zu akquirieren.» Am Ende des Hefts lächelt von einem verpixelten Schwarzweiss­foto Donald Trump herunter. Er steht neben Tevfik Arif, dem Gründer der Bayrock Group, und vor einer Wand von Fotos mit weiteren, lächelnden Donald Trumps.

In der Schweiz ist man gespalten darüber, was man von der kasachischen Familie halten soll.

Die Chrapunows behaupten, sie seien Opfer einer politisch motivierten Kampagne des kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew geworden. Und natürlich war sich der Diktator bisweilen auch für zwielichtige Methoden nicht zu schade, der Chrapunows habhaft zu werden.

2015 stand Christa Markwalder von der Freisinnig-Demokratischen Partei in der Kritik, sie habe sich von einer Lobby­organisation der kasachischen Regierung für eine Anfrage über die Schweizer Beziehungen zu Kasachstan instrumentalisieren lassen. Ob es an der sogenannten «Kasachstan-Affäre» lag oder an mangelnden Beweisen, jedenfalls liess die Schweizer Staats­anwaltschaft die Anklage 2019 fallen, und im Januar dieses Jahres erhielten die Chrapunows sogar Asyl in der Schweiz.

Woher aber kommt das ganze Geld, das die Chrapunows mutmasslich in der Schweiz reinwaschen wollten?

2018 beschrieb Sergej Perow, der Chef der Antikorruptions­behörde in Kasachstan, dem «Diplomat» das angebliche System der Hinterziehung so:

Bürgermeister Chrapunow wies seine Untergebenen an, ein fiktives Verkaufs­angebot an eine Firma zu machen, die letztendlich seiner Frau Leila gehörte. Danach verkauften die Chrapunows das Objekt zum Realwert an eine dritte Partei. Ein Grundstück aus Staats­eigentum wurde zum Beispiel gekauft und einen Tag später für das Fünfundvierzig­fache weiter­verkauft. Er ist kein tugendhafter Mann; er hat sogar einen Kinder­garten und ein Kranken­haus für Kriegs­veteranen privatisiert.

Ob das alles so stimmt, müssen die Gerichte entscheiden.

Ausser Frage steht allerdings, dass die radikale Privatisierungs­kampagne, die nach dem Fall der Sowjetunion vom Internationalen Währungs­fonds IWF und anderen Organisationen vorangetrieben wurde, vielen Akteuren die Gelegenheit gab, sich zu bereichern. 2003, zehn Jahre nach dem Triumph des damaligen Präsidenten Boris Jelzin bei einem Impeachment-Verfahren vor der russischen Duma, bemerkte der Ökonom Joseph Stiglitz:

Während der Jahre der IWF-Programme bot die Markt­wirtschaft – mit hohen Zinsen, illegitimen Privatisierungen, schlechter Unternehmens­führung und Finanzmarkt­liberalisierung – lediglich Anreize für die Zerschlagung und Ausschlachtung von Unternehmen.

Das vielbeschworene «Window of Opportunity» bekommt im Nachhinein einen ganz anderen Klang. Darüber, ob Jeffrey Sachs, einer der prominentesten Architekten der post­sowjetischen Schock­therapie, Hayek gelesen hat, brauchen wir nicht zu spekulieren: 1992, in dem Jahr, in dem Friedrich Hayek starb und zu einem der «toten Ökonomen» wurde, über die Keynes damals sprach, hielt Sachs die erste «Hayek Lecture» am Institute of Economic Affairs. Die kasachische Bevölkerung hat das «allmähliche Vordringen von Ideen», das Hayek damals beschwor, am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Jean, der mit Nachnahmen Lecler heisst, und der in keinem der Dokumente zur Swiss Development Group auftaucht, kennt Hayek jedenfalls nicht. Auch über seine ehemaligen Geschäfts­partner will das Gespräch nicht in Gang kommen. Was Jean mir allerdings verrät, ist der Name seiner Firma, der das Gebäude heute angeblich gehört: Sie heisst Nala International Invest Bank; er hat sie nach seiner französischen Bulldogge benannt.

