Auf lange Sicht

Wenn Essen krank macht

Seit den 1980er-Jahren nehmen chronische Krankheiten zu. Erst im Westen, dann fast überall auf der Welt. Was dahinter­steckt und wie Sie Ihre Gesundheit schützen.

Von Marie-José Kolly, 11.10.2021

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Schweizerinnen erkranken, die aktuelle Pandemie einmal ausgeblendet, immer seltener an Infektions­krankheiten. Immer häufiger dafür an dem, was man «nicht übertragbare Krankheiten» nennt: Sie sind nicht ansteckend, und sie entwickeln sich schleichend. Sie bleiben aber, sind sie einmal da, häufig chronisch bestehen. Bei vielen Menschen führen sie zum Tod.

Ganz typisch für diesen Prozess ist Typ-2-Diabetes. Diese Krankheit ist – anders als Typ 1 – nicht primär als genetische Veranlagung angeboren, sondern entwickelt sich im Laufe des Lebens wegen ungünstiger Essgewohnheiten.

Immer mehr Patienten hören bei der Ärztin: «Diabetes»

Diabetes-Diagnose, in Prozent der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren

1997200220072012201724 %

Die Daten werden im Rahmen der Schweizerischen Gesundheits­befragung erst ab 1997 und alle fünf Jahre erhoben. Quelle: Bundesamt für Statistik.

Mittlerweile gibt es nicht nur in reicheren Ländern immer mehr Diabetiker: In den aller­meisten Ländern nimmt ihr Anteil zu, weltweit hat er sich zwischen 1980 und 2014 etwa verdoppelt. Und auch verwandte Beschwerden haben zugenommen – Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

All diese chronischen Krankheiten werden haupt­sächlich dadurch befeuert (oder gebremst), wie wir leben: Rauchen, übermässiger Alkohol­konsum, mangelnde Bewegung und ungesunde Ernährung sind gemäss Welt­gesundheits­organisation die grössten Risiken.

«Das Essen ist dabei der wichtigste Faktor», sagt der Ernährungs­wissenschaftler Anthony Fardet vom französischen Institut national de recherche pour l’agriculture, l’alimentation et l’environnement auf Anfrage der Republik und verweist dabei auf verschiedene Studien.

Gerade hier, beim Essen, hat sich über die Generationen sehr viel verändert. Was genau, lässt sich laut Harry Balzer, Experte für Ess­verhalten und Food-Marketing, mit einer einfachen Frage analysieren:

Wer kümmert sich ums Kochen?

Die Antwort, so Balzer, sei immer schon prägend gewesen für die Entwicklung einer Gesellschaft. Und die typische Antwort auf diese Frage sei, seit Menschen­gedenken, immer dieselbe gewesen: «Nicht ich.»

Wer also kochte jeweils – und was?

Die allerersten Menschen kochten eigentlich gar nicht. Sie assen, was sie jagen und sammeln konnten – bis zur ersten von vier grossen Ernährungswenden.

1. Das Feuer

Vor vermutlich ein bis zwei Millionen Jahren gewannen unsere nomadischen Vorfahren Kontrolle über das Feuer. Das krempelte ihre Ernährung ein erstes Mal radikal um: Statt roh verzehrten sie ihr Essen nun häufig gekocht.

Anthropologen gehen davon aus, dass dies die Entwicklung des menschlichen Gehirns voran­getrieben hat: Gekochtes Essen ist leichter zu kauen, leichter zu verdauen. Es vergeht also weniger Zeit, bis die Energie – mehr Energie – aus der Nahrung für das Gehirn nutzbar wird. Und die Zeit – viel Zeit –, die Menschen vorher mit Kauen und Verdauen verbracht hatten, wird plötzlich frei: für andere Aktivitäten, die das Überleben sichern oder das Gehirn stimulieren.

So wurden im Laufe der Evolution die Zähne und der Darm von Menschen kleiner. Und ihr Gehirn wuchs: Die erste Ernährungs­wende brachte uns grosse evolutionäre Vorteile, und von chronischen Krankheiten waren wir noch weit entfernt.

