Neuer Alltag in Afghanistan: Kunduz am 16. September 2021. Andy Spyra

Die afghanische Perspektive

Seit der Macht­übernahme der Taliban interessiert sich die Welt plötzlich für Afghanistan. Und will zum ersten Mal hören, was afghanische Experten zu sagen haben. Es ist höchste Zeit.

Von Solmaz Khorsand, 05.10.2021

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Nuance beherrschen die wenigsten. Es bedarf Wissen und Feingefühl, um sie freizulegen. In manchen Fällen auch ein erhebliches Mass an Ausdauer, vor allem, wenn sich keiner für das grosse Ganze interessiert, geschweige denn für die kleinen Risse. Expertinnen aus Afghanistan haben Übung darin.

Ob Nahost­wissenschaftlerinnen wie Munazza Ebtikar, Anthropologinnen wie Anila Daulatzai oder Politik­wissenschaftlerinnen wie Weeda Mehran: Sie alle wissen, was es heisst, wenn sich niemand für ihr Heimat­land interessiert, weder für die grossen Linien noch die Details. Doch seit Mitte August, als Kabul an die Taliban fiel, ist das anders. Seither dürfen sie in Dauer­schleife erklären, was in Afghanistan passiert ist – nicht nur in den letzten Tagen und Wochen, sondern in den vergangenen Jahren und Jahr­zehnten. Zum ersten Mal scheint die Welt­öffentlichkeit zuhören zu wollen. Bereit für jede Nuance.

Und so versuchen Afghanistans Experten auf Panels, in Kommentaren und Tweets Kontext zu liefern, Floskeln zu kontern und plumpe Schwarzweiss-Narrative von tribalistischen Stammes­strukturen, barbarischen Taliban und hilflosen Frauen zu entkräften. All das, was wir im Westen durch unsere Brille immer etwas verschwommen wahrgenommen haben.

Es ist Zeit, diese Brille abzulegen. Mit der Hilfe von vier Expertinnen aus Afghanistan.

1. Der ideologische Missbrauch des weiblichen Körpers

Afghanistans Frauen sind nicht dieselben Frauen wie vor 20 Jahren. Sie werden sich nicht so leicht unterdrücken lassen wie beim ersten Mal, als die Taliban an die Macht kamen. Dieses Mal werden sie sich wehren.

Seit Wochen hört Munazza Ebtikar diese Sätze. Sie kann ihnen nicht viel abgewinnen. «Ich halte es für problematisch, zu sagen, dass die Frauen heute kämpfen im Vergleich zu jenen in den 1990er-Jahren», sagt sie. «Auch damals haben sie gekämpft.» Als die Schulen geschlossen wurden, waren es etwa die Frauen, die damals im Untergrund die Kinder unterrichteten, insbesondere die Mädchen. Ganze Netzwerke zogen sie auf.

Munazza Ebtikar.
«Der westliche Blick wählt sehr selektiv aus, wie die Frauen in Afghanistan zu verstehen sind.»

Munazza Ebtikar stammt aus dem Norden Afghanistans. Ein Teil der Familie kommt aus Balkh, unweit der Stadt Mazar-i Sharif, der andere Teil aus der Provinz Panjshir. Die studierte Nahost­wissenschaftlerin arbeitet derzeit an der Universität Oxford an ihrer Dissertation in Anthropologie. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Krieg, Erinnerung und Genderfragen.

Aus dem Ausland verfolgt sie die Lage in ihrer Heimat, die Angriffe auf das Panjshir-Tal, die Berichte über die Misshandlung von Journalisten, die Ermordung einer schwangeren Gefängnis­beamtin vor den Augen ihrer Familie. Sowie all die Restriktionen, die Frauen wieder aus der Öffentlichkeit verbannen, weil die jüngeren Taliban-Kämpfer noch nicht geübt sein sollen im Umgang mit ihnen, wie sich die Führung so euphemistisch ausgedrückt hat. Seit dem Fall Kabuls beobachtet Ebtikar auch, wie stark Afghanistans Frauen wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.

