Wie viel Patriarchat steckt in der Literatur?

Bestrebungen, die Welt der Bücher gendergerechter zu machen, werden vielfältiger und lauter. Und es gibt Anzeichen, dass sich etwas verändert.

Von Daniel Graf (Text) und Golden Cosmos (Illustration), 21.09.2021

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Die Zahlen lügen nicht. Die Befunde von Studien, statistische Erhebungen und ein Blick auch in die jüngere Literatur­geschichte ergeben: Frauen erhalten in der Literatur­kritik signifikant weniger Raum. Sie sind in den Programmen der renommierten Verlage deutlich in der Unter­zahl. Und die bedeutenden Literatur­preise werden ungleich seltener an Frauen vergeben.

Kurz: Mit Ausnahme bestimmter Genres, die man in der Branche unter dem Label «Frauen­literatur» subsumiert, werden Frauen weniger verlegt, weniger rezensiert und weniger ausgezeichnet. Das alles nicht im letzten oder vorletzten, sondern im 21. Jahrhundert.

Seit der deutschsprachige Literatur­betrieb 2018 im Zuge von #MeToo über Sexismus, Macht­verhältnisse und patriarchale Strukturen debattierte, werden diese Miss­stände wieder deutlich lauter und vor allem breiter thematisiert.

Die Literaturwissenschaftlerin, Über­setzerin und Lektorin Nicole Seifert hat die verschiedenen Fäden der Diskussion in einem soeben erschienenen Buch mit dem anspielungs­reichen Titel «Frauen Literatur» zusammen­geführt und die Debatte mit historischer Tiefen­schärfe ausgeleuchtet. Das Fazit der Autorin (die beim nächsten und vorerst letzten «Salon der Republik» am 28. September zu Gast sein wird):

«Die Werke von Frauen geraten in Vergessenheit, weil so wenig dafür getan wird, dass sie in Erinnerung bleiben.»

Frauen, so Seifert, werden literatur­geschichtlich «schlechter kontextualisiert und kanonisiert» – mit spürbaren Auswirkungen bis heute. Das Wort «vergessen» sei deswegen auch im Grunde ein Euphemismus. In Wirklichkeit habe man es mit einem «Akt des Unter­lassens, des Ignorierens» zu tun.

Da passt es – jedenfalls auf den ersten Blick – ins Bild, dass eine in diesem Sommer präsentierte Vorstudie des Basler Zentrums Gender Studies im Auftrag von Pro Helvetia und dem Swiss Center for Social Research zu den Geschlechter­verhältnissen im Schweizer Kultur­betrieb als zentrale Befunde festhält:

  • Frauen sind in Leitungs­positionen untervertreten;

  • Künstlerinnen und ihre Werke sind weniger sichtbar und erhalten seltener Preise;

  • Frauen verdienen weniger als Männer.

Das sind ziemlich genau die Ergebnisse, die auch vergleichbare Erhebungen in Deutschland an konkreten Daten festgemacht haben. Wer sich die Basler Studie genauer ansieht, stellt allerdings fest: Die Literatur­sparte kommt in dieser kultur­übergreifenden Auswertung in vielen Bereichen erstaunlich gut weg.

Schon daran zeigt sich: Es ist, wieder einmal, kompliziert. Auch weil die Daten lückenhaft und die vorhandenen Studien in Zeitraum, Reich­weite und Frage­stellung unter­schiedlich sind. In der Zusammen­schau lassen sich dennoch wesentliche Einsichten festhalten und Problem­lagen eruieren.

Wo also steht der deutsch­sprachige Literatur­betrieb beim Thema Diversität und Chancen­gleichheit? Wie äussert sich das, was die Autorin und Urheber­rechts­aktivistin Nina George den «sanften Sexismus» der Literatur­branche nennt? Wo sind die Ungleich­heiten besonders stark? Was sind die tieferen Ursachen für diskriminierende Strukturen? Wie lässt sich gegen­steuern? Und wo sind, neben den messbaren Missverhältnissen, die positiven, optimistisch stimmenden Signale? Denn um es vorweg­zunehmen: Auch die gibt es. Und auch sie lassen sich in Zahlen fassen.