Die Website der Bank ist selbst ein Kunstwerk. Ein ornamentales Design rankt sich um die Buchstaben NIIB. Im Hintergrund läuft ein kitschiger Film, der die Skyline von Dubai zeigt, die Wüste, einen majestätischen Falken, glänzende Hochhäuser, arabische Männer mit Ghuttras und einen westlich aussehenden Geschäfts­mann, der dynamisch die Zeitung aufschlägt. Es ist das geballte Pathos der Leute, die gern das Wort «Fortschritt» verwenden.

Unter dem Video findet sich der «CEO» der Firma: Sabah Ben Rachid Al Abdessalem. Daneben ein Foto von einem Mann, der bestimmt und tatkräftig in die Kamera schaut. Al Abdessalem ist schwer zu googeln, weder in arabischer noch in lateinischer Schrift taucht sein Name irgendwo auf. Ich starte eine umgekehrte Bildersuche, und siehe da: Es ist ein Stockfoto, also ein Bild, das ein Fotomodell zeigt und das jeder im Internet kaufen kann. Ansonsten gibt es kaum Informationen auf der Website, vier Adressen werden aufgeführt, in Brüssel, New York, Zürich und Dubai.

An drei der vier Adressen gibt es keinen einzigen Hinweis auf die Nala International Invest Bank, kein Briefkasten, kein Schild, niemand hat je etwas von dieser Firma gehört. Nur in Dubai habe ich keine Gelegenheit, die Anschrift zu verifizieren, auch hat der «Goldcrest Executive Tower», wo sich die Firma angeblich befindet, keine Telefon­nummer, die man anrufen könnte. Ich sehe in französischen, belgischen, schweizerischen, amerikanischen Handels­registern nach: nichts. Auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten ist die Firma nicht registriert, zumindest nicht offiziell – es gibt dort 47 Sonder­wirtschafts­zonen, deren Register nicht öffentlich einsehbar sind.

Das intellektuelle Erbe ist unkontrollierbar

Ein etwas undurchsichtiger «Host», der ein Luxus-Airbnb führt. Sonder­wirtschafts­zonen, die es unmöglich machen, Finanz­flüsse nachzuvollziehen. Eine kasachische Oligarchen­familie, die der Geldwäsche bezichtigt wird. Der ehemalige Bürger­meister von Almaty, der sich während der rapiden Privatisierung postsowjetischer Staaten massiv bereichert haben soll. Ein russischer Mobster, der mit Donald Trump Immobilien­geschäfte macht. Ein Belle-Époque-Hotel, das entkernt wird und als Kopie seiner selbst im Plattform­kapitalismus wieder­aufersteht.

Sind das nun die logischen Konsequenzen einer Geschichte, die 1947 ins Rollen gebracht wurde? Schliesst sich hier, auf dem Mont Pèlerin, der Kreis?

Eines jedenfalls ist sicher: «An der Macht befindliche Verrückte», wie es bei Keynes heisst, nehmen keine Rücksicht auf die Feinheiten akademischer Differenzierung. Das intellektuelle Erbe ist unkontrollierbar. Selbst die ernsthaften, Zigarre rauchenden Begründer der Mont Pèlerin Society waren dazu nicht in der Lage. Denn die Macht der Ideen liegt ja gerade in ihrer Veränderlichkeit.

Eine Idee ist kein Fixpunkt, sie existiert nicht im luftleeren Raum, sie ist angewiesen auf Auslegung und Interpretation. Und so spiegeln sich die Ideen des Neoliberalismus in allen glänzenden Oberflächen des «Pèlerin Palace».

Und im Hintergrund erheben sich die französischen und Walliser Berge.

Zur Autorin

Theresia Enzensberger hat Film und Film­wissenschaft am Bard College in New York studiert und schreibt als freie Autorin unter anderem für die FAZ, FAS, «Zeit online» und «Zeit». Ihre Kolumne «Iconoclash» erscheint monatlich im Magazin «Monopol». 2017 erschien ihr erster Roman «Blaupause», er wurde in mehrere Sprachen übersetzt und mit der Alfred-Döblin-Medaille ausgezeichnet. Enzensberger lebt und arbeitet in Berlin.

Hinweis: In einer früheren Version hiess es, Christa Markwalder sei wegen der sogenannten «Kasachstan-Affäre» im Jahr 2013 in der Kritik gestanden. Richtig ist: Das war 2015. Wir haben die Stelle korrigiert.

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