Ein Rücktritt sieht anders aus: Sebastian Kurz. David Payr/laif

Kurz weg

Der österreichische Bundes­kanzler ist offiziell zurückgetreten. Doch das System Sebastian Kurz bleibt – und seine Rücktritts­rede war in Wahrheit: Wahlkampf.

Eine Analyse von Natascha Strobl, 12.10.2021

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Vergangenen Mittwoch liess die österreichische Staats­anwaltschaft wegen Ermittlungen zu Untreue und Bestechlichkeit unter anderem das Kanzler­amt und die ÖVP-Partei­zentrale durchsuchen – und am Samstag­abend trat ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz vor die Weltpresse.

Offiziell, um seinen Rücktritt bekannt zu geben. Tatsächlich, um Verant­wortlichkeit zu verschieben und am Macht­erhalt zu arbeiten. Kurz tritt nicht ab. Er tritt bloss zur Seite. Und dies, obwohl die Vorwürfe schwer wiegen – nicht nur straf­rechtlich, sondern auch politisch. Dazu später mehr.

Die strafrechtlichen Vorwürfe haben es in sich: Manipulationen, Bestechung, Untreue – all dessen soll sich eine Clique um Kurz ab 2016 schuldig gemacht haben. Mit einem Ziel: Sebastian Kurz und die ÖVP an die Spitze der öster­reichischen Regierung zu bringen. Zu diesem Fazit kommen Korruptions­ermittler aufgrund seiten­langer Chat­verläufe zwischen Partei­mitgliedern und einer Boulevard­zeitung sowie diverser «Schein­rechnungen».

Ich will es genauer wissen: Wer sind die Akteure in diesem Skandal, und was genau steht in diesen Chat­nachrichten?

Ist Sebastian Kurz wirklich mithilfe von Bestechung öster­reichischer Kanzler geworden? Laut Ermittlern der Wirtschafts- und Korruptions­staats­anwaltschaft (WKStA) gibt es dafür klare Indizien. In einer Razzia stellten Ermittler zahlreiche Laptops, Handys und Unterlagen sicher. Darin finden sie auch Chats, welche die Handlungen von Kurz’ Team gut dokumentieren.

Drei Personen­gruppen sind in den Skandal verwickelt:

Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz und Vertraute aus seinem Team: Sie sollen dafür gesorgt haben, dass die ÖVP und Kurz selbst in den Medien gut dastehen und der partei­interne Konkurrent im Rennen um das Kanzler­amt ausgestochen wird. Die entscheidende Frage: Wie viel wusste Kurz davon? Die Ermittler sehen Kurz als «die zentrale Person», da sämtliche Tathandlungen «mass­geschneidert» in seinem Interesse begangen worden seien. Kurz sei über alle Schritte informiert worden. Zu einzelnen Umfrage­ergebnissen erhielt Kurz zum Beispiel folgende Nachrichten:

Generalsekretär im Finanz­ministerium: «Umfrage am Sonntag müsste alles passen.»
Generalsekretär im Finanz­ministerium: «Neue Werte! Call me Mr Umfrage :-))»

Kurz soll sich für gute Umfrage­werte in der Boulevard­zeitung «Österreich» auch direkt bei seinem Team bedankt haben:

Sebastian Kurz: «Danke für Österreich heute»
Generalsekretär im Finanz­ministerium: «Immer zu Deinen Diensten.»

Eine Meinungsforscherin, die Umfragen für die ÖVP auf Steuer­kosten frisiert haben soll. Dazu liegen den Ermittlern Chat­nachrichten vor, in denen Kurz’ Team die gewünschten Ergebnisse einer Meinungs­umfrage diktiert haben soll oder davor warnte, nicht allzu auffällig zu manipulieren:

«Grüne stark, Sozis Mittel, bissl neos, VP so gut wie nichts.»
«Bei sozialen Themen kommen wir an SPÖ ran. Muss beim Rechnen aufpassen, sonst wird es unglaubwürdig.»

