Binswanger

Nach dem Gähnen

Deutschland geht an die Urnen – und wird trotzdem so schnell keine neue Regierung haben. Alles ist offen. Zum Guten wie zum Schlechten.

Von Daniel Binswanger, 25.09.2021

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Es ist der Wahlkampf der epochalen Lange­weile: Die Debatte wird nicht von inhaltlicher Auseinander­setzung, sondern von den Fauxpas der Kandidaten und Kandidatinnen bestimmt. Es ist der Wahlkampf der peinlichen Pannen und schockierenden Schnitzer. Die Konsequenz? Derjenige Kandidat, dem es erfolgreich gelungen ist, am blassesten zu bleiben, nämlich Olaf Scholz, kommt in die Poleposition.

Es ist der Wahlkampf, in dem alle drei aussichts­reichen Kandidatinnen in den Umfragen einmal das Feld anführten und eine Chance auf die Kanzlerschaft mindestens zeitweilig gehabt haben. Zwar unterscheiden sie sich durchaus entlang der klassischen Links-rechts-Achse. In vielen Fragen jedoch sind sie sich erstaunlich einig. Alle gegen eine Renten­reform mit Rentenalter­erhöhung. Alle ganz dezidiert proeuropäisch. Alle im Grundsatz für Umwelt­schutz und Klimaziele – wenigstens theoretisch.

Es ist schliesslich der Wahlkampf der einschläfernden TV-Trielle und diesen Donnerstag sogar noch einer vorgezogenen Elefanten­­runde mit den sieben Spitzen­kandidatinnen aller Bundestags­parteien. Hier konnte immerhin die einzige Frage, die politische Substanz zu haben scheint, frontal gestellt werden: Wer koaliert mit wem? Gerade diese Frage wird jedoch tunlichst nicht beantwortet, die Kandidatinnen halten sich bedeckt. Nur schon deshalb ist es eine Erleichterung, dass der Urnengang nun ansteht. Ab Sonntag können die Koalitions­verhandlungen losgehen, und es wird hoffentlich dann doch wieder das Gefühl aufkommen, es gebe so etwas wie einen Prozess der politischen Entscheidungs­findung.

Auch im nahen Ausland, das heisst in der Schweiz, dürfte es noch nie vorgekommen sein, dass ein Bundestags­wahlkampf so viel Gähnen und so wenig Interesse auslöst. Was soll der auswärtige Beobachter aus diesem Stand der öffentlichen Auseinander­setzung beim grossen Nachbarn schliessen? Auf den ersten Blick gibt es nur ein Verdikt, mag es auch paradox erscheinen: Die Bundes­republik ist das Paradies, die letzte Insel der Seligen.

In welchem anderen Land gibt es gleich drei Kandidatinnen fürs höchste Regierungsamt, von denen zwar keine überzeugt, von denen man aber auch keiner unterstellen kann, sie oder er würde im Fall eines Sieges demokratische Grund­werte infrage stellen, die europäische Integration bedrohen, die Funktions­fähigkeit des Staats­wesens unterminieren? Armin Laschet hat phasenweise versucht, das Schreck­gespenst zu beschwören, mit einer grünen Kanzlerschaft würde der deutsche Standort durch einen fanatischen Verbots­furor zerstört und die deutschen Unter­nehmer müssten auswandern.

An diese nostalgische «Rote Socken»-Nummer schien jedoch selbst die CDU-Spitze nicht eine Sekunde zu glauben. Hatte nicht Angela herself sich vor vier Jahren mit aller Macht um eine Koalition bemüht mit ebendiesen Grünen?

Laschet seinerseits gibt eine derart schwache Figur ab – ein sehr opportunistischer, sehr konservativer, sehr überforderter Provinz­politiker –, dass man darüber spekulieren kann, wer hinter ihm wohl die Strippen ziehen würde. Trotz allem die Seilschaften um den Hardliner Friedrich Merz? Oder gar Vertreter aus dem Dunstkreis des ultrarechten CDU-Flügels? Die Frage, wie es weitergehen würde im Falle eines Sieges der Union, stellt sich tatsächlich. Dem Kandidaten selber jedoch traut man kaum einen dramatischen Kurswechsel zu – weder im Guten noch im Bösen.

Man vergleiche dies mit Frankreich: Hier werden höchst­wahrscheinlich erneut Marine Le Pen und Emmanuel Macron in der Endrunde stehen – eine sonstige ernsthafte Kandidatin ist erst gar nicht in Sicht.

In Grossbritannien hat Boris Johnson mit seinen Trump-artigen Methoden bekanntlich nicht nur den Brexit durch­gebracht, sondern die Wahlen sehr deutlich für sich entschieden.

In Österreich hat Sebastian Kurz die ÖVP liquidiert und das Über­bleibsel zu seiner persönlichen Kampf­maschine umgeformt. Jetzt beackert er mit der passiven Komplizenschaft der österreichischen Grünen die FPÖ-Themen.