Die afghanische Frau hat im Westen eine lange Geschichte.

Schon vor der US-Invasion 2001 war sie ein cause célèbre. Ihr Martyrium hinter dem blauen, kratzigen Polyester­stoff, der «Burka», übte schon immer eine Faszination auf ausländische Feministinnen, Redaktionen und Talkshow-Gastgeber aus, vom Magazin «Glamour» bis zur «Oprah Winfrey Show». Befreit müssten sie werden, diese armen Frauen, sagte First Lady Laura Bush unmittelbar nach dem Einmarsch der US-Truppen in einer Radio­ansprache im November 2001: «Der Kampf gegen Terrorismus ist auch ein Kampf für die Rechte und Würde von Frauen.»

In ihrer Arbeit dokumentiert Munazza Ebtikar, wie problematisch diese westliche Befreiungs­ideologie ist und wie wenig sie dem eigenen Kampf der Afghaninnen Rechnung trägt. So wird im Westen nur das als feministischer Kampf wahrgenommen, was der Westen als solchen erkennt. Proteste, Mini­röcke, instagram­taugliche Heldinnen, das erkennt er. Da wird er abgeholt. So auch 2017, als Sicherheits­berater versuchten, US-Präsident Donald Trump zu überzeugen, die Truppen aus Afghanistan noch nicht abzuziehen. Ihr stärkstes Argument: ein schwarzweisses Foto von Afghaninnen aus den 70er-Jahren – im Minirock. Das Foto sollte beweisen, dass sich der US-Einsatz auszahlt, dass Afghanistan noch nicht verloren sei, dass schon einmal die «westliche Kultur» mit all ihren Werten hier Einzug gehalten hatte – messbar an ein paar Zentimetern Stoff auf einem Frauenschenkel.

«Der westliche Blick wählt sehr selektiv aus, wie die Frauen in Afghanistan zu verstehen sind», sagt Ebtikar. Das gilt auch für die aktuellen Proteste. In den meisten Medien werden sie in erster Linie als Proteste für mehr Frauen­rechte gewertet. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. «Diese Proteste haben unmittelbar nach den Angriffen der Taliban im Panjshir-Tal statt­gefunden», sagt Ebtikar. Sie seien damit auch Ausdruck der Solidarität für die nationale Widerstands­bewegung im Norden des Landes, unter dem Kommando von Ahmed Massud, der seine Landsleute wiederholt zum Aufbegehren gegen die Taliban aufgerufen hatte. Der Protest habe damit mehrere Dimensionen.

Ausserdem waren es nicht die einzigen Proteste. Es gab auch jene, die weniger als solche interpretiert werden. So wird weitläufig spekuliert, dass jene Hunderte Frauen in den schwarzen Abayas und Nikabs, die, eskortiert von Taliban-Kämpfern, auf den Strassen Kabuls und in der Universität für das Emirat demonstriert haben, es nicht aus freien Stücken getan haben.

Inwieweit diese Annahmen zutreffen, kann Ebtikar nicht sagen. Sie erkennt lediglich ein Muster, das sich durch die jüngere afghanische Geschichte zieht: der Missbrauch des weiblichen Körpers. «Wir sehen, wie die Taliban den Körper von Frauen für ihre politischen Zwecke ausnutzen, um international Legitimität zu gewinnen.» Ihre Botschaft ist klar: Seht her, so schlimm können wir doch gar nicht sein, wenn uns selbst die Frauen unterstützen. Mit dieser Instrumentalisierung seien sie kolonialistischen Feministinnen nicht unähnlich, findet Ebtikar. Auch sie missbrauchten den weiblichen Körper für ihre politischen Zwecke. Ebtikar erwähnt ihre Obsession der Ver- und Entschleierung des weiblichen Körpers, der unbedingt gerettet werden muss als «moralische Recht­fertigung für eine militärische Intervention».