Die österreichische Boulevard­zeitung «Österreich», die gezielt Artikel im Auftrag von Kurz’ Team in Form von wohlwollender Bericht­erstattung abgedruckt haben soll. Durch die Zeitung konnte Kurz’ Team die öffentliche Meinung steuern. Teilweise wurden die Inhalte in der Zeitung sogar konkret in Chats vorgeplant. Einer der Chats lässt vermuten, dass die Zeitung fast immer nach den Wünschen von Kurz gehandelt hat. Als jedoch «vereinbarte Inhalte betreffend diverse Ergebnisse von Umfragen» nicht veröffentlicht werden, wird offenbar gegen eine vorher besprochene «Abmachung» verstossen:

Kurz’ Team: «Das ist echt eine Frechheit und nicht vertrauens­bildend. Wir sind echt sauer!!!! Mega sauer.»
«Österreich»-Chefredaktor Wolfgang Fellner lenkt ein und versucht mit einem grossen positiven Artikel zu beschwichtigen: «Versteh ich voll – melde mich in 30 minuten – mache jetzt volle doppel­seite über umfrage am Mittwoch. Okay?»

Die neuste Wendung im Skandal: Ausgerechnet die Lebensgefährtin von Kurz buchte als Mitarbeiterin des österreichischen Finanzministeriums die staatlichen Anzeigen in dieser Zeitung, die nun Gegenstand der Ermittlungen sind.

Das Opfer

In seiner Rücktrittsrede – hier im Wortlaut nachzulesen – arbeitete Kurz mit den üblichen rhetorischen Mustern. Sie sollen die schwer­wiegenden Vorwürfe übertünchen, die im Raum stehen: Ein Vertrauter und ein späterer Presse­sprecher des damaligen Aussen­ministers Kurz sollen 2016 Staats­gelder dafür verwendet haben, bei einer Meinungs­forscherin frisierte Kurz-freundliche Studien zu bestellen und diese dann wiederum gegen finanzielle Gegen­leistungen im redaktionellen Teil von Medien platziert zu haben. (Einen schnellen Überblick über die Affäre finden Sie hier und einen etwas ausgiebigeren hier.) Die mutmasslichen Deals wurden begleitet von rasanten Kurz­nachrichten, etwa vom Vertrauten: «Wer zahlt schafft an. Ich liebe das.»

Auf die Ermittlungen selber ging Kurz in seiner Rede kaum ein (die Vorwürfe seien «falsch», «und ich werde das auch aufklären können, davon bin ich zutiefst überzeugt»). Stattdessen fand er sehr früh in seinem Auftritt einen Schuldigen: die Grünen, die zurzeit mit der ÖVP die Regierungs­koalition stellen. Viele Spitzen­politiker hätten das schon erleben müssen, so Kurz. Etwas, das nachweislich nicht stimmt: Durch­suchungen in Staats­gebäuden wegen mutmasslicher Bestechungs­vorfälle sind keine Alltäglichkeit. Doch in der Darstellung von Kurz: «Was diesmal anders ist, ist, dass der Koalitions­partner sich dazu entschlossen hat, sich klar gegen mich zu positionieren.»

Im weiteren Verlauf inszeniert sich Kurz dann als Märtyrer («mein Land ist mir wichtiger als meine Person»): «Ich möchte daher, um die Patt­situation aufzulösen, Platz machen, um Chaos zu verhindern und Stabilität zu gewähr­leisten.» Sebastian Kurz als der grosse Staats­mann, der sich opfert.

Verdrehen ins Gegenteil

Doch es geht nicht um eine «Patt­situation» – es geht um straf­rechtliche Ermittlungen gegen Kurz, sein engstes Umfeld und die ÖVP. Es gibt kein «Chaos», sondern einen Rechts­staat, der ermittelt. Und Kurz macht auch nicht wirklich «Platz» – sondern er nutzt den Moment, um die Grünen anzuschwärzen, sich als Opfer zu inszenieren und aus der Affäre politisch Kapital zu schlagen. Das heisst: Er macht, wie immer, wieder Wahlkampf.

