Bloss nicht mehr Flüchtlinge

Tausende Afghanen und Afghaninnen suchen Zuflucht in der Schweiz. Doch der Bund sagt, es gebe für sie keinen Platz. Eine kleine Geschichte der Abschottung

Von Carlos Hanimann und Lukas Häuptli, 23.09.2021

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Unterstützen auch Sie die Republik mit einem Abo: Einstiegsangebot nur bis 31. März 2024.

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr

Mario Gattiker ist beschlagen und beredt. Und doch gerät der Staats­sekretär für Migration und ehemalige Berater von Flüchtlingen an diesem Samstag, dem 21. August 2021, ins Stocken, als verschlage es ihm die Sprache.

Es ist 11.45 Uhr, Mario Gattiker sitzt im Radio­studio von SRF und steht der «Samstags­rundschau» Rede und Antwort. Der Radio­journalist fragt den Chefbeamten, warum die Schweiz denn nicht mehr Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehme.

«Das isch e Frag vo de …», sagt Gattiker.

«E Frag vo de, vo de, vo de …», stockt Gattiker.

Die Frage zielt in den Kern der Schweizer Flüchtlings­politik, jetzt in der Afghanistan-Krise, aber auch grund­sätzlich. Viele wundern sich, warum der Bund zwar Personal aus Kabul ausfliegt und Millionen Franken nach Afghanistan schickt. Sonst aber untätig bleibt – und die Grenzen sichert.

Seit die Taliban in Afghanistan die Macht über­nommen haben, befinden sich mehrere hundert­tausend Menschen auf der Flucht. Viele versuchen verzweifelt, über die Grenzen in Sicherheit zu gelangen. Einige haben das auf eigene Faust geschafft und halten sich in den Nachbar­ländern Pakistan und Iran auf. Andere wurden von westlichen Staaten aus Afghanistan ausgeflogen. Es ist – gemessen an den rund 40 Millionen Einwohnern des Landes – eine verschwindend kleine Minderheit.

Herr Farmans Sohn hat es nicht geschafft. Er befindet sich in Afghanistan, in der Region Mazar-i Sharif. Wo genau, solle man lieber nicht schreiben, sagt der Vater am Telefon: zu gefährlich. Deshalb will er auch nur mit dem Familien­namen genannt werden.

In den letzten Tagen und Wochen habe der Sohn immer wieder fliehen müssen. Einmal versteckte er sich zwei Wochen lang bei Bekannten. Dann hiess es, die Taliban seien im Dorf. Farmans Sohn, seine Frau und zwei Kinder mussten weiterziehen, zu Freunden, zu Verwandten. So geht es schon seit über einem Monat: Alle paar Tage sucht sich die Familie ein neues Versteck, weil die Taliban von Tür zu Tür gehen und nach Leuten suchen, die für die lange verhasste und nun gestürzte Regierung gearbeitet haben und deshalb als Kollaborateure gelten.

«Vor etwa zwei Wochen meldete sich auch noch unsere Tochter, die bis dahin in Sicherheit war», sagt Herr Farman. Weinend habe sie berichtet, dass auch sie jetzt auf der Flucht sei. Sie müsse sich gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren vier Kindern vor den Taliban verstecken. Sie war als Lehrerin tätig, ihr Mann hat für das afghanische Parlament gearbeitet.

«Mein Sohn und meine Tochter müssen so schnell wie möglich weg, sie können sich nicht ewig in Afghanistan verstecken», sagt Herr Farman. Seine Frau sagt, aufgelöst, ihr Herz sei in Stücke gerissen.

Die Familie Farman kam vor knapp sechs Jahren in die Schweiz. Der Familien­vater war von den Taliban bedroht worden: Entweder er würde für sie arbeiten – oder sie würden seine Familie töten. Herr Farman, seine Frau und vier minder­jährige Kinder machten sich 2015 auf nach Europa.

