Was Kinder brauchen
Gespräche zur Ehe für alle landen schnell beim Kindeswohl. Geht es Kindern weniger gut, wenn sie nicht in einer Kleinfamilie mit Mama, Papa, Schwester, Bruder aufwachsen?
Von Marie-José Kolly, 20.09.2021
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Mama und Papa? Mama und Mama und Samenspender? Papa und Papa und Mama? Was braucht das Kind?
Die Antworten von Wissenschaftlerinnen oder Organisationen für Kinderrechte fokussieren auf ganz andere Dinge:
Das Kind braucht erstens einen sicheren Hafen, wo es beschützt und behütet wird. Dazu gehört eine gute Bindungsbeziehung mit wichtigen Betreuungspersonen.
Ist die Bindung einmal da, braucht das Kind auch Autonomie: Es muss den sicheren Hafen verlassen und auf Erkundungstour gehen können. Überbehütung läuft seiner widerstandsfähigen Natur zuwider.
Drittens brauchen Kinder unstrukturierte Lebensmöglichkeiten – Momente also, in denen nicht jede Sekunde durchgetimt ist.
Was Kinder benötigen, sind in erster Linie Fürsorge und Liebe und verlässliche Bezugspersonen, die sich vorbehaltlos um sie kümmern.
– Gutes psychisches Wohlergehen
– Gute physische Gesundheit
– Fähigkeiten für das Leben
Damit ist schon sehr vieles gesagt.
Nun gibt es neben dem Wissen um kindliche Bedürfnisse allerdings auch konkrete Forschung dazu, wie es um das Kindeswohl derjenigen steht, die mit Mama, Papa und vielleicht Schwester oder Bruder aufwachsen. Und wie um das Wohl der Kinder, die in einer sogenannten Regenbogenfamilie gross werden. Kurz: Forschung zu der Frage, die in der Schweiz im Vorfeld der Ehe-für-alle-Abstimmung gerade heiss debattiert wird.
Seit den 1980er-Jahren existieren solche vergleichenden Untersuchungen. Das bedeutet: Es gibt auch Langzeitstudien, die Kinder von der Schwangerschaft bis ins junge Erwachsenenalter begleiten konnten. Die umfassendste derartige Untersuchung ist die US-amerikanische «National Longitudinal Lesbian Family Study».
Die Langzeitstudie
Wenige Jahre nachdem 1982 eine kalifornische Samenbank auch homosexuellen Paaren Zugang zu Samenspenden eröffnete, begannen Wissenschaftlerinnen, die so entstehenden Familien zu untersuchen. Jahrelang begleiteten sie 84 Haushalte und erhoben zu sechs verschiedenen Zeitpunkten Daten, die verschiedene Aspekte der Paarbeziehung, des Familienlebens und des Kindeswohls widerspiegeln, insbesondere die psychische Entwicklung der Kinder.
Ihr Wohlergehen wurde mit Befragungen ermittelt, teils der Eltern, teils der Kinder selbst. Zwischen den Erhebungswellen wechselten die exakten Instrumente, die dieses Wohlergehen messen sollten; die exakten Werte auf den Achsen der folgenden Grafiken sind also von Grafik zu Grafik nicht immer vergleichbar. Sie zeigen jeweils an, wie stark die gemessenen Phänomene – etwa depressive Störungen – bei den Probandinnen ausgeprägt waren.
Die Entwicklung dieser Kinder stellten die Forscherinnen einer repräsentativen Stichprobe von Kindern gegenüber, die in heterosexuellen Lebensgemeinschaften aufwuchsen.
Sie fanden heraus:
Im Alter von 10 Jahren waren Kinder mit zwei Müttern vergleichbar mit Kindern, die mit einer Mutter und einem Vater lebten, was ihre psychische Gesundheit, ihre Sozialkompetenzen und ihr Verhalten betraf.
Auch im Alter von 17 Jahren waren die Kinder aus unterschiedlichen Lebensgemeinschaften einander ähnlich.
Im Alter von 25 Jahren zeigte sich noch einmal: Die psychische Gesundheit der jungen Erwachsenen, die in einer Lebensgemeinschaft mit zwei Müttern gross geworden waren, ist vergleichbar mit jener von Kindern heterosexueller Paare. (Der Unterschied, den die Grafik suggeriert, ist nicht bedeutsam: Die Forschenden testen innerhalb desselben Datensatzes insgesamt 24 Hypothesen. Deshalb ist die Hürde für statistisch signifikante Unterschiede gemäss wissenschaftlichen Standards grösser. Bei keiner der 24 Variablen ergab sich ein bedeutsamer Unterschied.)