Ein ständiges Verdrehen ins Gegenteil, eine laufende Erzählung von «ich gegen alle anderen»: Das sind rhetorische Strategien, wie man sie beispiels­weise auch vom Ex-US-Präsidenten Donald Trump kennt und die typisch sind für einen radikalisierten Konservatismus.

Es ist diese Skrupellosigkeit, auf der das System Kurz aufbaut. Und sie wird in Reden und öffentlichen Auftritten immer wieder sichtbar. Beispiels­weise auch in einem anderen dramatischen Moment jüngerer österreichischer Politik, dem Rücktritt des damaligen FPÖ-Chefs und Vize­kanzlers Heinz-Christian Strache nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos im Frühjahr 2019. Die FPÖ war damals der Koalitions­partner der ÖVP.

Strache und sein enger Vertrauter, der FPÖ-Politiker Johann Gudenus, tappten im Juli 2017 in eine Video­falle und wurden dabei gefilmt, wie sie sehr gross­spurig die halbe Republik an die angebliche Nichte eines russischen Oligarchen verscherbeln wollten. Die grösste Zeitung des Landes (die «Kronen Zeitung»), das Wasser, Baurechte – man war bereit, alles gegen die Finanzierung der Partei und den Wahlsieg herzugeben. Die Folge nach dem Bekannt­werden 2019 war eine politische Zäsur und die Republik im Ausnahme­zustand. Spannend ist jedoch die damals unmittelbare Reaktion von Kanzler Kurz.

Zur besten Sendezeit verkündete Kurz die Auflösung der Koalition und Neuwahlen. In dieser Rede erwähnte er jedoch nur einen einzigen Namen: nicht Strache oder Gudenus, auch nicht den Namen von Bundes­präsident Alexander Van der Bellen – sondern nur den Namen des einstigen SPÖ-Wahlkampf­beraters Tal Silberstein. Silberstein hatte bei der österreichischen National­rats­wahl 2017 auf Facebook Dirty-campaigning-Seiten gegen Kurz erstellt und damit einen Skandal verursacht. Die Ibiza-Affäre, sagte Kurz nun nach Auffliegen derselben, erinnere ihn an die «Methoden» von Silberstein.

Doch was hat ein Berater der SPÖ mit der FPÖ zu tun? Mit deren offenkundig gewordenen Bereitschaft – denn darum ging es doch eigentlich –, für eine in Aussicht gestellte Finanzierung allerlei Infra­struktur zu verkaufen? Warum erwähnt Kurz in so einem Moment Silberstein, und nur ihn?

Permanenter Wahl­kampf

Die Handlung ergibt nur Sinn, wenn man Sebastian Kurz nicht mit den Massstäben der Staats­räson oder in Kategorien von Verantwortung, Anstand und Moral misst. Das sind für Kurz keine relevanten Kriterien, auch in einer Staats­krise geht es darum nicht. Vielmehr funktioniert der radikalisierte Konservatismus der ÖVP nur im permanenten Wahl­kampf­modus. Das heisst: Ausnahmslos jede Situation wird dem kurzfristigen Gewinn, der schnellen Steigerung der eigenen Beliebtheit und dem Desavouieren des Gegners unter­geordnet. Nur das zählt.

Sieht man das als gegeben an, wird es plötzlich erklärbar, dass in der Krise rund um Ibiza ein ehemaliger SPÖ-Wahlkampf­berater so einen prominenten Platz bekommt. Das dokumentierte Fehl­verhalten der FPÖ wird so zur Bühne, um die SPÖ gleich mit anzupatzen. Wahl­kampf eben.

Und dieses Mal sind es eben die Grünen – der Koalitions­partner der ÖVP, «der sich dazu entschlossen hat, sich klar gegen mich zu positionieren», die eine «Patt­situation» schufen und Kurz zum Märtyrer­tum zwingen.

