Wer sollte sich hier willkommen fühlen? Sich dem goldenen Tor zu nähern wagen? Juliet Haller/Amt für Städtebau, Zürich

Geschlossene Gesellschaft

Der Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich wird feierlich eröffnet. Er ist ein Monument der Abschottung.

Von Philip Ursprung, 01.10.2021

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Aus der Distanz gesehen könnte das neue Kunst­haus ja durchaus einladend wirken. Im schönen früh­herbstlichen Abend­licht erinnert seine Silhouette und Struktur immer noch an die im Computer gerenderten Bilder, mit denen das Architektur­büro David Chipperfield Architects 2008 den Wettbewerb um die Erweiterung des Zürcher Kunst­hauses für sich entschied. Es waren Bilder, die ein grosszügiges Forum zeigen, das die lärmige Kreuzung des Heim­platzes in eine Hochburg der Kunst verwandeln sollte. Unter einem weiten Himmel, der an Berlin denken lässt, erstreckt sich eine Museums­insel. Wenn schon kein Schloss, so sollte die grösste Stadt der Schweiz doch wenigstens ein würdiges kulturelles Zentrum erhalten.

Die Erweiterung des Kunst­hauses war längst fällig. Die Bedingungen waren gut: Solide Finanzierung durch die öffentliche Hand und die private Kunst­gesellschaft, politischer Wille, Zusagen für langfristige Leihgaben von privaten Sammlungen und vor allem: eine Mehrheit der Stimm­berechtigten, die sich mit dem Vorhaben solidarisierte.

Nach über einem Jahrzehnt der Planung und Bauzeit stehen wir nun vor dem Ergebnis. Bevor der Bau auf der für den 9. Oktober geplanten Eröffnung allerdings erneut als «licht­durchflutet», «weiträumig», «öffentlich», «flexibel» bejubelt wird, möchte ich hiermit in Zweifel ziehen, ob die realisierte Architektur dieser Rhetorik auch nur annähernd gerecht wird.

Tut sie leider nicht.

Aus der Nähe gesehen ist der Bau überhaupt nicht einladend, sondern einschüchternd – nicht verbindend, sondern exklusiv: ein beiger Monolith, der sich am Zürcher Heimplatz breit­macht. Statt eines Gesichts zeigt er die kalte Schulter. Die Strukturierung der Fassade führt zu einem optischen Flirren, einer leichten Unschärfe. Es ist schwer, auf den Bau zu fokussieren, und schwer, die Dimension des Gebauten in Bezug zum eigenen Körper zu setzen. Der Blick findet nirgendwo Halt, er gleitet quasi ab an der steinernen Oberfläche.

Mauern, Glaswände, Eisengitter: Abgrenzung, wo immer man hinschaut (die Glaswand ist übrigens eine Skulptur: «Sine Wave/ZigZag» von Dan Graham). Franca Candrian/Kunsthaus Zürich

Dem visuellen Eindruck entspricht die Abgrenzung gegenüber der Umgebung. Das Gebäude spart dank der guten Isolierung und den Solar­panels auf dem Dach viel Energie, das ist unbestritten. Aber «ökologisch» ist es nur im Hinblick auf das Innere, als gingen die Umgebung und die Probleme der Klima­erwärmung es nichts an. Die äussere Hülle geht nahtlos über in die Asphalt­versiegelung der Trottoirs. Ein schmaler Saum aus Marmor­platten markiert die Eingangs­zone, als möchte das neue Kunsthaus Bäume, Sträucher, ja Flechten und Moose davor warnen, ihm auf den Leib zu rücken. An heissen Tagen heizt sich diese Stein­landschaft auf, und wegen des Volumens ist kein Durchkommen für kühlende Fallwinde. Bei Starkregen kann kein Wasser versickern. Das neue Kunsthaus schottet sich ab.

Mehrheitsfähiger Klassizismus

Die Schwächen des Projekts waren bereits 2008 im Wettbewerbs­verfahren offensichtlich. Es bleibt ein Rätsel, warum die Jury sich angesichts der Fülle von originellen Beiträgen ausgerechnet für den eher mittel­mässigen Entwurf von David Chipperfield Architects entschied und später keine Nachbesserungen forderte.