Die Kinder, die für diese Langzeitstudie beobachtet wurden, hatten als wichtigste Bezugspersonen zwei Mütter. Wie Forschende im Bereich der gleichgeschlechtlichen Elternschaft beobachten, setzen sich viele Frauenpaare intensiv damit auseinander, wie sie ihrem Kind auch Zugang zu engen männlichen Bezugspersonen verschaffen können.
Tatsächlich bräuchten Kinder «das männliche und das weibliche Element», sagt Margrit Stamm. Aber: «Das heisst nicht zwingend die biologische Mutter und den biologischen Vater, oder überhaupt Mann und Frau.»
Das legen auch weitere Ergebnisse aus der «National Longitudinal Lesbian Family Study» nahe: Jugendliche, die angaben, sie hätten ein wichtiges männliches Rollenmodell, unterschieden sich in ihrem psychischen Wohlergehen sowie in stereotypen männlichen und weiblichen Persönlichkeitszügen nicht bedeutsam von Jugendlichen, die nach eigener Aussage kein solches Rollenmodell hatten. Ebenfalls fanden die Wissenschaftlerinnen keine signifikanten Unterschiede zwischen dem psychischen Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen, die ihren Erzeuger kannten, und jenen, deren Mütter eine anonyme Samenspende verwendet hatten.
Die Querschnittstudie
Ergebnisse aus einer italienischen Querschnittstudie, die zwar nur einmal Daten erhob, dafür aber viele Elternpaare und insbesondere auch Männerpaare miteinbezog, fallen ähnlich aus:
Wie auch manche andere Studien kommt diese zum Schluss, dass es Kindern in homosexuellen Lebensgemeinschaften sogar etwas besser geht. Das könnte einerseits mit unterschiedlichen Familiendynamiken zusammenhängen: Forschende beobachten etwa, dass homosexuelle Paare gleichberechtigtere Beziehungen führen. Andererseits könnte es mit den Hürden zu tun haben, vor denen diese Paare stehen: Ihre Elternschaft wurde sehr bewusst geplant und ist mit einem ganz anderen Aufwand verbunden als diejenige vieler (natürlich nicht aller) heterosexueller Paare.
Der Forschungsüberblick
Nun sind das einfach zwei Beispiele: für eine besonders langfristige Studie und für eine, die besonders viele verschiedene Familien untersucht hat. Die Forschung zu Kindern, die in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften aufwachsen, ist selbstverständlich viel breiter aufgestellt.
Wie gut ist diese Forschung? Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm hat in diesem Bereich zwar nicht selber wissenschaftlich gearbeitet, sich aber intensiv mit der Literatur auseinandergesetzt. «Hinter manche Studien würde ich ein Fragezeichen setzen – wegen der geringen Probandenzahl oder weil die Vergleichsgruppen nicht immer adäquat sind.» Aber grundsätzlich gebe es extrem viele Untersuchungen aus vielen verschiedenen Ländern.
Schaue man sich die gesamte Forschungslandschaft an, sagt Stamm, so schäle sich der Konsens relativ deutlich heraus: «Kinder, die in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften aufwachsen, entwickeln sich sehr ähnlich wie Kinder von heterosexuellen Eltern.» Viel wichtiger als die sexuelle Orientierung der Eltern sei die Beziehungsqualität zwischen Kind und Eltern sowie die Familiendynamik.
Die Gegenstimmen, die von Gegnern der Ehe für alle gerne zitiert werden, weichen also ab vom Konsens. Das könnte auch daran liegen, dass deren Autoren mal enge Verbindungen zu katholischen Institutionen pflegen, mal Familienstrukturen miteinander vergleichen, die nicht vergleichbar sind:
Sie betrachten etwa Kinder, die zunächst bei heterosexuellen Eltern aufgewachsen waren, nach deren Trennung aber in der neuen homosexuellen Partnerschaft eines Elternteils lebten.
Oder Kinder, die erst nach dem Kleinkindesalter als Adoptions- oder Pflegekinder in eine Regenbogenfamilie aufgenommen worden waren.
Dass solche Trennungserfahrungen Spuren hinterlassen können, liegt auf der Hand. Die beobachteten Unterschiede dürften also weniger mit der Regenbogenfamilie zu tun haben als mit der Biografie der Probandinnen.
Grundsätzlich gilt: Die Debatte um Regenbogenfamilien ist politisch und ideologisch geprägt. Es gebe vermutlich gewisse Vorurteile auf beiden Seiten, sagt Margrit Stamm, und auf beiden Seiten viel Herzblut für die eigene Position, die man anhand von Studien bekräftigen möchte. Aber für die Position, dass sich Kinder in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften gleich gut entwickelten wie andere, gebe es viel mehr Studien vorzuweisen, ein viel breiteres Forschungsfeld.
Wer seine Haltung gegenüber Regenbogenfamilien auf wissenschaftliche Evidenz abstützen will, der landet also bei: Gelassenheit.