«Feministische Analysen sollten sich darauf konzentrieren, wie Afghaninnen ihr Leben und ihre Kämpfe aus ihrer Perspektive sehen», fordert Munazza Ebtikar, «das hat der Westen bislang versäumt. Er sieht die afghanischen Frauen lediglich durch eine westliche Brille.»

2. Die westliche Opferdefinition

Drei Jahre lang hat die Anthropologin Anila Daulatzai versucht, der Expertise westlicher Afghanistan-Kennerinnen etwas Eigenes entgegen­zusetzen. Auf akademische Art. «Grundlagen des sozial­wissenschaftlichen Arbeitens»: So hiess der Kurs, den Daulatzai an beiden Universitäten Kabuls bis 2013 vor afghanischen Studenten hielt. Das klingt langweilig, sie weiss. Aber sie hatte ein Ziel. «Ich wollte ihnen beibringen, die Fragen zu stellen und nicht jene der Ausländer zu übersetzen», sagt sie. Afghaninnen sollten Afghanistan erklären. Sie sollten einordnen, analysieren, relevant von irrelevant unterscheiden. Sie sollten das Wissen produzieren, auf dessen Grundlage sich die Politik ihres Landes stützt – nicht jene, die Afghanistan als kolonialistischen Charity-Case mit weissem Retter­komplex begegnet.

Daulatzai, aktuell Dozentin an der kalifornischen Universität Berkeley, forscht seit 25 Jahren zu Afghanistan und hat an verschiedenen Hochschulen unterrichtet, etwa an Harvard, der Brown University und der Universität Zürich. In Afghanistan recherchierte sie zuletzt, wie sich knapp vier Jahrzehnte Krieg auf das Leben von Frauen auswirkten, vor allem Witwen.

Im Gespräch mit Gender­expertinnen vor Ort musste sie jedes Mal feststellen, wie wenig diese internationalen Beraterinnen, die mit ihren «One size fits all»-Projekten zwischen verschiedenen Krisen­gebieten pendelten, tatsächlich über das Land wussten, in dem sie die Frauen «retten» wollten. Die meisten hatten kaum Kontakt zu Afghaninnen, höchstens mit den Frauen, die ihnen den Tee servierten, und jenen, die für sie übersetzten. «Sie hatten keine Ahnung, was Afghanistans Frauen durchgemacht hatten. Sie dachten, dass die Herrschaft der Taliban in den Neunzigern das Schlimmste war, was ihnen zugestossen sei», erzählt Daulatzai.

Dass sich das Land seit 1978 – als sich afghanische Kommunisten an die Macht putschten und ein Jahr darauf die Sowjet­union im Land einmarschierte – durchgehend im Krieg befand und die Frauen weit mehr erlebt haben als die fünf Jahre Terror der Taliban, wurde geflissentlich ignoriert. Dementsprechend wurde auch «geholfen». Einige Witwen berichteten Daulatzai, dass sie nur dann Unterstützung erhielten, wenn sie den Ausländern erzählten, ihre Ehemänner seien von Taliban umgebracht worden. Andere Todes­ursachen spielten keine Rolle. Jene Frauen, deren Ehemann von einem Sowjet­soldaten, einer US-Drohne oder einer Überdosis Heroin getötet wurde, gingen leer aus.

Die einzige Gewalt, die in Afghanistan für die internationale Gemeinschaft zu zählen schien, war jene der Taliban.

«Die toxische Männlichkeit der Taliban-Kämpfer ist irgendwie toxischer als die hemmungslose weisse Gewalt, weisse Besatzung, weisse Folter, weisse Drohnen», schreibt Daulatzai in einem aktuellen Kommentar gemeinsam mit ihrer Kollegin, der Wissenschaftlerin Sahar Ghumkhor. «Ihre Gewalt ist von einer anderen Welt, und im Gegensatz zu jener des Westens ist sie primitiv, mit Absicht und ohne Reue. Ihre Gewalt setzt die Grenzen zwischen dem Barbarischen und dem Modernen, zwischen ‹uns› und ‹ihnen›.»

