Bloss nicht mehr Flüchtlinge
Tausende Afghanen und Afghaninnen suchen Zuflucht in der Schweiz. Doch der Bund sagt, es gebe für sie keinen Platz. Eine kleine Geschichte der Abschottung
Von Carlos Hanimann und Lukas Häuptli, 23.09.2021
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Mario Gattiker ist beschlagen und beredt. Und doch gerät der Staatssekretär für Migration und ehemalige Berater von Flüchtlingen an diesem Samstag, dem 21. August 2021, ins Stocken, als verschlage es ihm die Sprache.
Es ist 11.45 Uhr, Mario Gattiker sitzt im Radiostudio von SRF und steht der «Samstagsrundschau» Rede und Antwort. Der Radiojournalist fragt den Chefbeamten, warum die Schweiz denn nicht mehr Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehme.
«Das isch e Frag vo de …», sagt Gattiker.
«E Frag vo de, vo de, vo de …», stockt Gattiker.
Die Frage zielt in den Kern der Schweizer Flüchtlingspolitik, jetzt in der Afghanistan-Krise, aber auch grundsätzlich. Viele wundern sich, warum der Bund zwar Personal aus Kabul ausfliegt und Millionen Franken nach Afghanistan schickt. Sonst aber untätig bleibt – und die Grenzen sichert.
Seit die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen haben, befinden sich mehrere hunderttausend Menschen auf der Flucht. Viele versuchen verzweifelt, über die Grenzen in Sicherheit zu gelangen. Einige haben das auf eigene Faust geschafft und halten sich in den Nachbarländern Pakistan und Iran auf. Andere wurden von westlichen Staaten aus Afghanistan ausgeflogen. Es ist – gemessen an den rund 40 Millionen Einwohnern des Landes – eine verschwindend kleine Minderheit.
Herr Farmans Sohn hat es nicht geschafft. Er befindet sich in Afghanistan, in der Region Mazar-i Sharif. Wo genau, solle man lieber nicht schreiben, sagt der Vater am Telefon: zu gefährlich. Deshalb will er auch nur mit dem Familiennamen genannt werden.
In den letzten Tagen und Wochen habe der Sohn immer wieder fliehen müssen. Einmal versteckte er sich zwei Wochen lang bei Bekannten. Dann hiess es, die Taliban seien im Dorf. Farmans Sohn, seine Frau und zwei Kinder mussten weiterziehen, zu Freunden, zu Verwandten. So geht es schon seit über einem Monat: Alle paar Tage sucht sich die Familie ein neues Versteck, weil die Taliban von Tür zu Tür gehen und nach Leuten suchen, die für die lange verhasste und nun gestürzte Regierung gearbeitet haben und deshalb als Kollaborateure gelten.
«Vor etwa zwei Wochen meldete sich auch noch unsere Tochter, die bis dahin in Sicherheit war», sagt Herr Farman. Weinend habe sie berichtet, dass auch sie jetzt auf der Flucht sei. Sie müsse sich gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren vier Kindern vor den Taliban verstecken. Sie war als Lehrerin tätig, ihr Mann hat für das afghanische Parlament gearbeitet.
«Mein Sohn und meine Tochter müssen so schnell wie möglich weg, sie können sich nicht ewig in Afghanistan verstecken», sagt Herr Farman. Seine Frau sagt, aufgelöst, ihr Herz sei in Stücke gerissen.
Die Familie Farman kam vor knapp sechs Jahren in die Schweiz. Der Familienvater war von den Taliban bedroht worden: Entweder er würde für sie arbeiten – oder sie würden seine Familie töten. Herr Farman, seine Frau und vier minderjährige Kinder machten sich 2015 auf nach Europa.
Zwei erwachsene und verheiratete Kinder aber blieben zurück. Er fürchtet, die Taliban werden sich nun an den Kindern rächen.
Mehr geht nicht
Wie viele Flüchtlinge aus Afghanistan soll die Schweiz aufnehmen? Wie viele kann sie? Wie viele muss sie?
«Das ist eine Frage der humanitären Tradition», hätte Mario Gattiker im Radio sagen können.
Hat er aber nicht.
Die humanitäre Tradition der Schweiz – sie ist ein Mythos, den das Land in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg selbst begründete und auf den das Staatssekretariat für Migration (SEM) noch heute verweist. Sie ist ein Mythos der Selbstverklärung und Selbstüberhöhung, der sich unter anderem darauf stützt, dass der Schweizer Henry Dunant das Rote Kreuz gegründet hatte.
Andererseits: In der zweiten Hälfte des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigte sich die Schweiz auch offenherzig. Sie gewährte Kommunisten-Opfern aus Ungarn und der Tschechoslowakei sowie Kriegsvertriebenen aus Bosnien und Kosovo zu Tausenden Asyl. Allein in den Neunzigerjahren erhielten mehr als 80’000 Menschen aus dem Balkan ein Bleiberecht. Ähnlich verhielt sich die Schweiz während des Syrien-Kriegs, der 2011 ausbrach: Sie nahm mehrere tausend Flüchtlinge auf.