An die Macht gemogelt

Die Rede von Sebastian Kurz vom Samstag beinhaltete keinerlei Einsicht in mögliches Fehl­verhalten, keine Entschuldigung, auch nicht ein Bekenntnis dazu, wie wichtig die Arbeit einer unabhängigen Justiz ist. Stattdessen sagte Kurz lediglich, er sei «eben auch nur ein Mensch mit Emotionen und eben auch mit Fehlern». Damit spielte er auf derbe Formulierungen auch seinerseits in Chats an.

Der eigentliche Skandal aber sind nicht die Chats an sich, sondern die Gründe für Ermittlungen, die Haus­durchsuchungen rechtfertigen. Noch einmal: Sebastian Kurz und sein Netzwerk stehen im Verdacht, Umfragen frisiert zu haben beziehungs­weise sie frisiert haben zu lassen. Diese falschen Umfragen wurden mutmasslich mit Steuer­geld bezahlt und an eine Boulevard­zeitung weiter­gegeben, die diese gegen ein Gegen­geschäft in Form von Inseraten reisserisch brachte, womit sie Stimmung erzeugte. Der Vorwurf wiegt schwer. Straf­rechtlich, aber auch politisch.

Denn der ganze Hype um die Figur Sebastian Kurz beruht auf einer Erzählung, die publizierte Umfrage­ergebnisse massgeblich mitgeprägt hatten. Der Idee nämlich, dass die Grosse Koalition zwischen SPÖ und ÖVP – aus der Kurz das Land 2017 erlöste – eine zutiefst ungeliebte war. So richteten sich diese Umfragen sowohl gegen den eigenen Partei­chef und damaligen Vize­kanzler Reinhold Mitter­lehner als auch gegen den sozial­demokratischen Kanzler Christian Kern. Falls sich bestätigen sollte, dass allenfalls einige dieser Umfragen tatsächlich – mit Steuer­geldern – willentlich verzerrt wurden, stellt dies Sebastian Kurz auch als politische Erfolgs­figur infrage.

Was nun, Österreich?

Der Kanzler Kurz ist vorerst Geschichte – doch sein System, seine Macht und der Schaden, den es anrichtet, sind es noch lange nicht.

Auf allen Seiten wurde gefordert, Kurz müsse zurück­treten und endlich Verantwortung übernehmen. Der taktische Fehler war es, nicht die Auflösung des gesamten Systems Kurz, mit allen Beschuldigten, des ganzen Netzwerks zu fordern und sich stattdessen auf die Person Kurz zu kaprizieren. Er ist nun offiziell weg. Doch es wird weiter­gehen wie bisher.

Personen, gegen die ermittelt wird, bleiben vorerst in Amt und Würden, sie dürfen weiter an den Hebeln der Macht sitzen. Kurz’ Prätorianer halten weiter die Fäden und die Ressourcen einer Regierung in der Hand. Sie bilden eine Fassade, doch die eigentliche Macht liegt woanders: eine potemkinsche Regierung.

Sebastian Kurz hat sein System an die Macht gebracht und es dort tief eingegraben. Weil der Widerstand zu gross wurde, zieht er sich in die zweite Reihe zurück. Nun kann er von dort nach bekanntem Rezept quer­schiessen. Asyl, politischer Islam, faule Arbeitslose, irgendwas gegen Wien – die Themen werden nicht überraschen, die Nieder­tracht wird aber, wie immer, entsetzen. Wahl­kampf eben. Der nächste reale Wahl­kampf kommt für Kurz bestimmt.

Ausser – und auf ihre Unabhängigkeit und Professionalität ist zu hoffen – die Justiz macht ihm einen Strich durch die Rechnung.

Zur Autorin

Natascha Strobl ist Politik­wissenschaftlerin und Publizistin und befasst sich mit der Neuen Rechten und der identitären Bewegung. Zuletzt von ihr erschienen ist «Radikalisierter Konservatismus – eine Analyse», das sich unter anderem mit den politischen und rhetorischen Strategien der ÖVP unter Sebastian Kurz befasst. Strobl liefert auf Twitter regelmässig Ad-hoc-Analysen (#NatsAnalyse) zum Thema, die mittler­weile einen sehr breiten Leser­kreis erreichen.

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