3. Die Taliban an ihrer religiösen Eitelkeit packen

Der Talib, der Barbar: Genug Futter für dieses Narrativ gibt es. Damals wie heute. Dennoch kommen in den vergangenen Wochen vermehrt jene zu Wort, die vergegen­wärtigen, dass die Taliban nicht die Einzigen sind in Afghanistan, die sich der Barbarei schuldig gemacht haben.

Im Magazin «The New Yorker» wird das Leben von Shakira beschrieben, einer Frau aus dem Sangin-Tal aus der Provinz Helmand, im Süden des Landes. Diese Frau vom Land, die sich selbst das Lesen beigebracht hat, rekapituliert die misogynen Strukturen des Dorfes. Sie erzählt vom Terror, der sie zeit ihres Lebens begleitet hat, dem Terror der Kommunisten, die sich mit Brutalität an den Dorf­ältesten rächten, wenn diese nicht spurten, dem Terror der lokalen Milizen, die aus persönlichen Animositäten den Dorf­bewohnern das Leben zur Hölle machten, und dem Terror der afghanischen Regierung, die nach der US-Invasion mit eben jenen Peinigern gemeinsame Sache machten, die von den Taliban in den 1990er-Jahren vertrieben worden waren.

Und die Taliban? Mit ihnen geht sie weniger scharf ins Gericht, weil ihre Gewalt berechenbar war: «Gehorche uns, und wir werden dich nicht töten», war ihre Devise.

Der Artikel wird breit diskutiert in der afghanischen Diaspora, thematisiert er schliesslich das, was sonst in vielen Texten ausgeblendet wird: das massive Stadt-Land-Gefälle. 70 Prozent der afghanischen Bevölkerung leben auf dem Land. Sie hatten die Bürde des Krieges zu tragen, ohne in den Genuss neuer Strassen, neuer Schulen, neuer hipper Cafés zu kommen. Für sie gab es nur den war on terror, während der Aufbau eines neuen Staates, gar einer Nation, das nation-building, für sie weit entfernt war.

«Die Kosten des Krieges waren ungleich verteilt», sagt der Rechts­wissenschaftler Haroun Rahimi. Die Städte seien relativ verschont worden vom Krieg, bis auf einige Selbstmord­anschläge konnte man ein sicheres Leben führen. Relativ. Auf dem Land war das nicht der Fall.

Dort war der Drohnen­krieg, dort waren die nächtlichen Razzien, dort versickerten die Gelder der internationalen Community für Hilfs­projekte in breiten Sümpfen. Trotzdem ist Rahimi zurückhaltend mit der Stadt-Land-Dichotomie: da die urbane, liberale und feministische Intelligenzija, dort die konservativen, ungebildeten und primitiven Taliban-Befürworterinnen. So simpel ist es dann doch nicht. Umfragen des Afghanistan Analyst Network hätten gezeigt, dass sich Afghaninnen auf dem Land nach denselben Freiheiten sehnten wie die Städter, unabhängig von ihrem Bildungs- oder Beschäftigungs­grad. «So verschieden sind sie dann doch nicht», sagt Rahimi.

Haroun Rahimi.
«Wir brauchen uns nichts vorzumachen, die Taliban sind eine durch und durch anti­intellektuelle Bewegung.»

Geboren und aufgewachsen als Flüchtling im Iran, kehrte Haroun Rahimi mit 14 Jahren, nach dem Sturz der Taliban, zurück nach Afghanistan. Heute ist er Professor für Rechts­wissenschaften. Als die Taliban im August Kabul einnahmen, war er gerade auf dem Weg zurück von einem Ausland­aufenthalt in Oxford, bereit, das neue Semester in der Haupt­stadt zu beginnen. Jetzt ist er in Istanbul gestrandet und beobachtet, wie sich die Lage zu Hause entwickelt. Seine Kollegen zweifeln, dass es die bestehenden Rechts­fakultäten im Land in dieser Form noch geben wird. Was sollen sie denn unterrichten, wenn der bisherige afghanische Staat mitsamt all seiner Gesetze passé ist? Totes Recht?