Aber der Reihe nach. Um auf all diese Fragen wenigstens näherungs­weise Antworten zu geben, muss man nämlich ein wenig ausholen. Und man fängt am besten mit ein paar harten Zahlen an.

Die Zahlen: Ein paar Schlag­lichter

1. Literaturkritik

An der Universität Rostock wurde 2018 unter Leitung von Elizabeth Prommer und dem Netzwerk Autoren­rechte die Pilot­studie «Zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literatur­betrieb» erstellt – als erstes Resultat des langfristigen Forschungs­projekts #frauenzählen. Ausgewertet wurden mehr als 2000 Rezensionen, die im März 2018 in 69 deutschen Print-, Radio- und Fernseh­medien veröffentlicht wurden.

Die Ergebnisse:

  • Zwei Drittel der besprochenen Bücher stammen von Männern.

  • Im Sachbuch-Bereich ist der Männer­anteil mit 70 Prozent noch höher als in der Belletristik (61 Prozent).

  • Männliche Kritiker besprechen zu 74 Prozent Bücher von Männern, im Sachbuch-Bereich gar zu 80 Prozent. (Noch höher ist der Männer­anteil bei Krimis.) Bei Kritikerinnen ist das Verhältnis deutlich ausgeglichener, aber auch sie besprechen zu 56 Prozent männliche Autoren.

  • Von Männern verfasste Kritiken nehmen deutlich mehr Zeichen­umfang ein, was die übrigen Tendenzen in puncto Sicht­barkeit zusätzlich verstärkt.

Das sind Befunde, die sich in allen wesentlichen Aspekten mit einer noch umfassenderen Erhebung decken, die Veronika Schuchter an der Universität Innsbruck für das Jahr 2016 vorgelegt hat.

Wie sich dieser Bias in der Literatur­kritik bei der Republik niederschlägt? Näheres dazu in der folgenden Infobox.

Ich will es genauer wissen: Literatur­kritik und Gender bei der Republik

Wir wollten es selbst genauer wissen und haben die Gender­verhältnisse bei den im Republik-Feuilleton besprochenen Büchern analysiert.

Folgende Zahlen haben wir ermittelt: 48 Prozent aller vorgestellten Bücher wurden von Männern geschrieben, 47 Prozent von Frauen, 1 Prozent von Schreibenden, die sich als non-binär identifizieren. 4 Prozent der Bücher sind von einem gemischten Autorinnen­team verfasst.

Was genau wir ausgewertet haben

Weil die Republik anders konzipiert ist als Tages- oder Wochen­zeitungen, funktioniert auch die Literatur­kritik etwas anders als in herkömmlichen Feuilletons: Die klassische Einzel­buch­rezension ist in der Republik mittlerweile eine Seltenheit, weil wir stärker auf andere Formen setzen. Deshalb wurden für diese Auswertung sämtliche buchbezogenen Beiträge berücksichtigt: Einzel­rezensionen, Sammel­besprechungen, Essays mit rezensions­artigen Anteilen, Autoren­porträts, Interviews zum Buch, Buch­empfehlungs­texte sowie der «Salon der Republik» (früher «Buchclub»). Stichtag ist der 31. August 2021, gezählt wurden also die ersten 3 Jahre des Republik-Feuilletons, das im September 2018 an den Start ging.

Auch in der Republik zeigt sich ein – allerdings moderater – Gap zwischen Belletristik und Sachbuch: Lag der Anteil an besprochenen Büchern mit männlicher Autorschaft in der Belletristik bei 43 Prozent, sind es im Sachbuch 56 Prozent. Der allgemeine Trend, dass Männer häufiger über Männer schreiben, bestätigt sich bei der Republik ebenfalls für den Sachbuch-Bereich.