Gewiss, das inzwischen global tätige Büro ist dank Projekten wie dem Literatur­museum der Moderne in Marbach am Neckar und dem spektakulären Wieder­aufbau des Neuen Museums auf der Museums­insel Berlin ein Liebling für die kulturelle Repräsentation der Berliner Republik. Es gilt, auch dank der eben beendeten Restaurierung von Mies van der Rohes Neuer National­galerie in Berlin, zu Recht als führend im Umgang mit historischen Bauten und Kontexten. Seine Stärke sind Umbauten, nicht Neubauten. Der Klassizismus light, den das Büro für Zürich entworfen hat, ist jedoch nicht auf der Höhe der bisherigen Bauten. Das Projekt könnte auch in Barcelona, Shanghai oder New York stehen – in der Reihe der Versicherungs­bauten am Ufer des Zürichsees sowieso.

Fragwürdig ist der Umgang mit dem Ort. Ein kurz vor dem Beginn des Wettbewerbs verabschiedeter Master­plan des Hochschul­gebiets hielt noch fest, dass der Grün­streifen wieder fassbar werden sollte, der anstelle der einstigen Stadt­befestigungen entstanden war. Wie Perlen an einer Kette waren im 19. Jahr­hundert die Hochschul­bauten auf diesem Freiraum verteilt worden. Anstatt den Auftakt zu dieser Abfolge zu machen, riegelt das neue Kunsthaus jetzt den Heimplatz vom Hochschul­quartier ab. Wie eine Staumauer versperrt es den Blick und unterbricht die Topografie.

Ausgerichtet ist der Bau ausschliesslich auf den Heimplatz. Er bleibt fixiert auf den formalistischen Dialog mit den früheren Etappen des Kunst­hauses, dem Bau von Karl Moser aus den 1920er-Jahren – zu dem eine unterirdische Verbindung besteht – und dem auf Stützen elegant über dem Boden erhobenen Kubus für Wechsel­ausstellungen der Gebrüder Pfister aus den späten 1950er-Jahren. Während letzterer den Freiraum für Fussgängerinnen vergrössert und den Weg zur Altstadt freigibt, besetzt der Neubau das Terrain.

In Wirklichkeit ist der Heim­platz ja kein Platz, sondern eine verkehrs­reiche Kreuzung. Für den Wettbewerb schlugen David Chipperfield Architects vor, den Zeltweg zu unterbrechen. Die Render­bilder suggerierten sogar eine Idylle ohne Autos, obwohl stets klar war, dass dies eine Illusion bleiben musste. Das Projekt blendete die Bedürfnisse des Strassen­verkehrs einfach aus. Der Horizont endet buchstäblich am Heimplatz.

Dass es auch hätte anders, besser kommen können, demonstrierten weitere Teilnehmer des Wettbewerbs, allen voran Diener & Diener Architekten aus Basel. Ihr Entwurf sah eine grosse Terrasse mit einer breiten Freitreppe zum Heimplatz vor. Indem der Baukörper längs statt quer zum Hang gesetzt wurde, erhielt die Öffentlichkeit einen grosszügigen Freiraum mit Blick über den Heimplatz. Die Jury bemängelte eine Übertretung des definierten Perimeters. Noch immer muss man sich die Haare raufen über die verpasste Chance. Der weitsichtige Entwurf landete auf dem fünften Rang. Hätte man ihn realisiert, wäre nicht nur der Heimplatz mit dem Hochschul­quartier verwoben geworden, Zürich hätte ausserdem einen bedeutenden neuen öffentlichen Ort erhalten.

Ein umzäuntes Gärtchen

Noch einmal: Anstatt neuen Freiraum zu schaffen, kolonisiert das Projekt von David Chipperfield Architects den Raum, es drängt die Besucherinnen teilweise in einen Tunnel und riegelt den Heim­platz ab. Die Landschafts­architektur verstärkt diesen Akt der Kolonisierung und Segregierung. Vor der Volksabstimmung über die Kosten­beteiligung der Stadt Zürich im November 2012 hatte es noch ganz anders getönt: «Der hangseitig anschliessende neue ‹Garten der Kunst› ist öffentlich zugänglich und bildet als urbaner Grünraum eine attraktive Ergänzung zum Heimplatz.» Angesichts des vom belgischen Büro Wirtz International realisierten Gartens reibt man sich die Augen. Man steht vor einem mit schweren Gittern verriegelten, umzäunten Gärtchen.