Alle Rechte blieben bestehen, haben die Taliban angekündigt, solange diese im Einklang mit der Scharia seien. Was das konkret heisst, darüber wird gerätselt. Denn die Scharia ist kein Gesetzes­katalog, in dem man schnell nachblättert, wie das denn jetzt so geregelt ist mit den Frauen am Arbeits­platz und an der Universität. Die Scharia ist ein komplexes System diverser Normen, rechtlicher wie religiöser, inklusive ihrer Interpretations­möglichkeiten.

«Wenn die Taliban von Scharia sprechen, meinen sie Fiqh, das menschliche Verständnis der Scharia, welches pluralistisch und fehlbar ist», erklärt Rahimi in seiner Arbeit. Und das sei eine Chance, denn «innerhalb des Fiqh, der islamischen Jurisprudenz, gibt es viele Möglichkeiten, die Taliban herauszufordern», führt er im Gespräch aus. Auf diesem Feld könne man sie intellektuell schlagen, man könne etwa argumentieren, warum Frauen am öffentlichen Leben teilhaben dürfen. Rahimi hat es sich in den vergangenen Wochen zur Aufgabe gemacht, nach diesen intellektuellen Schlupf­löchern zu suchen. In Interviews und Kommentaren versucht er, optimistische Ausfahrten zu formulieren, wie mit den neuen alten Macht­habern umzugehen sei, ohne sich vollständig in die 1990er-Jahre zu katapultieren.

Noch immer hegen einige die Hoffnung, dass die Taliban heute moderater seien als vor 20 Jahren, dass auch sie sich entwickelt haben. Letzteres zumindest kann Rahimi bestätigen. Sie haben sich entwickelt – nur nicht in eine moderate Richtung. Im Gegenteil: Wenn, dann sind sie radikaler geworden.

Rahimi hat zwei Dokumente verglichen, die ihre Ideologie in gewisser Weise verschriftlichen. Zum einen eine nie ratifizierte Verfassung aus den 1990er-Jahren, die sehr stark an jene der islamischen Mujahedin angelegt war; mit dem Unterschied, dass die Taliban dezidiert Wahlen in ihrem Emirat ausschliessen. Zum anderen eine Charta, die 2020 an die Öffentlichkeit geleakt wurde, von der sich die Taliban offiziell distanzieren.

In dieser Charta ist zu erkennen, wie sehr die US-Invasion ihr Denken beeinflusst hat. Zum Beispiel weisen sie ausdrücklich darauf hin, dass sie liberale Werte wie Demokratie und Menschen­rechte ablehnen. «In den 1990er-Jahren war ihre Verfassung vage gehalten, darin haben sie nicht explizit von der ‹liberalen Ordnung› gesprochen, in der Charta schon», sagt Rahimi. «Das ist ganz eindeutig das Resultat der vergangenen 20 Jahre.» Während in der alten Verfassung nur davon die Rede gewesen sei, dass unislamisches Verhalten nicht toleriert werde, werde hier unmissverständlich darauf hingewiesen, dass ein derartiges Verhalten als Straftat gesehen und dementsprechend geahndet wird.

Dennoch gibt Rahimi die Hoffnung nicht auf, dass die Taliban in gewisser Hinsicht mit sich reden lassen. Denn anders als Terror­gruppen wie der IS – und im Fall Afghanistans der IS Khorasan, der den Anschlag am Kabuler Flughafen mit 170 Toten für sich reklamierte – hätten sie ein Interesse daran, die «hearts and minds» ihrer Landsleute zu erobern. Sie bauen auf einen nationalen Rückhalt und können sich nicht erlauben, allzu harsch zu sein.

Für progressive Kräfte gibt es deswegen in Afghanistan laut Rahimi vor allem eine Möglichkeit, bei den Taliban anzudocken: sie an ihrer religiösen Eitelkeit zu packen.