Wie sieht es bei den Textsorten aus, die sich ganz einer einzelnen Autorin oder einem einzelnen Autor widmen? In Interviews (Sachbuch und Belletristik) beträgt der Männer­anteil 57 Prozent. Bei besonders umfang­reichen und multimedial produzierten Artikeln mit einer Lese- und/oder Hörzeit ab 11 Minuten liegt hingegen der Frauen­anteil bei 59 Prozent.

In solchen «monografischen» Artikeln und bei Interviews wurde die jeweilige Autorin nur einmal gezählt, im Sinne des Gesamt­werks (also nicht einzelne Bücher). Gewisse Unschärfen gibt es bei Essays mit starkem Buchbezug: Blosse Nennungen von Büchern oder einzelne episodische Verweise wurden nicht gezählt. Die Grenzen sind hier allerdings fliessend, wie in Einzel­fällen übrigens auch bei der Unter­scheidung Belletristik/Sachbuch. Bücher, die im «Salon der Republik» vorgestellt wurden, gehen nur einmal in die Wertung ein, also nicht sowohl im Ankündigungs­text als auch im späteren Podcast.

Wer bei der Republik über Bücher schreibt und spricht

Eine prinzipielle Schieflage ergibt sich zum einen dadurch, dass die Republik lediglich eine – männliche – Person fest angestellt hat, die sich schwerpunkt­mässig um Literatur kümmert (der Autor dieser Zeilen). Zum anderen bestand das Feuilleton-Team in Zeiten des Einstellungs­stopps über ein Jahr lang nur aus zwei Männern. Infolge­dessen wurden buchbezogene Texte bei der Republik in den letzten 3 Jahren insgesamt zu zwei Dritteln von Männern verfasst, obwohl Aufträge an externe Mitarbeitende fast doppelt so oft an Frauen gingen wie an Männer.

2. Preise

Aus Hunderten Literatur­preisen ein paar wenige auszuwählen, ergibt immer ein unvollständiges Bild. Und doch ist es vielsagend, wenn man sich die Geschichte der grossen und besonders prestige­trächtigen Auszeichnungen ansieht.

Frauen, schreibt Nicole Seifert in ihrem Buch, kommen auf lediglich 13 Prozent aller Literatur­nobelpreise; und auf gerade mal 15 Prozent aller Georg-Büchner-Preise, der noch immer wichtigsten Auszeichnung der deutsch­sprachigen Literatur.

Um auch ein Spotlight auf die – deutlich weniger zahlreichen – Preise für Non-Fiction zu richten:

  • Der renommierte NDR-Sachbuch­preis wurde bislang 12-mal vergeben. Die Philosophin Bettina Stangneth ist bisher die einzige alleinige Preisträgerin. (2020 wurde der Preis doppelt vergeben: an Caroline Criado-Perez und Andreas Kossert.)

  • Der Sachbuchpreis der Leipziger Buch­messe wird seit 2005 verliehen. Unter den 85 Nominierten, die in 17 Jahren auf den Short­lists standen, waren gerade einmal 13 Frauen. Da ist es schon fast erstaunlich, dass noch 4 von 17 Preisen an eine Frau gingen.

Nimmt man die bisher genannten Zahlen zusammen, wird deutlicher, was an solchen Statistiken so frappiert – und was die Frage nach dem Frauen­anteil so spezifisch macht.

Repräsentationsprobleme gibt es im Literatur­betrieb zahlreiche. Aber Daten wie die obigen verdeutlichen, wie krass unter­repräsentiert im literarischen Feld die numerische Bevölkerungsmehrheit ist.

Das kann auch handfeste ökonomische Konsequenzen haben. Daten der deutschen Künstler­sozialkasse sowie Erhebungen über den Ladenpreis von Büchern und die damit verbundenen Autoren­honorare lassen den Schluss zu, dass es auch unter Schreibenden einen Gender-Pay-Gap gibt. Gestützt auf Daten von Suisse­culture Sociale folgert auch die Pro-Helvetia-Vorstudie, es gebe «erste Hinweise auf einen Gender-Pay-Gap zugunsten der Männer»; weitere Erhebungen seien jedoch nötig.