2. Das Feld

Die Bilanz der zweiten grossen Wende dagegen ist durchzogen: Die frühen Ackerbäuerinnen und Vieh­züchter vor rund 10’000 Jahren mussten ihr Essen zwar nicht mehr da und dort zusammen­suchen, sie waren dadurch aber körperlich auch bedeutend weniger gesund als die Jäger und Sammlerinnen. Erstens fehlte ihnen die Bewegung: An ihre Stelle kam repetitive, mühselige körperliche Arbeit. Zweitens war ihr Essen viel weniger abwechslungs­reich als das der Nomaden: Sie ernährten sich mehrheitlich von Getreide. Nährstoffe aus anderen Quellen fehlten, das schwächte ihre Abwehrkräfte.

Zudem begann mit zunehmender Siedlungs­dichte die Zeit der Infektions­krankheiten: Je näher die Menschen am Vieh und an anderen Menschen lebten, desto leichter übertrugen sich Krankheits­erreger. Schon in der Jung­steinzeit rafften Seuchen ganze Dörfer hinweg.

3. Die Konservendose

Mit der industriellen Revolution vor gut 200 Jahren kam die dritte grosse Ernährungs­wende und mit ihr die ersten industriell hergestellten Lebens­mittel in die Küchen: Konserven.

Zuvor hatten die Menschen von dem gelebt, was ihre Felder und Ställe während einer bestimmten Saison an Nahrungs­mitteln hergegeben hatten. Und von ein paar auf traditionelle Art haltbar gemachten Lebens­mitteln: gesalzenes Fleisch etwa oder Lagergemüse. Ende Winter, bevor der Frühling neues Gemüse brachte, war die Nahrung in vielen Familien knapp gewesen.

Nun trugen neue Techniken der Haltbar­machung zusammen mit einer immer produktiver werdenden Land­wirtschaft zur Lebens­mittel­versorgung bei. Gerade für Seefahrer oder Soldaten wurde das Leben einfacher: Teile des Kochens hatte nun die Fabrik übernommen, Vitamine etwa konnten über längere Strecken und Zeiträume transportiert werden.

4. Die Chemie

Zurück zum Diabetes, den die vierte grosse Ernährungs­wende mit sich brachte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hunderts nahmen in vielen Staaten die chronischen Krankheiten zu – eben jene Krankheiten, von denen wir wissen, dass sie mit der Ernährungs­weise, mit Alkohol, Tabak und mangelnder Bewegung zusammenhängen.

Diese Entwicklung bei der Krankheits­last trat zeitgleich mit einer anderen auf: Menschen – zumindest in den USA – wendeten je länger, desto weniger Zeit fürs Vor- und Nachbereiten von Mahlzeiten auf. (Für die Schweiz und viele andere Länder wurden solche Daten nicht erhoben – oder werden dies erst seit ganz kurzem).

Amerikaner wendeten immer weniger Zeit fürs Kochen auf

Minuten pro Tag und Person im Alter vor 18 bis 64 Jahren

Mahlzeit vorbereiten196519751985199503060 MinutenTisch und Küche aufräumen196519751985199503060 Minuten

Werte fürs Jahr 1995: Berechnungen von Cutler et al. Quelle: Robinson, J. P. & Godbey, G. (1997): «Time for Life. The Surprising Ways Americans Use Their Time». University Park, Pa.: Pennsylvania State University Press. Zitiert nach: Cutler, D., et al. (2003): «Why Have Americans Become More Obese». «Journal of Economic Perspectives» 17/3: 93–118.

Amerikanische Forscherinnen konnten zeigen: Wenn die Menschen weniger Zeit in der Küche verbringen, nimmt das Übergewicht in der Bevölkerung zu. Und in Ländern, in denen die Menschen weniger Zeit mit Kochen verbringen, ist Übergewicht stärker verbreitet.