«Wer den Taliban mit Ausdrücken wie Demokratie, Menschen­rechten, Presse­freiheit und Feminismus kommt, wird ignoriert», erklärt Rahimi. «Sie akzeptieren diese Terminologie nicht, weil sie so geladen ist.» Doch wenn man mit ihnen einen inner­islamischen Dialog anstosse, habe das eine weit grössere Chance, sie zu beeinflussen – weil sie ihr Gesicht als Muslime vor ihren Anhängern wahren wollen. Wenn also einfluss­reiche islamische Gelehrte aus der ganzen Welt sagen würden, dass das, was die Taliban da in Afghanistan veranstalten, nichts mit dem Islam zu tun habe, wäre das ein grosser Schlag gegen ihre Legitimität. Es ist ein blasser Hoffnungs­schimmer: «Wir brauchen uns nichts vorzumachen, die Taliban sind eine durch und durch antiintellektuelle Bewegung.»

4. Der Westen soll endlich hart verhandeln

Natürlich weiss Weeda Mehran noch, wie die Taliban das erste Mal an die Macht kamen. «Es war die dunkelste Zeit meines Lebens», erzählt die Politik­wissenschaftlerin. Sie erinnert sich an den Tag, als sie in ihrer Heimat­stadt Herat, im Westen Afghanistans, ihren Schul­rucksack packte, sich auf den Weg machte, um dann vor verschlossenen Toren von einem Taliban-Kämpfer abgewimmelt zu werden: «Geht nach Hause!», sagte er den Mädchen. Wenig später zog die Familie nach Pakistan, wo die Töchter ihre Ausbildung fortsetzen konnten.

Heute arbeitet Mehran als Dozentin an der britischen Universität Exeter und forscht zu Terrorismus, peacebuilding und Sicherheits­politik. Wenn es um ihre Heimat geht, muss sie feststellen, wie gerne ausländische Beobachter die Probleme des Landes fast ausschliesslich «afghanisieren». Unmittelbar nach dem Sturz Kabuls war es wieder so weit: In den Wohn­zimmern satter Demokratien war sofort klar, wer für das Fiasko am 15. August zur Verantwortung zu ziehen ist: die afghanische Armee, inkompetent und feig soll sie den Taliban Kabul überlassen haben. Eine Erklärung, befeuert nicht zuletzt durch die Aussagen von US-Präsident Joe Biden: «Amerikanische Truppen können und sollten nicht in einem Krieg sterben, in dem die afghanischen Streit­kräfte nicht bereit sind zu kämpfen.»

Weeda Mehran will das so nicht stehen lassen. «Die afghanische Armee hat gekämpft, und sie hat ihr Blut vergossen», sagt sie. «Aber was soll sie tun, wenn man ihr den Boden unter den Füssen wegzieht?»

Weeda Mehran.
«Im November 2001, wenige Wochen nach dem Einmarsch der US-Truppen, hätten 20 Jahre Blut­vergiessen verhindert werden können.»

66’000 afghanische Streit­kräfte wurden in den vergangenen 20 Jahren getötet. Die Zahl steht in der internationalen Presse meist in einem Nebensatz. Zuerst werden andere Zahlen genannt: wie viele US-Soldaten getötet wurden (2461), wie viele Nato-Verbündete (1144) und wie viele der privaten Militär­dienst­leister (3846). Zum Schluss folgen die afghanischen Todesopfer. Wenn überhaupt.

Korruption, Inkompetenz und Vettern­wirtschaft hätten die afghanische Armee gelähmt, schreibt der afghanische General Sami Sadat in der «New York Times», «aber wir haben aufgehört zu kämpfen, weil es unsere Partner längst getan haben».

Um den Kollaps der afghanischen Armee zu verstehen, muss ihr Fundament beleuchtet werden. Die Armee orientiert sich laut Sadat – unter dessen Kommando zahlreiche Massaker an der Zivil­bevölkerung verübt worden sein sollen – am Modell des US-Militärs, das vorrangig auf eine starke Luft­abwehr vertraut. Zuständig für die Instand­haltung der afghanischen Luft­waffe waren rund 17’000 private ausländische Militär­dienst­leister. Im Juli 2021 hatten die meisten von ihnen das Land verlassen, mitsamt Equipment und Software. Ein weiterer Wende­punkt für die afghanische Armee. Ohne Luft­unter­stützung war sie aufgeschmissen, gestehen selbst US-Militär­strategen.