3. Verlagsprogramme

Ende 2019 veröffentlichten Berit Glanz und Nicole Seifert eine systematische Auswertung deutsch­sprachiger Verlags­programme für das Frühjahr 2020. Die Ergebnisse präsentierten sie in der Online-Ausgabe des «Spiegels», darunter auch der Befund, dass der Anteil an Autorinnen im Haupt­programm zahlreicher renommierter Verlags­häuser lediglich bei rund einem Drittel oder gar nur einem Viertel lag. Voraus­gegangen war eine Diskussion um das literarische Haupt­programm des Rowohlt-Verlags, wo im Herbst 2019 unter 13 Titeln nur ein einziges Buch von einer Autorin zu finden war – ironischer­weise der Klassiker «Middlemarch» von George Eliot, dem männlichen Pseudonym von Mary Anne Evans. #vorschauenzählen wurde ebenso zum Motto und zum Hashtag wie #frauenzählen.

Wie also sehen die aktuellen Literatur-Haupt­programme von Häusern aus, die damals besonders in der Kritik standen?

Bei Rowohlt: 8 Männer, 2 Frauen (wie schon zuvor im Frühjahrs­programm). Bei Hanser: 11 Männer, 6 Frauen. Diogenes: 19 zu 8.

Das ist natürlich nicht das ganze Bild. Verlage wie Hanser Berlin, Kein & Aber, Kampa oder Penguin hatten schon in der Auswertung von Berit Glanz und Nicole Seifert einen Autorinnen­anteil zwischen 60 und 70 Prozent. Bei S. Fischer, damals ebenfalls kritisiert, ist das Gender­verhältnis im aktuellen Programm ausgeglichen, bei der Gegenwarts­literatur sind Frauen sogar in der Überzahl. Und Suhrkamp, ebenfalls mit einem recht ausgeglichenen Verhältnis, verlegt im Herbst mit Sasha Marianna Salzmann und Marieke Lucas Rijneveld zwei Romane von Schreibenden, die sich als non-binär identifizieren.

Vielleicht zeichnen sich derzeit, bei allen nach wie vor akuten Repräsentations­mängeln, zaghaft zwei positive Tendenzen ab: Erstens verschieben sich auch in der sogenannten Höhen­kamm­literatur die Verhältnisse mehr in Richtung Gender­gerechtigkeit. Zweitens wächst die Sensibilität dafür, dass Gender rein binär zu denken unzureichend und selbst ein Moment des Ausschlusses ist.

«Bei vielen Verlagen», schreibt Nicole Seifert in ihrem Buch, «wächst das Bewusstsein» für die Missstände «wie auch die Bereitschaft, das Thema im Blick zu behalten».

Und genau dafür bleibt das Zählen, so sehr es nerven mag, unabdingbar.

Aktionen wie #vorschauenzählen halten die Diskussion am Laufen, und statistische Erhebungen in Langzeit­studien beschaffen überhaupt erst die Daten, um das intuitiv vielleicht längst Geahnte dingfest zu machen. Daten nämlich – darauf weist auch die aktuelle Pro-Helvetia-Vorstudie mit Nachdruck hin – sind häufig genau das, was fehlt.

Die Ursachen

Wer sich auf knappem Raum fundiert darüber informieren möchte, wo die mangelnde Sicht­barkeit von Frauen in der Literatur herrührt, findet in Nicole Seiferts Buch klare Antworten.

Die Ultrakurzform: Der jahrhunderte­lange Ausschluss von Frauen aus den Universitäten und aus dem öffentlichen literarischen Leben hat historisch eine Marginalisierung bewirkt, die sich in Form des überlieferten Kanons immer wieder reproduziert. Das ist in der feministischen Literatur­wissenschaft, wie sie etwa Silvia Bovenschen, Joanna Russ oder Sigrid Weigel geprägt haben, längst ein Gemeinplatz.