Und jetzt?
Der Bund gewährt rund 230 Afghaninnen und Afghanen Zuflucht.
Mehr gehe nicht, sagt Mario Gattiker und mit ihm seine politische Vorgesetzte, FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Rund 40 der Aufgenommenen sind Mitarbeiter des sogenannten Kooperationsbüros, welches das Schweizer Aussendepartement in Kabul betrieben hat, die anderen 190 Familienangehörige von ihnen.
In Afghanistan selbst befinden sich rund 500’000 Menschen auf der Flucht. Weitere 500’000 werden gemäss Uno-Schätzungen in den nächsten Wochen in die Nachbarländer Pakistan und Iran ziehen. In den dortigen Lagern der Vereinten Nationen halten sich aber bereits 100’000 Afghanen und Afghaninnen auf, die schon früher aus der Heimat geflüchtet waren. Sie sind vom UNHCR, der Flüchtlingsbehörde der Vereinten Nationen, als sogenannte Resettlement-Flüchtlinge anerkannt worden und warten auf eine Überführung in ein westliches Land.
Mitte August kündigte Kanada an, 20’000 von ihnen aufzunehmen, ein paar Tage später erklärte Grossbritannien, für 5000 Menschen Platz zu bieten.
Nicht so die Schweiz. Bereits Mitte August hatte Bundesrätin Karin Keller-Sutter öffentlich erklärt, die Schweiz nehme keine afghanischen Resettlement-Flüchtlinge auf. «Das ist zurzeit nicht möglich», sagte sie und begründete ihre Haltung unter anderem damit: «Das UNHCR hat die Bedürfnisse noch nicht erheben können. Man muss abwarten.»
Das stimmt nicht.
«Wir haben die Staaten bereits an einer Konferenz im letzten Juni über den globalen Bedarf an Resettlement-Plätzen informiert», sagt Anja Klug, Leiterin der Schweizer Vertretung des UNHCR, zur Republik. Schon damals brauchte es für afghanische Flüchtlinge rund 100’000 Plätze. «In der Zwischenzeit hat das UNHCR die Staaten – auch die Schweiz – mehrmals aufgerufen, noch zusätzliche Plätze für afghanische Resettlement-Flüchtlinge bereitzustellen», sagt Klug.
Allerdings sprach sich nicht nur der Bundesrat gegen afghanische Resettlement-Flüchtlinge aus, sondern auch das Parlament. Es lehnte gestern Mittwoch einen entsprechenden Antrag ab.
Über 6000 Vorabklärungen, 0 Gesuche
Neben dem Resettlement gibt es für Afghanen einen weiteren Weg, in die Festung Schweiz zu gelangen. Das Botschaftsasyl wurde 2012 zwar abgeschafft, damit können Flüchtende einen Asylantrag nur noch in der Schweiz stellen. Aber eine Alternative dazu ist das humanitäre Visum.
Die Voraussetzungen für ein solches Visum sind streng: Die Gesuchstellerinnen müssen eine konkrete, unmittelbare, lebensbedrohliche Gefährdung nachweisen, sie müssen einen engen und aktuellen Bezug zur Schweiz haben (etwa zu Verwandten). Und: Das Gesuch um ein humanitäres Visum setzt voraus, dass die Gesuchstellenden persönlich bei einer schweizerischen Auslandsvertretung vorsprechen.
Konkret wären das Islamabad in Pakistan oder Teheran im Iran. Allerdings ist das etwa im Fall von Islamabad gar nicht legal möglich, weil für die Einreise nach Pakistan ein weiteres Visum nötig wäre.
Beim SEM gibt es deshalb die Möglichkeit einer schriftlichen Vorabklärung: Statt Hunderte Kilometer gefährliche Flucht durch Taliban-Gebiete auf sich zu nehmen, nur um dann am Tor der Schweizer Botschaft abgewiesen zu werden, können Afghaninnen dem SEM ihren Fall detailliert schildern. Die sogenannte Chancenbeurteilung ist nicht rechtlich bindend, aber sie gibt der Gesuchstellerin eine Ahnung, ob sie überhaupt Chancen auf Asyl in der Schweiz hat.
Seit dem 30. August sind beim Staatssekretariat für Migration 6205 solche Anfragen um Chancenbeurteilung eingegangen. Alle Gesuche würden «einzeln geprüft und beantwortet», schreibt eine SEM-Sprecherin. Eine Statistik zu den Ergebnissen der Vorabklärungen führt das SEM nicht, aber es hält fest, dass bislang «keine offiziellen Gesuche um humanitäre Visa» bei Auslandsvertretungen eingegeben worden seien. «Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die Ausreise aus Afghanistan zurzeit sehr schwierig ist.»