Afghanistans Fall wird auch für die internationale Politik ein Wende­punkt sein, prognostiziert Mehran: «Welches Signal sendet der Westen an die Welt? Welches Signal senden die USA damit ihren Verbündeten? Wer wird ihnen je wieder vertrauen, wenn sie davon sprechen, Staaten aufzubauen?»

Wenn es nach US-Präsident Biden geht, müssen sie das ohnehin nicht länger tun. Denn die USA hat nicht nur unter Afghanistan einen Schluss­strich gezogen, sondern auch unter die Ära des Inter­ventionismus. Künftige militärische Einsätze müssen klare, erreichbare Ziele haben und der eigenen nationalen Sicherheit dienen, nicht dem Demokratie­export und dem nation-building.

Politik­wissenschaftlerin Weeda Mehran zieht andere Schlüsse: Wenn schon alle dabei seien, die vergangenen 20 Jahre als grosse Lektion zu begreifen – fast so, als wäre Afghanistan in erster Linie ein Experimentier­feld, auf dem sich internationale Theorien testen lassen –, dann wäre es angebracht, sich anzusehen, in welchen Momenten das Schlimmste hätte verhindert werden können. Für Mehran war die Intervention 2001 notwendig gewesen, um die Taliban zu stürzen. Nur wäre es ebenso notwendig gewesen, diese am Aufbau Afghanistans zu beteiligen. Das war für sie die grosse verpasste Chance.

Im November 2001, wenige Wochen nach dem Einmarsch der US-Truppen und dem Fall des Regimes, waren die Taliban demoralisiert, finanziell ausgeblutet und bereit für allerlei Zugeständnisse. Ihre einzige Forderung: Amnestie für den damaligen Taliban-Chef Mullah Omar. Doch die USA weigerten sich, mit den Taliban zu verhandeln. Die Afghanistan-Konferenz in Bonn fand ohne sie statt. «20 Jahre Blutvergiessen hätten damals verhindert werden können», sagt Mehran.

Hätte, wäre, würde. Das Konjunktiv-Spiel ist eines für die Geschichts­bücher. Im Moment zählen andere Prioritäten. Afghanistans Grund­versorgung steht vor dem Zusammen­bruch. 93 Prozent der Afghanen haben bereits jetzt nicht genug zu essen, und das Uno-Entwicklungs­programm warnt, dass nächstes Jahr 97 Prozent der Bevölkerung unter die Armuts­grenze fallen werden.

Die internationale Community muss handeln. Und verhandeln. Anders als im «Friedens­vertrag» von Doha, der am 29. Februar 2020 lediglich den raschen Abzug der US-Truppen geregelt hatte – inklusive der Frei­lassung von 5000 inhaftierten Taliban-Kämpfern. «Afghanistan wurde den Taliban in Doha auf dem Silber­tablett präsentiert», kritisiert Weeda Mehran. Das dürfe nicht noch einmal passieren, die internationale Community müsse fordern.

Kein Freibrief. Kein Einknicken. Kein Kniefall.

Jeder Cent müsse an eine Bedingung geknüpft sein.

Wenn schon nicht für die knapp 40 Millionen Afghanen, dann zumindest aus purem Eigen­interesse, wie es die afghanische BBC-Journalistin Sana Safi in einem Gast­kommentar für den «Guardian» formuliert. Wenn der Westen mit seinen Verbündeten Afghanistans Bevölkerung jetzt im Stich lässt, «dann muss er auf die Flüchtlinge vorbereitet sein, die an die Grenzen und Küsten Europas und darüber hinaus gelangen; auf die Drogen, die die Strassen europäischer Städte überfluten werden; und auf die Möglichkeit, dass die Taliban all jenen Terror­gruppen einen sicheren Hafen bieten, die Anschläge auf den Westen planen».

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