Ein Dickicht aus dunklem Buchen­gestrüpp blockiert den Blick von aussen ins Innere und vom Innern nach aussen. Beige Pflästerung, eingefasste Beete und ein paar Bäumchen lassen den ohnehin knapp bemessenen Grünraum noch beengter erscheinen. Die bestehende Topografie ist nivelliert und – mit Ausnahme einer Handvoll alter Bäume – jede Erinnerung an die frühere Bepflanzung des Ortes getilgt. Auch wenn die Gitter wie angekündigt von 6 bis 21.30 Uhr offen bleiben: Es gibt keinen Ort zum Sitzen oder Liegen.

Wer sollte sich von aussen kommend hier willkommen fühlen? Wer wird es wagen, am frühen Morgen den Hund auszuführen oder abends einen Grill aufzustellen und Musik zu hören?

Wie in der Grossbank

So wie der «Garten der Kunst» den Passantinnen ein «Nicht betreten!» zuruft und die Aussenhülle des Gebäudes ein «Nicht berühren!» raunt, so scheint auch der Haupteingang «Kein Eingang!» zu sagen. Es ist ein doppeltes Messingtor, platziert im goldenen Schnitt der Front zum Heimplatz. Abermals stellt sich die Frage, wer hier willkommen ist. Darf man die massive goldfarbene Tür überhaupt anfassen? Was erwartet einen dahinter?

Leider genau das, was zu vermuten war. Während das Aussen den Look von Haupt­sitzen der Finanz­industrie im Stil des Millenniums ausstrahlt, die sich solide, traditions­verbunden und mehrheits­fähig geben und nicht durch Extravaganz angreifbar machen wollen, gleicht das Innere der Lobby einer Grossbank. Ein wuchtiger Tresen aus glattem Marmor für die Kassen, Sicht­beton an den Wänden. Die Signaletik besteht aus in der Wand eingelassenen Messing­buchstaben – eine Reminiszenz an die römische Kaiser­zeit – und suggeriert, dass die Ordnung hier für die Ewigkeit definiert ist.

Auch das Innere ist nicht freundlicher, es erinnert an die Lobby einer Grossbank. Juliet Haller/Amt für Städtebau, Zürich

Die Grosszügigkeit der luftigen Höhe – an sich ein befreiendes räumliches Erlebnis – ist durch die massigen Beton­brüstungen unterbrochen. Man geht auf eine breite Treppe zu. Hier ist für einen kurzen Moment die Topografie zu spüren, der Anstieg des Grünstreifens. Und hier wird auch das Verständnis von David Chipperfield Architects für die Traditionen und Typologien der Museen augen­scheinlich. Monumentale Treppen gehören zum bürgerlichen Museum, weil sich dieses von antiken Tempel­anlagen ableitet. Die aufsteigende Bewegung mag die Besucher auf die Betrachtung der Kunst einstimmen wie der Gang durch ein religiöses Gebäude. Diese Wegführung ist somit durchaus architektonisch legitim. Aber wer erwartete, dass die Treppe direkt ins Grüne führt, wird enttäuscht. Man muss erst einmal um die Ecke gehen, um das Gärtchen durch eine Seitentür zu betreten.

Natürlich gibt es auch Positives zum neuen Kunsthaus zu sagen. Die Ausstellungs­fläche ist massiv gewachsen. Der Spielraum für Sammlungen und Wechsel­ausstellungen ist weiter geworden – was bereits in der heraus­ragend gelungenen neuen Präsentation der Kunst von Alberto Giacometti im Müller-Bau deutlich wurde. Die Ausstellungs­säle sind sehr gut beleuchtet, materialisiert und dimensioniert. Die Kunst­vermittlung hat endlich Raum für ihre wichtigen Aufgaben erhalten. Ein eindrücklicher Vortrags­saal steht für verschiedenste Aufführungen zur Verfügung. Und selbst die unterirdische Verbindung ist durch den originellen Kunst­griff einer endlos langen Marmor­bank zu einem räumlichen Erlebnis geworden.

Ein entscheidendes Argument für das Projekt war von Anfang an, dass die zentrale Halle öffentlich zugänglich sei. Nur, welche Art von Öffentlichkeit ist damit gemeint? Wird die – zugegeben sehr schön gestaltete, mit einem gross­formatigen Wand­gemälde von Max Ernst ausstaffierte – Bar neue Teile der Bevölkerung anziehen, die sich sonst für Kunst nicht interessieren? Werden Studierende auf dem Weg zur Vorlesung auf der breiten Treppe ausruhen und ein Sandwich essen dürfen? Werden Pflegefach­personen der nahen Krankenhäuser in der Pause im Garten eine Zigarette rauchen können? Werden die Besucherinnen des Pfauen vor der Vorstellung in Kunstbänden blättern?