Aber bei Seifert lässt sich nun eindrücklich in einem populären Sachbuch nachlesen, wie über Jahr­hunderte für Frauen die einzige Möglichkeit zu höherer Bildung und zum Schreiben der Gang ins Kloster war. Wie noch zur Hochzeit der Aufklärung die Theorie von den «Geschlechts­charakteren» die Welt in eine angeblich weiblich-häuslich-emotionale und eine männlich-öffentlich-intellektuelle Sphäre einteilte. Wie noch eine Sophie von La Roche nur publizieren konnte, weil ihr Cousin Christoph Martin Wieland in einem Vorwort der Welt versicherte, dass das Werk ja, wie Seifert schreibt, «selbst­verständlich nie als Kunst gedacht gewesen sei». Wie die bereits genannte Mary Anne Evans das Pseudonym George Eliot annahm, um ernst genommen zu werden. Warum Fontanes «Effi Briest» Schul­buch­lektüre geworden und Gabriele Reuters «Aus guter Familie» beinah vergessen ist. Und nicht zuletzt, wie die Schublade «Frauen­literatur» bis heute die Werke von Frauen aus der vermeintlich «richtigen» Literatur auslagert.

Solche «Ignoranz gegenüber weiblicher Literatur und Kunst», schrieb die Autorin Isabelle Lehn 2020 in einem Essay, «ist allerdings nichts Natur­gegebenes, sondern über lange Jahre erlernt. Sie ist das Ergebnis einer literarischen Sozialisation, die an deutschen Schulen fast ausschliesslich über einen männlichen Kanon erfolgt.» Ob Schweizer Ausbildungs­stätten da die grosse Ausnahme sind?

Dass in der Schule fast ausschliesslich männliche Autoren gelesen wurden, ist jedenfalls eine Erfahrung, die nicht nur Isabelle Lehn und Nicole Seifert gemacht haben dürften. Und wo im öffentlichen Diskurs ein Bildungs­­kanon oder ein Kanon der Welt­literatur erstellt werden, geht das auch heute noch mit Blick auf sämtliche Quoten nicht gut aus.

Es braucht also eine Kanon­korrektur, wie sie das von Sibylle Berg, Simone Meier und vielen anderen initiierte Projekt #diekanon anvisiert. Und Seiferts Buch ist zu einem beträchtlichen Teil genau das: ein alternativer Kanon, der Autorinnen von Louise Aston bis Zora Neale Hurston in Erinnerung ruft.

«Zu einem lebendigen Kanon», schreibt Seifert, «gehört deshalb Kanon­kritik.» Doch meine dies nicht mehr, wie noch in den Siebzigern und Achtzigern, die Ablehnung des Prinzips Kanon als «Macht­instrument herrschender Gruppen». Ziel einer Kanon­revision sei es vielmehr, «sich verändernde Werte und gesellschaftliche Verhältnisse» abzubilden, die Frage immer neu aufzuwerfen, «wen und was Texte repräsentieren», und in das «Gemeinsame einzubeziehen, was bisher als marginal betrachtet wurde».

Anders als manchmal unterstellt, geht es bei diesen Diskussionen also gerade nicht um blosse Zahlenspiele.

«Wer zählt, muss nicht denken», schrieb der Literatur­kritiker Martin Ebel letztes Jahr in Reaktion auf «die ganze Frauen­zählerei», die von den Inhalten absehe. Dabei zielt eine historisch informierte Daten­auswertung gerade darauf, den Zahlen­befund mit einer Interpretations­anstrengung zu verknüpfen. Das schliesst ein genaues Bewusstsein für die Grenzen der Aussage­kraft von Statistiken mit ein.

Zahlen lügen nicht. Aber sie sagen auch nie die ganze Wahrheit.