Zwei erwachsene und verheiratete Kinder aber blieben zurück. Er fürchtet, die Taliban werden sich nun an den Kindern rächen.

Mehr geht nicht

Wie viele Flüchtlinge aus Afghanistan soll die Schweiz aufnehmen? Wie viele kann sie? Wie viele muss sie?

«Das ist eine Frage der humanitären Tradition», hätte Mario Gattiker im Radio sagen können.

Hat er aber nicht.

Die humanitäre Tradition der Schweiz – sie ist ein Mythos, den das Land in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg selbst begründete und auf den das Staats­sekretariat für Migration (SEM) noch heute verweist. Sie ist ein Mythos der Selbst­verklärung und Selbst­überhöhung, der sich unter anderem darauf stützt, dass der Schweizer Henry Dunant das Rote Kreuz gegründet hatte.

Andererseits: In der zweiten Hälfte des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigte sich die Schweiz auch offenherzig. Sie gewährte Kommunisten-Opfern aus Ungarn und der Tschecho­slowakei sowie Kriegs­vertriebenen aus Bosnien und Kosovo zu Tausenden Asyl. Allein in den Neunziger­jahren erhielten mehr als 80’000 Menschen aus dem Balkan ein Bleibe­recht. Ähnlich verhielt sich die Schweiz während des Syrien-Kriegs, der 2011 ausbrach: Sie nahm mehrere tausend Flüchtlinge auf.

Und jetzt?

Der Bund gewährt rund 230 Afghaninnen und Afghanen Zuflucht.

Mehr gehe nicht, sagt Mario Gattiker und mit ihm seine politische Vorgesetzte, FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Rund 40 der Aufgenommenen sind Mitarbeiter des sogenannten Kooperations­­büros, welches das Schweizer Aussen­­departement in Kabul betrieben hat, die anderen 190 Familien­angehörige von ihnen.

In Afghanistan selbst befinden sich rund 500’000 Menschen auf der Flucht. Weitere 500’000 werden gemäss Uno-Schätzungen in den nächsten Wochen in die Nachbar­länder Pakistan und Iran ziehen. In den dortigen Lagern der Vereinten Nationen halten sich aber bereits 100’000 Afghanen und Afghaninnen auf, die schon früher aus der Heimat geflüchtet waren. Sie sind vom UNHCR, der Flüchtlings­behörde der Vereinten Nationen, als sogenannte Resettlement-Flüchtlinge anerkannt worden und warten auf eine Über­führung in ein westliches Land.

Mitte August kündigte Kanada an, 20’000 von ihnen aufzunehmen, ein paar Tage später erklärte Gross­britannien, für 5000 Menschen Platz zu bieten.

Nicht so die Schweiz. Bereits Mitte August hatte Bundes­rätin Karin Keller-Sutter öffentlich erklärt, die Schweiz nehme keine afghanischen Resettlement-Flüchtlinge auf. «Das ist zurzeit nicht möglich», sagte sie und begründete ihre Haltung unter anderem damit: «Das UNHCR hat die Bedürfnisse noch nicht erheben können. Man muss abwarten.»

Das stimmt nicht.

«Wir haben die Staaten bereits an einer Konferenz im letzten Juni über den globalen Bedarf an Resettlement-Plätzen informiert», sagt Anja Klug, Leiterin der Schweizer Vertretung des UNHCR, zur Republik. Schon damals brauchte es für afghanische Flüchtlinge rund 100’000 Plätze. «In der Zwischen­zeit hat das UNHCR die Staaten – auch die Schweiz – mehrmals aufgerufen, noch zusätzliche Plätze für afghanische Resettlement-Flüchtlinge bereit­zustellen», sagt Klug.

Allerdings sprach sich nicht nur der Bundesrat gegen afghanische Resettlement-Flüchtlinge aus, sondern auch das Parlament. Es lehnte gestern Mittwoch einen entsprechenden Antrag ab.