Passanten werden den Weg eher nicht durch das Gebäude nehmen, weil die Architektur, von der Anordnung der Eingänge über die edle Materialisierung bis hin zur Wegführung sagt: «Ihr seid hier nicht willkommen.» Das neue Kunsthaus ist damit ein Parade­beispiel für die Privatisierung des öffentlichen Raums. Um dem Anspruch des Öffentlichen und Kommunen tatsächlich gerecht zu werden, müsste der Zaun und die Gitter um den «Garten der Kunst» abgetragen werden. Und vor allem müsste der Eintritt in die Sammlungen gratis sein.

Zwischen grosser Kleinstadt und kleiner Grossstadt

Es wäre verkürzt, die Ursache für die verpasste Chance des neuen Kunst­hauses alleine bei den Architekten oder der Jury zu sehen. Selbst ein Projekt, welches der nahen Umgebung besser gerecht geworden wäre, hätte nichts daran ändern können, dass der Standort falsch ist. Die Erweiterung des Kunst­hauses hätte nicht auf der viel zu kleinen Parzelle am Heimplatz stattfinden sollen. Sie hätte vielmehr an einem Ort geschehen müssen, wo sie als Attraktor der Stadt­entwicklung funktioniert, neue Bereiche der Gesellschaft anspricht und ein neues Kapitel der Museums­architektur aufschlagen kann. Warum darf das neue Kunsthaus nicht am Glattpark stehen, oder auf einer Industriebrache in Altstetten oder Regensdorf?

Der zaghafte Umgang mit neuen Dimensionen ist typisch für Zürich, das immer noch nicht entschieden hat, ob es eine grosse Kleinstadt oder eine kleine Grossstadt ist. Grossstädte haben viele Zentren, und sie ändern sich fortwährend. Der städte­bauliche Wurf der 2000 eröffneten Spiel­stätte des Schauspiel­hauses Zürich im Schiffbau hat gezeigt, wie ein kultureller Leucht­turm zum neuen Zentrum eines Quartiers wird. Das noch im Bau befindliche Eishockey­stadion in Altstetten entwickelt bereits jetzt eine Sogwirkung der Stadt­erweiterung in Richtung Limmattal.

Eine bedrückende Atmosphäre trotz der Raumhöhe. Juliet Haller/Amt für Städtebau, Zürich/2021, ProLitteris, Zürich
Wer wird hier künftig einfach mal reinschauen und einen Blick auf «Over & Above» von Lawrence Weiner werfen? Juliet Haller/Amt für Städtebau, Zürich/2021, ProLitteris, Zürich

Vom Schaulager in Basel über die Tate Modern in London bis zur Power Station of Art in Shanghai gibt es viele gute Beispiele der Aktivierung durch kulturelle Institutionen. Die Fixierung auf ein historisches Zentrum, wo die Institutionen sich gegenseitig auf die Füsse treten, widerspricht der Dynamik des Städte­baus. Der Künstler Dan Graham brachte es in einem Gespräch einmal auf den Punkt, als er sagte: «Die Städte verändern sich an den Rändern, die Zentren sind tot.»

Die Architektur des neuen Kunst­hauses ist ein Anachronismus. Sie wurzelt in den städte­baulichen Ideen, die für das Berlin der 1990er-Jahre galten, nimmt sich zur Referenz die vormoderne Geschlossenheit des Stadt­bildes. Sie verkörpert mit ihrem Klassizismus die Sehnsucht, den Lauf der Zeit aufzuhalten. Sie handelt vom Bild der Stadt, welches das Zentrum hierarchisch über die Peripherie stellt. Sie zeugt von einer Auffassung von Kunst als elitäres und exklusives Gut. Sie ist Ausdruck einer selektiven Auffassung von Geschichte und dem Anspruch, die Zugänge zur Kunst zu kontrollieren.

Es wird nicht leicht sein, dem Anspruch nach Inklusion und kritischer Revision der Geschichte, der zurzeit die Diskussion um die Museen prägt, in diesem Bau gerecht zu werden. Die Frage der kulturellen Repräsentation ist im Umbruch, künstlerische Autoritäten und Hierarchien stehen in Frage, die Karten werden neu gemischt. Grosse Aufgaben warten auf die neue Direktorin des Kunst­hauses, Ann Demeester.

Zum Autor

Philip Ursprung ist Professor am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich. 2017 erhielt er den Prix Meret Oppenheim. Er publiziert regelmässig Beiträge in der Republik.

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