Die Grenzen der Statistik

Über Projekte wie #frauenzählen zu sprechen, heisst immer auch, über die Grenzen dieser Kategorie hinaus­zudenken. Diskriminierung hat vielfältigste Erscheinungs­formen, und diese sind bereits innerhalb der Kategorie «Geschlecht» vielfältiger, als die binäre Logik von Mann und Frau abbildet, in der bislang noch die meisten statistischen Erhebungen verfasst sind (auch wenn die Studien das Problem mitreflektieren). Die Integration von non-binären Geschlechts­identitäten in diese Unter­suchungen ist also noch ausbau­fähig. Und Fragen der Diskriminierung entlang von Gender stehen neben all jenen Diskriminierungs­formen, die etwa mit Blick auf Ethnizität, soziale Herkunft und Alter erfolgen oder Menschen mit Handicap betreffen.

Gegen diese Benachteiligungen anzugehen, verlangt immer eine Pendel­bewegung zwischen einer inter­sektionalen, also auf alle Diskriminierungs­formen gerichteten Perspektive und einer partikularen. Das bedeutet einerseits, die Verbindungen zwischen diesen Kämpfen zu analysieren oder strategische Allianzen zu bilden. Doch ebenso gilt es, Spezifisches spezifisch zu analysieren – und zu adressieren.

Konkret auf die Repräsentation von Frauen im Literatur­betrieb bezogen, heisst das, den spezifischen Ausschluss des weiblichen Geschlechts historisch und gegenwärtig zu untersuchen – aber immer im Bewusstsein, dass damit «nur» ein Teilbereich umfassenderer Gerechtigkeits­fragen artikuliert wird. Und genau das ist auch der Ansatz von Autorinnen wie Nicole Seifert, weit über Zahlen­mathematik hinaus.

Auch das lässt sich beim Auszählen übrigens lernen: wie schnell Zuordnungen fragwürdig werden – und allzu strikte Ordnungs­systeme der Unzulänglichkeit überführen. Es ist ja gerade der Witz eines Begriffes wie «queer», dass er zu eindimensionalen Ordnungs­verfahren quersteht. Identitäts­fragen sind unendlich viel komplexer, als mit einer einzelnen Kategorie auch nur annähernd zu erfassen wäre. Und es sind ja ganz besonders die Künste, die für die Komplexität solcher Fragen sensibilisieren.

Diese Komplexität gilt es mitzudenken – sie ist aber nicht als Ausrede dafür zu benutzen, statistische Erhebungen gleich gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen. Die Statistiken etwa von #frauenzählen erfassen tatsächlich vieles nicht; manches Wesentliche aber sehr wohl.

Und noch etwas ist zum angeblichen Gegensatz von Zahlen und Inhalten zu sagen. Die Suggestion, wenn dieses Argument vorgebracht wird, ist in der Regel: Würde man inhaltlich auswerten, wäre der Befund ein anderer. In Wirklichkeit zeigt sich etwa beim Gender-Bias der Literatur­kritik: Über die Werke von Frauen wurde und wird häufig auch ganz anders gesprochen. Inhaltliche Analysen bestätigen den Bias, der sich zahlen­mässig ausdrückt.

«Ausserliterarische Bewertungen wie das Äussere oder die Lebens­umstände spielen bei Rezensionen von Büchern von Autorinnen eine ungleich grössere Rolle als bei den männlichen Kollegen», schreibt Nicole Seifert – und liefert einige anschauliche Beispiele: für einen doppelten Massstab in der Kritik; und für die Wirk­macht, mit der angeblich «weibliche» Themen dazu dienen, Literatur von Frauen zu trivialisieren.

Nicht umsonst hat die von Nadia Brügger, Güzin Kar und Simone Meier angestossene Twitter­aktion #dichterdran, mit der Stereo­type einer patriarchalen Literatur­kritik parodiert wurden, einen solchen Zulauf erhalten.

Das führt, eine Abbiegung weiter, zum nächsten Punkt.

Fokus auf Veränderung

In einem Artikel der «Süddeutschen Zeitung» über #dichterdran und die Klischees männlicher Literatur­kritiker war in der Print­ausgabe folgende Bild­unterschrift zu lesen: «Wenn Äusserlichkeiten wichtiger sind als das Werk: Die Bestseller­autorinnen Sally Rooney (oben), Zoë Beck (unten) und Sibylle Berg.»