Gleichzeitig veränderte sich auch die Antwort auf die Frage «Wer kümmert sich ums Kochen?». Immer häufiger lautete sie statt «Nicht ich» ganz konkret: «Die Lebens­mittel­industrie». Wer weniger Zeit fürs Kochen aufwendet, isst öfter auswärts, greift öfter zu Convenience- und Fast Food.

Eine gängige Erzählung hierzu lautet, dass die zunehmende Teilnahme der Frauen am Arbeits­markt diese Entwicklung voran­trieb, dass also der Feminismus das Ende des Kochens über die Nation brachte. Aber schon lange habe die Lebens­mittel­industrie versucht, in die (zunächst) amerikanischen Haushalte einzudringen, sagt der Ernährungs­autor Michael Pollan in seiner Doku-Serie «Cooked». Denn als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, blieb sie zunächst auf den für Soldaten entwickelten Produkten sitzen: Dosen-Schwein, Pulver-Orangensaft, Schoko-Riegel. Mit cleverem Marketing – nicht etwa wegen der erwerbs­tätigen Frauen – sei diesen Produkten der Sprung in die Küchen Amerikas gelungen.

Diese vierte Ernährungs­wende, die Verbreitung ultra­prozessierter Produkte, ist mittler­weile in allen Regionen der Welt im Gange:

Die Industrie findet neue Märkte für hochverarbeitete Lebensmittel

Verkäufe in Kilogramm pro Kopf und Jahr; Wert für 2024: Projektion der Forscher

Australasien und Nordamerika2006201220192024060120 Westeuropa2006201220192024060120 Zentral- und Osteuropa2006201220192024060120 Zentral- und Ostasien2006201220192024060120 Lateinamerika und Karibik2006201220192024060120 Nordafrika und Mittlerer Osten2006201220192024060120 Afrika2006201220192024060120 Süd- und Südostasien2006201220192024060120

Quelle: Baker, P., et al. (2020): «Ultra-processed foods and the nutrition transition: Global, regional and national trends, food systems transformations and political economy drivers». «Obesity Reviews»: 1–22.

Diese Verbreitung ist also, gemäss Pollan, mehrheitlich vom Angebot – und nicht von der Nachfrage – getrieben. Essen zu verarbeiten und es dann zu verkaufen, ist viel profitabler, als «echte» Nahrungs­mittel unverarbeitet zu verkaufen. Je stärker verarbeitet, desto höher die Marge.

Denn die Lebens­mittel­industrie «kocht» ganz anders als wir: Sie nimmt die billigst­möglichen Zutaten und macht sie mit allerlei Hokuspokus so attraktiv wie möglich: mit Zusatz­stoffen, die wir aus der Kosmetik­industrie kennen. Und mit Zucker, Fett und Salz. Trotz der Energie­dichte ist in diesen Produkten der sättigende Teil des Essens nur verdünnt vorhanden: das Protein. Dieses Essen lässt uns also fast schon wieder hungrig zurück.

Und: Hoch­verarbeitete Lebens­mittel wurden komplett auseinandergebaut und anders wieder zusammen­gesetzt, wie Ernährungs­forscher Fardet im Sommer zur Republik sagte. Das verändert, wie wir essen, verdauen und verstoffwechseln – zum Nachteil für unsere Gesundheit.

Mittlerweile zeigen verschiedene Studien für verschiedene Regionen: Ein höherer Konsum solcher Lebens­mittel führt zu mehr Übergewicht. Und Übergewicht ist ein Vorläufer chronischer Krankheiten.

Leider erhob man in der Schweiz und in vielen anderen Staaten die Krankheits­last bis in die 1980er-Jahre noch nicht. Anhand neuerer Daten aus China aber lässt sich die beschriebene Entwicklung gut nachvollziehen. (Da der Konsum industriell verarbeiteter Produkte nur für die Jahre 1999, 2006, 2012 und 2017 bekannt ist, haben die Forscherinnen die Werte für die anderen Jahre interpoliert).