In Italien ist mit Mario Draghi erneut eine «technische» Regierung am Werk, nachdem sich die voran­gehende Koalition der neuen politischen Bewegungen wieder einmal als instabil erwiesen hat.

Kaum ein anderes Land kann noch so intakte Traditions­parteien vorweisen wie die Bundes­republik. Zwar gibt es auch in Deutschland die AfD, aber eine Regierungs­beteiligung des Rechts­populismus ist jedenfalls nicht in Griffweite. Mit der radikalisierten Rechten, die neuerdings weniger mit Xenophobie als mit ihrer Unter­stützung des Impf­widerstands und Massnahmen­kritik zu punkten versucht, wollen die bürgerlichen Parteien in der Bundes­republik die Macht nicht teilen. Aus Schweizer Perspektive muss man da vor Neid erblassen.

Alles gut also im grössten Land Europas? Wer das behaupten würde, wäre Opfer einer optischen Verzerrung. Im Vergleich zu anderen Ländern wirkt die deutsche Demokratie noch immer grund­solide. Das dadurch entstehende Gefühl der Langeweile hat dennoch sehr bedrohliche Züge. Aus einer ganzen Reihe von Gründen:

Erstens: Der Niedergang der Volks­parteien ist in Deutschland weniger weit fortgeschritten als anderswo, nimmt aber dennoch beunruhigende Formen an. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundes­republik dürfte das Wahl­resultat darauf hinaus­laufen, dass auch die beiden stärksten politischen Kräfte gemeinsam keine Mehrheit haben, der Sieger der Wahl nicht einmal 30 Prozent der Stimmen holt. Über welches Mandat wird die künftige Regierung überhaupt verfügen? Die zentrale politische Vermittlungs­funktion, die Volks­parteien in demokratischen Systemen zu leisten haben, wird unterminiert. Die Verhältnisse werden konfuser, instabiler, für extreme Ausschläge anfälliger. Auch in der Bundesrepublik.

Zweitens: Das Merkel-Erbe ist ambivalent und widersprüchlich. Sie hinterlässt ein Vermächtnis der epochalen Gross­baustellen, die dringendst adressiert werden müssen. Zum einen hat sie die Bundes­republik vom kranken Mann Europas zur wirtschaftlichen Lokomotive umgebaut, die Arbeits­losigkeit stark gesenkt und die Staats­finanzen saniert, zum anderen hinterlässt sie eine kaputt­gesparte Infra­struktur, eine stark angewachsene Ungleichheit und eine prekäre Abhängigkeit vom Aussen­handel. Zum einen war sie Europas grosse Integrations­figur, zum anderen hat sie mit ihrer der EU aufgezwungenen Austeritäts­politik Südeuropa in den Ruin getrieben und das europäische Projekt ad absurdum geführt. Zum einen hat sie sich 2015 in der Flüchtlings­krise als couragierte Garantin von Menschen­rechten und humanitären Verpflichtungen erwiesen, zum anderen ist es ihr nicht gelungen, die massiven Wider­stände gegen ihre Flüchtlings­politik unter Kontrolle zu halten und eine gemeinsame europäische Strategie auf den Weg zu bringen. Zum einen zeigte sie viel Mut, als sie nach Fukushima über Nacht den Atom­ausstieg beschloss, zum anderen hat die Bundes­republik eine im internationalen Vergleich miserable CO2-Bilanz. In allen diesen Politik­feldern wird die kommende Regierung herkulische Aufräum­arbeit leisten müssen. Es ist ungewiss, ob sie dafür den Willen und die Mehrheiten haben wird.

Drittens: Ganz unabhängig von Merkels Erbe gehen Deutschland und Europa auf eine Wendezeit zu. Wie wird sozialer Ausgleich zu schaffen sein in der Post-Covid-Welt? Welche Rolle werden die europäischen Staaten – mit oder ohne deutsche Führung – im Gefüge der globalen Konkurrenten spielen? Und am aller­dringlichsten: Wie kann Deutschland der umwelt- und klimapolitischen Notlage begegnen und endlich vom industriellen Kohle­kraftwerk- und Verbrennungs­motoren-Champion zur ökologischen Führungs­macht werden? Es sind Visionen, Innovationen, grosse Würfe gefragt. Keiner der Spitzen­kandidatinnen würde man diese zutrauen, auch wenn Annalena Baerbock immerhin den Vorteil hat, eine Partei zu vertreten, die nicht in der bisherigen Regierung war. Oder könnte der blasse Olaf Scholz, ähnlich wie Joe Biden, ganz plötzlich mit neuer Angriffigkeit auftreten? Eine Überraschung wäre es jedenfalls.

Am Sonntagabend wird es einen Erst­platzierten geben, aber keine Gewissheiten. Es ist noch nicht einmal garantiert, dass der Gewinner oder die Gewinnerin der Wahl tatsächlich auch die Regierung anführen wird. Die deutsche Nachkriegs­sonder­stellung, die auch viele bewunderns­werte Züge hat, relativiert sich immer stärker. Bleibt zu hoffen, dass sich die neue Offenheit als Chance erweist.

Illustration: Alex Solman

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