Die Ironie dabei: Weil der Beitrag die drei Autorinnen mit Fotos zeigte, aber nichts zu ihrem Werk sagte, war die Bild­legende auch auf den Beitrag selbst anwendbar. So zeigte der Artikel mit dem Titel «Ansichts­sache» aber noch etwas anderes: eine kleine Dialektik der medien­kritischen Aufklärung. Denn mit jedem Text, der erst einmal die Fehl­rezeption von Autorinnen thematisiert, verschiebt sich der Fokus wieder hin zu den Kritikern und weg vom Werk der Autorinnen.

Mit anderen Worten: Wer für eine Veränderung des Status quo streitet, steht immer auch vor der Frage, wie viel Platz der Thematisierung von Miss­ständen einzuräumen ist und wo die Energie sich gerade auf die Gegen­bewegung richten muss: auf Gegen­beispiele. Oder direkt darauf, es anders zu machen – wie Nicole Seifert in ihrem Alternativ­kanon.

Wo Seifert hingegen die Literaturkritik thematisiert, ist in dem Buch so viel von Männer­dominanz und Gross­kritiker-Fehlurteilen die Rede, dass etwas Entscheidendes zu wenig betont wird. Dass nämlich gerade der qualitativ hervor­stechende Teil der Literatur­kritik längst massgeblich von Kritikerinnen getragen wird: von Feuilletonistinnen wie Insa Wilke, Julia Encke, Marie Schmidt, Christine Lötscher, Angela Schader, Miriam Zeh, Katharina Teutsch oder Daniela Strigl, um nur einige wenige aus einer langen Liste zu nennen.

Und noch etwas lässt sich für die Literatur­kritik festhalten: Zwar gibt es sie immer noch, die sexistisch grundierte Gross­kritiker-Geste, mit der ein vielfach gelobtes Debüt wie das von Deniz Ohde («Streulicht») auf herab­lassendste Art und Weise angegriffen wird. Aber der Punkt ist: Eine derart unsachliche Meinung, wie sie Denis Scheck in seiner Sendung zu Ohdes Buch vortrug, lässt man heute eben keinem mehr einfach durchgehen. Sie ruft vielmehr heftigen Wider­spruch hervor – unter den Gästen der Sendung ebenso wie in der literarischen Öffentlichkeit.

Das macht Schecks Urteil nicht besser. Aber es verändert signifikant die Wirkung. Halbwegs wache Geister dürften Deniz Ohdes Debüt­roman auch nach dieser Sendung noch für heraus­ragend halten. Ob das hinsichtlich der Urteils­kraft von Denis Scheck im gleichen Masse gilt, ist zumindest etwas unsicherer geworden.

Letzte Etappe.

Es braucht zum Ende dieses Textes noch einmal einen zweiten, anderen Blick auf das Thema Literatur­preise.

Was sich tut – und was zu tun ist

Der Nobelpreis für Literatur ging in den letzten 20 Jahren 13-mal an einen Mann – aber 2 der letzten 3 (bzw. 3 der letzten 6) Preise gingen an Frauen.

Der Büchnerpreis mit einer 20-Jahres-Bilanz von 15 Männern und 5 Frauen kommt für die letzten 4 Jahre immerhin auf 2 zu 2.

Beim Friedenspreis des Deutschen Buch­handels gab es in 20 Jahren nur 6 Preisträgerinnen – aber 4 davon in den letzten 6 Jahren.

Man kann dieses Spiel weiterspielen, etwa mit dem Man Booker Prize, dem Ingeborg-Bachmann-Preis oder dem Kranich­steiner Literatur­preis (der mittlerweile Grosser Preis des Deutschen Literatur­fonds heisst). Und dann stösst man selbst­verständlich auch auf Auszeichnungen wie den für die Lyrik eminent wichtigen Peter-Huchel-Preis, der zuletzt 4-mal in Folge an einen Mann ging. Was all jene beruhigen darf, die sich nun schon wieder ernsthaft Sorgen um die Pfründen des weissen Mannes machen.