Über 6000 Vor­abklärungen, 0 Gesuche

Neben dem Resettlement gibt es für Afghanen einen weiteren Weg, in die Festung Schweiz zu gelangen. Das Botschafts­asyl wurde 2012 zwar abgeschafft, damit können Flüchtende einen Asylantrag nur noch in der Schweiz stellen. Aber eine Alternative dazu ist das humanitäre Visum.

Die Voraussetzungen für ein solches Visum sind streng: Die Gesuch­stellerinnen müssen eine konkrete, unmittelbare, lebens­bedrohliche Gefährdung nachweisen, sie müssen einen engen und aktuellen Bezug zur Schweiz haben (etwa zu Verwandten). Und: Das Gesuch um ein humanitäres Visum setzt voraus, dass die Gesuch­stellenden persönlich bei einer schweizerischen Auslands­vertretung vorsprechen.

Konkret wären das Islamabad in Pakistan oder Teheran im Iran. Allerdings ist das etwa im Fall von Islamabad gar nicht legal möglich, weil für die Einreise nach Pakistan ein weiteres Visum nötig wäre.

Beim SEM gibt es deshalb die Möglichkeit einer schriftlichen Vorabklärung: Statt Hunderte Kilometer gefährliche Flucht durch Taliban-Gebiete auf sich zu nehmen, nur um dann am Tor der Schweizer Botschaft abgewiesen zu werden, können Afghaninnen dem SEM ihren Fall detailliert schildern. Die sogenannte Chancen­beurteilung ist nicht rechtlich bindend, aber sie gibt der Gesuch­stellerin eine Ahnung, ob sie überhaupt Chancen auf Asyl in der Schweiz hat.

Seit dem 30. August sind beim Staats­sekretariat für Migration 6205 solche Anfragen um Chancen­beurteilung eingegangen. Alle Gesuche würden «einzeln geprüft und beantwortet», schreibt eine SEM-Sprecherin. Eine Statistik zu den Ergebnissen der Vorab­klärungen führt das SEM nicht, aber es hält fest, dass bislang «keine offiziellen Gesuche um humanitäre Visa» bei Auslands­vertretungen eingegeben worden seien. «Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die Ausreise aus Afghanistan zurzeit sehr schwierig ist.»

Auch Herr Farman hat vor einigen Wochen das SEM um eine Chancen­beurteilung für ein humanitäres Visum für seine Kinder gebeten. Detailliert hat er Personen­daten aufgeführt, die Lage seiner Kinder geschildert, die konkrete Bedrohungs­situation, den Bezug zur Schweiz, wo fast die ganze Familie lebt, und zusätzlich einen Antrag für einen Laissez-passer gestellt – ein Dokument, das seine Kinder benötigen, um überhaupt legal zu einer Schweizer Auslands­vertretung reisen zu können. Unterstützt wurde die Familie Farman dabei von Juristinnen der Asyl­beratungs­stelle Asylex. «Wir waren schockiert, als wir die Antwort vom SEM erhielten», sagt Joëlle Spahni von Asylex.

Das SEM ging mit keinem Wort auf die individuell geschilderte Situation ein. Auch den Antrag auf einen Laissez-passer liess das SEM unbeantwortet. Asylex sind mehrere Fälle von solchen allgemein gehaltenen, standardi­sierten Absage­schreiben bekannt.

In aller Regel geht das SEM individuell auf solche Gesuche ein. Aktuell tut es das offenbar nicht. Stattdessen verschickt es identisch oder ähnlich formulierte Absage­schreiben. Formell werden darin die Voraus­setzungen für ein humanitäres Visum aufgelistet. Tatsächlich lesen sich die Schreiben wie eine Bauanleitung für die neueste Mauer in der Festung Schweiz:

Für ein Gesuch müsse man «persönlich vorsprechen». In Afghanistan sei das mangels Schweizer Vertretung nicht möglich. Die Ausreise aus Afghanistan sei aber «stark erschwert bis unmöglich». Chancen­beurteilungen seien nur sinnvoll, «wenn eine zeitnahe Ausreise gesichert erscheint».