Auch Herr Farman hat vor einigen Wochen das SEM um eine Chancenbeurteilung für ein humanitäres Visum für seine Kinder gebeten. Detailliert hat er Personendaten aufgeführt, die Lage seiner Kinder geschildert, die konkrete Bedrohungssituation, den Bezug zur Schweiz, wo fast die ganze Familie lebt, und zusätzlich einen Antrag für einen Laissez-passer gestellt – ein Dokument, das seine Kinder benötigen, um überhaupt legal zu einer Schweizer Auslandsvertretung reisen zu können. Unterstützt wurde die Familie Farman dabei von Juristinnen der Asylberatungsstelle Asylex. «Wir waren schockiert, als wir die Antwort vom SEM erhielten», sagt Joëlle Spahni von Asylex.
Das SEM ging mit keinem Wort auf die individuell geschilderte Situation ein. Auch den Antrag auf einen Laissez-passer liess das SEM unbeantwortet. Asylex sind mehrere Fälle von solchen allgemein gehaltenen, standardisierten Absageschreiben bekannt.
In aller Regel geht das SEM individuell auf solche Gesuche ein. Aktuell tut es das offenbar nicht. Stattdessen verschickt es identisch oder ähnlich formulierte Absageschreiben. Formell werden darin die Voraussetzungen für ein humanitäres Visum aufgelistet. Tatsächlich lesen sich die Schreiben wie eine Bauanleitung für die neueste Mauer in der Festung Schweiz:
Für ein Gesuch müsse man «persönlich vorsprechen». In Afghanistan sei das mangels Schweizer Vertretung nicht möglich. Die Ausreise aus Afghanistan sei aber «stark erschwert bis unmöglich». Chancenbeurteilungen seien nur sinnvoll, «wenn eine zeitnahe Ausreise gesichert erscheint».
Kurz: Die Chancen auf ein humanitäres Visum sind so gut wie null. Das SEM widerspricht dieser Darstellung: Jede Anfrage werde geprüft. Man habe bereits vor Wochen eine Taskforce gebildet, um die Tausenden von Anfragen bewältigen zu können. «Das Gros davon ist aber zu wenig substantiiert, um eine positive Antwort zu erhalten», schreibt das SEM.
Ein klares Signal
Die heutige Schweizer Asylpolitik ist eine Politik der Abschreckung.
Dahinter steht die Vorstellung: Wem die Schweiz den kleinen Finger reicht, der will bald die ganze Hand. Gewährte man 1000 afghanischen Flüchtlingen Asyl, strömten bald weitere 10’000 ins Land. Besser also: gar keine afghanischen Flüchtlinge. Besser also: klares Signal.
Die Frage, wie gefährdet die 10’000 sind, wird erst gar nicht gestellt. 2015 flohen mehr als eineinhalb Millionen Migranten nach Europa; knapp 40’000 stellten in der Schweiz ein Asylgesuch. Seither sind die europäischen Staaten überzeugt, dass sich das nicht wiederholen darf. Zwar schafften sie es, einen beträchtlichen Teil der Flüchtlinge in Arbeitsmarkt und Gesellschaft zu integrieren – wie das die deutsche Kanzlerin Angela Merkel vorausgesagt hatte.
Gleichzeitig aber gewannen rechtspopulistische Parteien in Staaten mit hohen Flüchtlingsquoten an Aufmerksamkeit, an Einfluss und (zumindest am Anfang) an Stimmenanteilen. Umgekehrt gilt seither: Diese Parteien bestimmen Ausländer-, Asyl- und Flüchtlingspolitik immer mehr – und nehmen Parteien der Mitte und Linke in politische Geiselhaft.
In der Schweiz und im Konkreten sah das beispielsweise so aus: 2016 verschärfte der Bund seine Asylpraxis gegenüber eritreischen Gesuchstellerinnen. Seither gewährt er nur noch Eritreerinnen Asyl, die vor dem sogenannten national service in ihrer Heimat flüchten. Andere Fluchtgründe anerkennt der Bund kaum mehr.
Die Abschreckung funktionierte: Die Zahl der Asylsuchenden aus dem ostafrikanischen Staat sank zwischen 2017 und 2019 um fast 15 Prozent, die SVP, aber auch die FDP und die damalige CVP nahmen es zufrieden zur Kenntnis.
Anderes Beispiel: Nachdem im letzten September das Flüchtlingslager Moria abbrannte, wurden mit einem Schlag rund 12’000 Flüchtlinge obdachlos. Unter ihnen befanden sich 4000 Jugendliche und Kinder.
Doch der Bund stellte klar: Es gibt in der Schweiz keinen Platz für die Obdachlosen. Erst auf Druck der EU änderte der Bund seine Meinung und nahm unbegleitete Minderjährige auf: 20.
Warum nimmt die Schweiz nicht mehr Flüchtlinge auf? Warum nicht mehr Flüchtlinge aus Afghanistan?
Mario Gattiker stockte in der «Samstagsrundschau»:
«Das isch e Frag vo de, vo de, vo de …»
Und sagte endlich:
«Das isch e Frag vo de Gwichtig.»
Oder anders: Die Schweiz könnte mehr afghanische Flüchtlinge aufnehmen. Wenn sie denn wollte.