Industrielles Essen und Übergewicht nehmen gemeinsam zu

Entwicklung in China, in Prozent; die Mehrheit der Werte auf der x-Achse wurde interpoliert

1990...
...2016
048 % Anteil der Bevölkerung mit Übergewicht01530 % Anteil Kalorien aus industriell verarbeitetem Essen

Berühren Sie die Punkte, um die exakten Jahres- und Prozent­zahlen zu sehen. Quelle: Fardet, A., et al. (2021): «Nutrition transition and chronic diseases in China (1990–2019): industrially processed and animal calories rather than nutrients and total calories as potential determinants of the health impact». «Public Health Nutrition».

Wichtig ist: Über die 30 untersuchten Jahre nahm die Zahl der verzehrten Kalorien in China nicht zu. Sie nahm ab. Was zunahm, war einerseits der Anteil der industriell verarbeiteten Nahrung und andererseits der Anteil an tierischen Produkten. Auch bei den Kalorien gilt also: Qualität vor Quantität.

Mit dieser vierten Ernährungs­wende steht uns Menschen ständig eine enorme Breite an Lebens­mitteln zur Verfügung. Die ungesünderen darunter sind oft besonders schnell und günstig zu haben.

Haben Sie schon einmal selber Pommes frites gekocht? Hochwertige Kartoffeln eingekauft, heimgetragen, geschält, in Frites geschnitten, unter dem Wasser die Stärke abgespült, die Fritteuse – oder den Ofen – vorgeheizt, die Frites gebacken? Viel schneller (und günstiger) kommen Sie zu Pommes frites, wenn Sie sie im Restaurant oder bei Fast-Food-Anbietern bestellen.

Dort kommen Sie auch sehr schnell zu Gerichten, die in anderen Ländern als Fest­essen gelten. Sushi: gibt es in der typischen japanischen Familie zu speziellen Anlässen. Pekingente: serviert man in China und Hongkong an Hochzeiten.

Unsere Frites, Sushi und Peking­enten haben also einen Haken: Wir essen sie öfter als traditioneller­weise üblich.

Wer kümmert sich ums Kochen?

Diese Frage wird die Zukunft unseres Essens bestimmen. «Wenn Sie für Ihre Gesundheit etwas tun wollen, kochen Sie selbst», sagte die Ernährungs­forscherin Christine Brombach von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zur Republik.

Denn sonst kochen diejenigen, die dafür bezahlt werden. Und die würden Wege finden, uns so schnell und so billig wie möglich abzuspeisen, sagt der Experte für Essverhalten Harry Balzer.

«Essen Sie alles, was Sie wollen», sagt Balzer, «und geniessen Sie es.» Sie wollen Apfel­kuchen? «Essen Sie heute Abend einen ganzen Apfelkuchen.» Mit Keksen und Glace? «Essen Sie alle Kekse, die Sie heute Abend schaffen, und alle Glace. Sie müssen nur etwas tun: Machen Sie sie selbst, den Kuchen, die Glace, die Kekse.»

Sie wissen, was dann passiert.

Wenn Sie auf Balzer hören, werden Sie heute Abend vermutlich weder Apfel­kuchen noch Kekse noch Glace essen.

Zu den Daten

Lange Zeitreihen zu den hier relevanten Variablen sind nicht ganz einfach zu finden. Was häufig existiert, sind Daten zu Todes­ursachen: Welcher Anteil der Todes­fälle geht auf Lungen­krebs, auf Herz­infarkt zurück? Nur haben diese Daten für die vorliegende Frage­stellung einen Haken: Mit der Weiter­entwicklung des Gesundheits­systems sterben, obwohl immer mehr Menschen an Herz-Kreislauf-Krankheiten erkranken, immer weniger Kranke daran. Die Krankheits­last muss man also anders messen: zum Beispiel via Diagnosen, zu denen aber typischer­weise weniger und weniger lange Zeit­reihen existieren.

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