Selbst wenn all diese Zahlen ebenfalls nur Schlag­lichter sind: Dass sich etwas verändert hat und uralte Ungleich­heiten sich ein wenig zu korrigieren beginnen, ist unverkennbar.

Natürlich: Wie nachhaltig diese Entwicklung ist, muss sich erst noch zeigen. Aber es scheint aktuell, als sei der beste Anschub für ein wenig Zuversicht, die allerjüngste Vergangenheit etwas stärker von der weiten historischen Perspektive zu entkoppeln. Die letzten 3, 4, 5 Jahre zeigen ein anderes Bild als die letzten 10, 20 oder 100.

«Es tut sich ja was», schreibt auch Nicole Seifert. Eine vorsichtige Formulierung, wohl weil sie weiss, dass dieses Argument nicht ungefährlich ist; schnell mal lässt es sich verwandeln in einen Backlash unter dem Motto «Ihr habt doch längst alles erreicht». Allzu leicht greift dann der Angela-Merkel- oder Barack-Obama-Effekt: Role models an der Spitze müssen als lebender Beweis herhalten, dass die Gleich­berechtigung nun aber wirklich vollendet sei.

Nachhaltige Veränderungen in den Strukturen des Betriebs werden jedoch vor allem zweierlei erfordern.

Erstens (und da sind entscheidende Voraus­setzungen tatsächlich längst gegeben): das Thema kontinuierlich im öffentlichen Gespräch zu halten.

Zum Beispiel durch weitere Erhebungen und konzertierte Aktionen. Durch Forschungs­projekte im deutsch­sprachigen Raum und international, die weiter an einer soliden Daten­grundlage arbeiten (auch die Rostocker Studie soll, wie Nina George gegenüber der Republik erwähnt, voraussichtlich 2022 fortgeführt werden). Durch kontinuierliche Kanon­revision, zu der auch Buchreihen wie «Femmes de lettres» im Secession-Verlag oder Verlags­neugründungen wie Jil Erdmanns edition sechsundzwanzig beitragen. Durch Organisationen wie das Autorinnen­­kollektiv RAUF, das sich die Sichtbarmachung von Frauen auf die Fahne geschrieben hat. Durch Journalistinnen wie Anne Sophie Scholl, die dem Thema regelmässig Sicht­barkeit in den Medien verschaffen. Durch Männer, die sich solidarisch zeigen, ohne sich als Wort­führer aufzuspielen.

Apropos Medien: Wie eine kürzlich erschienene Studie des Zürcher Forschungs­zentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft zeigte, sind Frauen in der Bericht­erstattung Schweizer Medien nach wie vor drastisch unter­repräsentiert: Der Anteil der Beiträge, in denen Frauen erwähnt werden, liegt bei durchschnittlich 23 Prozent – ein Wert, der seit 2015 quasi unverändert ist. Da ist die Kultur­bericht­erstattung im Vergleich sogar noch Avantgarde.

Das führt zum zweiten Punkt.

Nachhaltige Veränderungen lassen sich selbst­verständlich nicht aus dem Literatur­betrieb allein generieren. Es braucht vor allem auch Verbesserungen der politischen Rahmen­bedingungen.

So hat die genannte Pro-Helvetia-Vorstudie als «eine zentrale Ursache» für die Unter­vertretung von Frauen im Kultur­betrieb «die nach wie vor wirkmächtige Ausrichtung am Massstab männlich geprägter Lebens­entwürfe» ausgemacht. Die alte Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist auch im Kultur­betrieb virulent – und wo zwei Wochen Vaterschafts­urlaub noch als Errungenschaft gelten, ist die Chancen­gleichheit schon rein familien­politisch noch in weiter Ferne.

«Gegen strukturelle Probleme helfen nur strukturelle Veränderungen», schreibt Nicole Seifert treffend. Ihr Buch dürfte für das Thema kanonisch werden.

Zum Buch

Nicole Seifert: «Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt». Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 224 Seiten, ca. 27 Franken.

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