Kurz: Die Chancen auf ein humanitäres Visum sind so gut wie null. Das SEM widerspricht dieser Darstellung: Jede Anfrage werde geprüft. Man habe bereits vor Wochen eine Taskforce gebildet, um die Tausenden von Anfragen bewältigen zu können. «Das Gros davon ist aber zu wenig substantiiert, um eine positive Antwort zu erhalten», schreibt das SEM.

Ein klares Signal

Die heutige Schweizer Asylpolitik ist eine Politik der Abschreckung.

Dahinter steht die Vorstellung: Wem die Schweiz den kleinen Finger reicht, der will bald die ganze Hand. Gewährte man 1000 afghanischen Flüchtlingen Asyl, strömten bald weitere 10’000 ins Land. Besser also: gar keine afghanischen Flüchtlinge. Besser also: klares Signal.

Die Frage, wie gefährdet die 10’000 sind, wird erst gar nicht gestellt. 2015 flohen mehr als eineinhalb Millionen Migranten nach Europa; knapp 40’000 stellten in der Schweiz ein Asyl­gesuch. Seither sind die europäischen Staaten überzeugt, dass sich das nicht wiederholen darf. Zwar schafften sie es, einen beträchtlichen Teil der Flüchtlinge in Arbeits­markt und Gesellschaft zu integrieren – wie das die deutsche Kanzlerin Angela Merkel voraus­gesagt hatte.

Gleichzeitig aber gewannen rechts­populistische Parteien in Staaten mit hohen Flüchtlings­quoten an Aufmerksamkeit, an Einfluss und (zumindest am Anfang) an Stimmen­anteilen. Umgekehrt gilt seither: Diese Parteien bestimmen Ausländer-, Asyl- und Flüchtlings­politik immer mehr – und nehmen Parteien der Mitte und Linke in politische Geiselhaft.

In der Schweiz und im Konkreten sah das beispiels­weise so aus: 2016 verschärfte der Bund seine Asyl­praxis gegenüber eritreischen Gesuch­stellerinnen. Seither gewährt er nur noch Eritreerinnen Asyl, die vor dem sogenannten national service in ihrer Heimat flüchten. Andere Flucht­gründe anerkennt der Bund kaum mehr.

Die Abschreckung funktionierte: Die Zahl der Asylsuchenden aus dem ostafrikanischen Staat sank zwischen 2017 und 2019 um fast 15 Prozent, die SVP, aber auch die FDP und die damalige CVP nahmen es zufrieden zur Kenntnis.

Anderes Beispiel: Nachdem im letzten September das Flüchtlings­­lager Moria abbrannte, wurden mit einem Schlag rund 12’000 Flüchtlinge obdachlos. Unter ihnen befanden sich 4000 Jugendliche und Kinder.

Doch der Bund stellte klar: Es gibt in der Schweiz keinen Platz für die Obdachlosen. Erst auf Druck der EU änderte der Bund seine Meinung und nahm unbegleitete Minder­jährige auf: 20.

Warum nimmt die Schweiz nicht mehr Flüchtlinge auf? Warum nicht mehr Flüchtlinge aus Afghanistan?

Mario Gattiker stockte in der «Samstags­rundschau»:

«Das isch e Frag vo de, vo de, vo de …»

Und sagte endlich:

«Das isch e Frag vo de Gwichtig.»

Oder anders: Die Schweiz könnte mehr afghanische Flüchtlinge aufnehmen. Wenn sie denn wollte.

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Artikel wie diesen gibt es nur, wenn genügend Menschen die Republik mit einem Abo unterstützen. Kommen Sie bis zum 31. März an Bord!

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr