Eine gewisse Skepsis ist nicht zu leugnen: Nicolas Stemann, Katinka Deecke und Benjamin von Blomberg (v. l.) vom Schauspielhaus Zürich.

Lampenfieber

Endlich wieder Theater! Aber was für ein Theater? Als im Frühling an deutschen Bühnen Machtmissbrauch aufgedeckt wurde, schielten viele auf die Schweizer Häuser und ihre modernen Intendanzmodelle. Die machen es besser, hiess es. Wirklich? Eine Tour durchs Land zur Spielzeiteröffnung.

Von Theresa Hein (Text) und Stephan Rappo (Bilder), 18.09.2021

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Prolog

Wir konnten eineinhalb Jahre nicht spielen – gar nicht oder nur eingeschränkt. Als Schauspielerin ist es wie bei jeder anderen Arbeit auch: Wenn du nicht trainierst, kommst du aus der Übung. Ich stelle mir das ein bisschen vor wie bei einer Konzertpianistin, die kein Klavier hat. Es fühlt sich an wie nach sehr langen Sommerferien – man denkt erst, man kann das nicht mehr. Das stimmt natürlich nicht. Aber du musst alles wieder trainieren, jeden Muskel.

Alicia Aumüller, Ensemblemitglied des Schauspielhauses Zürich.

Auf der erleuchteten, nach vorne schräg abfallenden Bühne im Stadttheater Bern stehen eine Frau und ein Mann. Sie in krassen Kontrasten, knallroter Rock, weisse Zopfstrick­jacke, rotblonde Locken­pracht darüber, er in Blau, in lässigem, aufgeknöpftem Hemd. Sie kennen sich (sie kennen sich sogar sehr gut), aber die Frau möchte gerade am liebsten nicht daran erinnert werden. Sie heiratet nämlich bald, was dem Mann überhaupt nicht passt. Er redet auf sie ein, scherzt, greift nach ihr, streichelt sie, bis sie nachgibt und sie Stirn an Stirn dastehen und an frühere, bessere Zeiten denken (oder, wahrscheinlicher, an Sex).

Die Schauspieler Yohanna Schwertfeger und Heiko Raulin, die Rose Bernd und ihren Liebhaber, den Gutsherrn Christoph Flamm, spielen, bringen eine mehr als hundert Jahre alte Geschichte auf die Bühne, allerdings so spannungsvoll, dass man dem Regisseur, der sie unterbricht, am liebsten den Mund zuhalten würde. «Rose Bernd» von Gerhart Hauptmann wurde 1903 uraufgeführt. Die Szene zwischen der jungen Frau und dem älteren, mächtigeren Mann hat in den 118 Jahren, die seitdem vergangen sind, allerdings wenig von ihrer Anwendbarkeit auf die Gegenwart verloren.

Bis auf die Sprache, denn Hauptmann hat das Stück komplett im schlesischen Dialekt verfasst, was sich dann, wenn man im Zuschauer­raum bei der Probe sitzt, so anhört:

Flamm: «Wirst du denn manchmal zu uns kommen?»

Rose: «Das geht nich. Das schneid’t een zu sehr ins Herze. Das wär’ bloss gedoppelte Marter und Leed!»

Pause

Rose: «Fuck.»

«Fuck» ist natürlich nicht im Originaltext, sondern rutscht der Schau­spielerin heraus, weil sie zwischen Hoch­deutsch und verschiedenen Ausprägungen des Schlesischen wechseln muss, oft von einer Minute auf die andere. Auch der Art und Weise wegen, wie Hauptmann die Sprache einsetzt, gefiel Regisseur Roger Vontobel das Stück so gut, dass es jetzt die neue Spielzeit eröffnet. Er fand es passend, wie sich der Unterschied zwischen arm und reich, mächtig und ohnmächtig im Dialekt ausdrückt.

Auch, weil es dem Regisseur darum geht, «den Blick zu zwingen», wie er sagt: «In der Schweiz ist es manchmal sehr wichtig, den Blick direkt auf das Hässliche zu richten. Es gibt so viel Schönes, auf das man blicken kann, hier der Brienzersee, dort ein Alpen­panorama. Das Hässliche dagegen kann man sehr gut verdrängen.»

Aus diesem Grund haben wir hier mit Rose angefangen, der Bühnen­figur, die an einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft und der Egozentrik der Menschen kaputt­geht. Denn genau darum ging es in der Debatte ums Theater, die in diesem Frühling 900 Kilometer weiter nordwestlich in Deutschland geführt wurde.

Ab März 2021 wurden an mehreren deutschen Bühnen Missstände angeprangert. Der prominenteste Fall war der von Klaus Dörr, ehemals Intendant der Berliner Volks­bühne, der das Haus nach Vorwürfen sexualisierter Übergriffe verliess. Shermin Langhoff, Intendantin des Maxim- Gorki-Theaters in Berlin, stand wegen Mobbing­vorwürfen im Rampen­licht. (Die Klage einer Dramaturgin endete in einem Vergleich. Und damit, dass die Dramaturgin ging.) Und am Düsseldorfer Schauspiel­haus wurden Vorwürfe des Rassismus laut. Ein Schauspieler offenbarte unter anderem, dass ein Regisseur ihn auf der Probe «Sklave» gerufen und er keinen Beistand vom Ensemble bekommen habe.

Und so schielte man von Deutschland aus neidisch auf die Schweiz, in der man auf einmal ein aufgeklärtes, progressives Vorbild, gar eine Verheissung sah. Das war, sagen wir mal, mindestens ungewohnt.

Aber hat sich die Schweiz in den letzten zwei, drei Jahren tatsächlich hervorgetan – durch mutige Besetzungs­entscheidungen, durch neue Strukturen, Verjüngung, Diversität? Die Republik hat in den vergangenen Wochen die grossen Stadt­theater besucht und nachgefragt, ob der neidische Blick aus Deutschland gerecht­fertigt ist. Wir haben uns mit Intendanten und Dramaturginnen, Regisseuren und Kostüm­bildnerinnen getroffen, mit fest angestellten und freien Schau­spielerinnen gesprochen.

Was man vorab verraten kann: In der Schweiz bewegt man sich an vielen städtischen Häusern seit Jahren weg vom Ein-Mann-Intendanten­modell hin zu hybriden Formen, zur Doppel-, Dreifach-, in einem aktuellen Fall sogar 16-fach-Spitze. Wir kommen darauf zurück.

Die Bemühungen um Lohngleichheit werden nicht überall gleich konsequent voran­getrieben. Aber sie sind zumindest auffallend. Das zeigen sowohl Gespräche mit Leitungs­personen wie auch externe Geschäfts­prüfungs­berichte, die wir einsehen konnten. Es gibt kaum einen Gender-Pay-Gap, dafür Coachings für Führungs­kräfte, Awareness-Seminare, Workshops zu Antirassismus und Gender­gerechtigkeit.

Das heisst aber nicht, dass man in der Schweiz am Theater vor Macht­missbrauch oder Nepotismus gefeit ist. Und wenig überraschend gehört auch Rassismus zum Alltag, wie wir auf unserer kleinen Bühnen­reise hören werden. Auch über die Corona-Auswirkungen der letzten eineinhalb Jahre haben wir gesprochen, weil sie die Bühnen vor ihre grösste Heraus­forderung stellten: die Schliessung. Und andererseits vielleicht überhaupt erst möglich machten, dass anders darüber nachgedacht wurde, wie Theater funktioniert. Nicht nur, aber auch deshalb, weil Zeit dazu war.

Eine im letzten Jahr veröffentlichte Studie des Schweizerischen Bühnen­künstlerverbandes, an der 1160 Theater­beschäftigte teilnahmen, zeigte auf, dass 79 Prozent der Teilnehmenden in den zwei Jahren zuvor «negative Erlebnisse» am Arbeits­platz gehabt hatten. Am häufigsten unter diesen «negativen Erlebnissen»: die verbale Belästigung. Interessanter­weise gingen die Vorfälle fast zu gleichen Teilen von Vorgesetzten (38 Prozent) und Arbeits­kolleginnen (39 Prozent) aus.

Was gilt nun also?

An allen Bühnen, die die Republik in den vergangenen Wochen aufgesucht hat, trifft man auf Menschen, die das Theater lieben. Und die das Los teilen, ein jahrhunderte­altes, marodes System von innen reformieren und gleichzeitig grossartige Kunst machen zu wollen.

Die kurze Antwort: Beides gemeinsam ist möglich – sowohl die Reform des Systems als auch die Produktion von grosser Kunst. Es ist lediglich ein Haufen Arbeit.

Für die lange Antwort fahren wir am besten einmal durch die Schweiz.

In den Jahren vor der Pandemie hatte ich erstmals die Möglichkeit, für die Arbeit nach Europa zu reisen. Da habe ich gemerkt: In Japan musste ich nie darüber nachdenken, dass ich eine Asiatin bin, oder auf diese Weise meine Identität infrage stellen. Aber als ich nach Europa ans Theater kam, fühlte ich mich, als müsste ich noch mal extra beweisen: Ich kann auch bestehen im europäischen Standard, meine Arbeit ist gut genug für diese Erwartungen.

Satoko Ichihara, freie Regisseurin, derzeit am Theater am Neumarkt mit «Madama Butterfly».

I. Praxis

Nach dem Proben der Szene läuft Regisseur Roger Vontobel aus dem Zuschauer­raum des Theaters Bern nach vorne an die Bühne und setzt sich die Brille auf die Nase. Alles toll, sagt er, aber er hätte es gerne noch ein bisschen zurück­genommener. Einer der Schauspieler beginnt zu diskutieren, ob der Verlobte nicht dem Impuls einer Drohgebärde – also des Aufspringens – nachgeben würde. Der Regisseur ist für sitzen bleiben, Distanz statt Nähe, und so eiert man höflich umeinander herum, was sich dann so anhört:

  • «Ich dachte nur.»

  • «Vielleicht lieg ich auch falsch.»

  • «Aber vielleicht lieg ja auch ich falsch.»

Bis man sich einigt auf:

  • «Wir könnens ja mal so ausprobieren.»

Am Ende setzt sich der Regisseur durch, freundlich, bestimmt. Und ziemlich schnell. Vontobels Vorstellung, wie sich Dinge anhören und anfühlen sollen, ist präzis, er liest manchmal neben der Souffleuse stehend den Text vor, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und wechselt die Stimm­lagen dabei wie in einem Hörbuch. Einmal huscht ein Schau­spieler zur Dramaturgin, um sich ihrer Meinung rückzuversichern. Entscheidungen gemeinsam finden, das geht, zumindest auf der Probe in Bern. Die Patriarchen sind da, wo sie hingehören: auf der Bühne.

Oder?

Mitte August sitze ich mit dem Intendanten Florian Scholz, der leitenden Dramaturgin Felicitas Zürcher und Roger Vontobel (der nicht nur Regisseur, sondern auch Schauspiel­direktor der Berner Bühnen ist) in Scholz’ Büro. Der Intendant bringt Kaffee, unter seinem leicht geöffneten Hemd blitzt eine dünne Kette hervor.

Felicitas Zürcher, eine ruhige, grosse Frau mit einer warmen Stimme, ist auch deshalb eine interessante Gesprächs­partnerin, weil sie als Dramaturgin am Düsseldorfer Schauspiel­haus tätig war, als dort Diskussionen um Rassismus und Macht­strukturen laut wurden. Über Düsseldorf sprechen wir nicht, nur so viel: Zürcher war zwei Jahre in einer «Diversity AG» und sagt: «Was solche Gruppen bewirken können, wird sich zeigen.»

Wie Roger Vontobel ist die Dramaturgin neu an die Bühnen Bern gekommen. Sie sieht das als Vorteil: «Man kann prägen, wie Gespräche geführt werden: Wo gibt es Grenzen? Und wenn jemand eine Grenze verletzt sieht, wer sagt wem Bescheid?»

Kürzlich sprach sie mit den Regie­assistentinnen über Nacktheit auf der Bühne. «Ich möchte definitiv keine Aufpasserin abstellen, die sagt: Stopp, hier wird es zu viel», sagt Zürcher. «Aber wir müssen eine Gesprächs­kultur etablieren, in der man die Freiheit hat zu sagen: Ich möchte mich nicht ausziehen. Und wenn man denkt, es ist eine Grenze überschritten, dass man danach aufeinander zugeht und fragt: Ist alles in Ordnung?»

Hierarchie manifestiert sich auch in Geld. Doch die komplette Lohn­gleichheit als Instrument gegen Macht­unterschiede überzeugt den Intendanten Florian Scholz nicht: «Ich verstehe nicht ganz, wieso ein 22-jähriger Jung­schauspieler, der grade von der Schauspiel­schule kommt, das Gleiche verdienen soll wie eine Schau­spielerin, die ihr Leben lang an den grössten Bühnen im deutsch­sprachigen Raum gearbeitet hat und Mitte 50 ist. Ist das korrekt, die gleich zu bezahlen?», fragt er.

Der Intendant ist der Einzige aus dem Führungsteam, der schon länger am Haus ist. Länger bedeutet allerdings auch bei ihm: erst seit der Corona-Spielzeit 2019/2020. Er gehört zu jenen, die gerade loslegen wollten, als die Pandemie kam, und nennt das letzte Jahr den «absoluten Horror». Er klopft hinter sich auf seinen Schreib­tisch aus Holz, wie um zu bekräftigen: Wir geben unser Bestes, wer weiss, was noch kommt.

Er klopft mehr als einmal während des Gesprächs.

Bühnenreif: Florian Scholz, Roger Vontobel und Felicitas Zürcher (v. l.) von den Bühnen Bern.

Am Ende formuliert Scholz einen Gedanken, der in den lauten Diskussionen um Macht­missbrauch gern vergessen wird. «Am Theater schauen wir in die schlimmsten menschlichen Abgründe», sagt er. «Das ist Teil unserer Arbeit. Wir müssen auch Missbrauchs­szenen darstellen dürfen. Aber auf der Bühne, nicht dahinter», sagt Scholz. Je grausiger die Dinge seien, die auf der Bühne verhandelt würden, umso mehr Sorge müsse man der menschlichen Unversehrt­heit hinter der Bühne tragen.

Ich glaube schon, dass das Theater sich verändern wird. Aber man sollte sich nicht so aufs Geschlecht konzentrieren. Jede Person sollte wissen, was für Vor- und Nachteile sie durch ihre Geburt bekommen hat und welchen Raum sie dadurch bekommt, den andere nicht bekommen. Und sich dann fragen: Wie bereit ist man, zu teilen? Will man mit bestimmten Menschen diesen Raum nicht teilen? Warum nicht? Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass die neuen Patriarchen nicht weisse Frauen werden. Ich will damit auch nicht sagen, dass ganz ausgeschlossen ist, dass Frauen, die zu Minder­heiten gehören, ihre Macht missbrauchen. Sondern: Es wird sich erst was verändern, wenn wir die Macht an sich verändern, sie aufteilen und mit der Unter­drückung, Ausbeutung und Vettern­wirtschaft aufhören.

Mateja Meded, freie Schauspielerin und Autorin, «Kollaborateurin» am Neumarkt, Zürich.

II. Macht

Die menschliche Unversehrtheit, von der Scholz gesprochen hat, ist ein gutes Stichwort. Warum ist sie am Theater so gefährdet? Ausgerechnet an dem Ort, der doch dem Publikum den Spiegel vorhält und auf die Bühne bringt, was an einer Gesellschaft verachtens­wert ist.

Oder ist es am Ende am Theater auch nicht anders als irgendwo sonst?

Mit dem Theater ist es wie mit anderen kreativen Berufen: Wer an einer Bühne arbeitet, der fühlt, dass er einer Berufung nachgeht. Das muss noch mal erwähnt werden, nicht als Recht­fertigung, sondern als Erklärung. Die Kehrseite bedeutet meistens: Arbeits­zeiten gibt es auf dem Papier, sie haben aber mit der Realität nicht viel zu tun. Man duzt sich, hat intensive, häufig persönliche Beziehungen. Die kreative Arbeit im Kollektiv, häufig auf engem Raum und unter Zeitdruck, erfordert eine Vertrauens­basis: Wer Erfahrungen austauscht, bleibt meistens nicht beim Small Talk; zumal wenn es um die Darstellung intimer menschlicher Verhältnisse und Grausamkeiten geht. Man arbeitet gemeinsam so lange an einem Projekt, bis es sitzt. Wenn es sein muss bis in die Nacht: Text sprechen, Musik schneiden, Ideen austauschen.

Auch wenn es den in Deutschland zu recht beklagten «Normalvertrag Bühne», ein gelinde gesagt arbeitnehmer­feindliches Papier mit vielen Schlupf­löchern für die Arbeitgeber­seite, in dieser Form in der Schweiz nicht gibt – auch hierzulande beruht das Theater auf jahrhunderte­alten Strukturen.

Der Gedanke «ausgerechnet am Theater» ist also hinfällig.

Selbstverständlich gibt es Macht­missbrauch am Theater.

Gerade dort.

Das Schweizer Theatersystem sei strukturell exakt an das öffentliche deutsche Theater­system angelehnt und habe deswegen mit ähnlichen Macht­problemen zu tun, schreibt Thomas Schmidt. Schmidt, Professor für Theater- und Orchester­management an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main, hat die wegweisende Studie zum Thema veröffentlicht. Seine Ausgangs­these lautet: «Macht ist nicht nur ein fest verankerter Teil der Theater­arbeit in deutschen öffentlichen Theatern, sie ist das struktur- und organisations­bildende Konzept der Theater­betriebe und hat das Primat des Künstlerischen sukzessive abgelöst.»

Zu diesem strukturellen Aspekt kommt hinzu, dass im Theater­betrieb zwar häufig brillante Künstlerinnen an der Spitze stehen, diese aber nicht zwangsweise brillante Führungs­personen sein müssen.

Niemand behauptet, es könne nicht beides in Personal­union existieren.

Es ist nur sehr selten.

Dem Intendanten werde eine «nahezu unkontrollierte Entscheidungs­gewalt» in allen Bereichen des Theaters ermöglicht», schreibt Schmidt. Und: «Nach wie vor geht man in der Theater­szene davon aus, dass ein Intendant ausser seiner künstlerischen Handschrift keine besondere Ausbildung mitbringen muss, und noch immer gilt der Regisseur als prädestiniert für das Amt des Intendanten.»

Schmidt plädiert für eine Abkehr von den auf einen Intendanten im Zentrum konzentrierten Leitungs­modellen, das sei «alte Schule». Eine Doppel­spitze reicht ihm aber nicht aus, zu häufig sei es schon passiert, dass sich der eine dem anderen unterordne oder dass die Freundschaft der Organisation nicht guttue. «Erst ab einer dritten Person in einem Leitungs­gremium», schreibt Schmidt, «fallen Verabredungs­prozesse schwerer (…) und mit jeder weiteren Person auf der ersten Leitungs­ebene wird die Macht Einzelner weiter abgebaut.»

Es gab während der Pandemiezeit ein ehrliches Bemühen, das Team zusammen­zuhalten, das ist, finde ich, auch gelungen. Und man hat eine grosse Fürsorge gespürt. Aber ich habe neue Gedanken, die mir kommen, neue Fragen, die aufgeworfen wurden. Als Teil des Ensembles würde ich gerne mehr Verantwortung übernehmen und mehr mitgestalten. Wenn man sagt, man muss die Strukturen neu denken, sollte das doch auch für das Ensemble gelten, oder? Damit wir uns nicht vorkommen wie Bücher in einem Bücher­regal, die man nach Bedarf rausholt.

Alicia Aumüller, Ensemblemitglied am Schauspielhaus Zürich.

III. Freiheit

Besonders hart haben die vergangenen eineinhalb Jahre die freie Szene getroffen – und mit ihr die Gastspielhäuser, an denen die freien Gruppen ihre Produktionen zeigen. Zum Beispiel das Theater­haus Gessner­allee in Zürich. Dort haben Michelle Akanji, Juliane Hahn und Rabea Grand im Sommer 2020 neu als Leitungs­team angefangen.

Wie dynamisch es am Theater zuweilen zugeht, zeigt sich daran, dass Grand ihre Leitungs­position bereits wieder abgegeben hat. Die Begründung: Man habe das Leitungs­modell weiter­entwickelt. Grand ist nun unter anderem für die Koordination der einzelnen Sparten zuständig.

Aus dem Trio wurde ein Duo. Das sitzt Anfang Juli in einem kleinen, ruhigen Zimmer über der Bar im Haus. Juliane Hahn und Michelle Akanji seufzen, als sie an das vergangene Jahr zurück­denken: «Unser ganzes Konzept ist darauf ausgelegt, dass sich Menschen begegnen können. Und wir wussten, das wird nicht passieren.» Sie haben die Sorgen und Ängste derer gespürt, die eben nicht in Fest­anstellungen abgesichert sind, weil das Haus ausschliesslich mit freien Produktionen zusammen­arbeitet. Die Bar musste schliessen, die Mitarbeiterinnen wurden in Kurzarbeit geschickt.

Manche der Gruppen, die an der Gessnerallee während der Corona-Zeit hätten auftreten sollen, bekamen Zuschüsse, «Corona-Produktions­beiträge». Die Stadt und der Kanton hätten schnell reagiert, sagt Juliane Hahn, da könne man nichts sagen: «Wie prekär das Haus aufgestellt ist, haben wir trotzdem immer wieder gemerkt.»

Gefunden hat sich das neue Leitungsteam unter anderem aus Frust über bisherige Erfahrungen. «Die Frage von Macht­konzentration und Amts­missbrauch war Teil der Ausrichtung unseres Konzepts, die treibt uns schon um seit Tag null», erzählen Akanji und Hahn. Gemeinsam, sagen sie, wollen sie herausfinden, wie sie verantwortlich führen könnten, ohne dass sich Muster wiederholen, wie sie an anderen Häusern anzutreffen sind.

So weit die gute Absicht. Im Sommer 2020 gibt es am Haus einen Neuzugang, der ins Auge fällt: Eine Person, die noch im Jahr zuvor in der Auswahl­kommission sass, die Akanji und Hahn ans Haus holte, wird als Verantwortliche für Tanz und Theater im Haus besetzt. Auf Nachfrage wiegelt Michelle Akanji ab und betont, dass alles korrekt abgelaufen sei: keine grosse Sache.

Die Corona-Zeit bedeutete Isolation für die meisten, auch für mich. Ich bekam Zweifel, ob ich einfach mit der gleichen Geschichte weitermachen könnte, an der ich vor der Pandemie gearbeitet hatte. Aber was mir während dieser Zeit besonders auffiel, war: Alle Probleme, die wir vor der Pandemie schon hatten, wurden viel sichtbarer und offenkundiger während dieser Monate, Rassismus oder Vorurteile über andere zum Beispiel. Sie sind nicht nur Probleme zwischen Staaten, sondern auch innerhalb von Ländern und Gesellschaften. Eine Einsicht, die mich dazu brachte, das Stück vor dem Hintergrund dieser Erfahrung noch mal umzuschreiben.

Satoko Ichihara, freie Regisseurin, gerade mit «Madama Butterfly» am Theater am Neumarkt, Zürich.

IV. Engel

Der Theatersaal im Neumarkt, Proben von «Madama Butterfly» am frühen Abend, Anfang August. Die schwarzen Läden haben das Sonnen­licht im ersten Stock komplett ausgesperrt. Im hinteren Teil des Raumes sind die Pulte der Technik aufgebaut, davor ein Tisch, an dem die Regisseurin Satoko Ichihara und Kanoko Tamura, die Übersetzerin, sitzen. Im vorderen Teil des Raumes sind schon Teile des Bühnen­bilds aufgebaut, das hauptsächlich aus weissen Vorhängen und einem grossen blauen Polster besteht.

Ein japanischer Priester, gespielt von Yan Balistoy, nimmt einem amerikanischen Offizier, gespielt von der Schau­spielerin Sascha Özlem Soydan, die Beichte ab. Der Amerikaner erzählt, er sei als Englisch­lehrer nach Japan gekommen, die Aufnahme­prüfung sei ein Klacks gewesen, er habe eigentlich nur ein amerikanisches Gesicht haben müssen, mehr nicht. Er erzählt dem Priester weiter davon, wie er die Protagonistin Cio-Cio kennengelernt habe.

Kyōko Takenaka, die Cio-Cio spielt, tritt hinterm Vorhang hervor. Dann folgen ein ziemlich unspektakuläres Kennen­lernen («Gefällt dir mein Kimono?» – «Ja, ja»), eine Hochzeit und ein Hotel­zimmer – das zum Leidwesen des Amerikaners doppelt so teuer ist wie sonst: Wochenende, die Preise sind horrend.

Cio-Cio hätte gerne ein Kind vom Amerikaner, ein süsses, westlich aussehendes Baby. Der Amerikaner will die Frau. Beide glauben, sie haben die Kontrolle.

Dann wirds brutal.

«Der Akt war für sie und für mich rein bestialisch», erzählt der Amerikaner dem Priester, «keiner von uns betrachtete den anderen als gleich­gestelltes Wesen.» Er beschwert sich ein wenig beim Priester, warum man, für diese banale Sache, nicht einfach hinter einen Busch hätte gehen können, wie Hunde, Mäuse, Kakerlaken, aber nein, der Mensch braucht ein Hotelzimmer für 7500 Yen, und die Frau wollte sich nicht mal daran beteiligen. Sascha Özlem Soydan starrt mit grossen braunen Augen in den Saal. Nur die seltsamsten Organismen der Welt, sagt sie, kämen auf diese Idee: «Menschen.»

«Die Debatte nervt auch»: Julia Reichert, Hayat Erdoğan und Tine Milz (v. l.) vom Theater am Neumarkt.

Das Zürcher Theater am Neumarkt wurde nach der Aufregung im Frühjahr von deutschen Medien besonders gern als Schweizer Paradebeispiel herangezogen. Eine Intendanz aus drei Menschen, und dann auch noch drei Frauen, Hayat Erdoğan, Julia Reichert und Tine Milz, so etwas gibt es an deutschen Stadt­theatern nicht.

Juli 2021, wir sitzen zu dritt im ersten Stock in der Teeküche im Neumarkt, Julia Reichert ist am Bildschirm zugeschaltet. Die Atmosphäre im Raum ähnelt der einer WG-Küche, bunter Holztisch, Getränke­kisten. Ab und an kommt eine der Mitarbeiterinnen am Haus hinein, nimmt sich ein Glas aus einem Schrank und winkt.

Auf die Vorbildfunktion angesprochen stöhnt Tine Milz leise. «Ich find es extrem unangenehm, wenn wir immer als das beste Beispiel herangezogen werden, als seien wir Engel. Bei uns gibt es auch Proben, wo jemand ein Arschloch ist.»

Als sie angefangen hätten, erzählt Milz weiter, habe sich niemand dafür interessiert, was für Theater am Neumarkt stattfand. «Dann wird Macht­missbrauch ein Thema, und man findet die drei Frauen super», sagt sie. «Die Debatte nervt mich auch. Ich will irgendwann auch wieder über Inhalte reden. Ja, das Gespräch über Strukturen ist wichtig, aber was machen wir für ein Theater und für was steht das?»

Was alle drei spüren: dass Mitarbeiterinnen zurück­melden, dass man sich im Haus jetzt öffne und traue, Dinge auszusprechen, die früher nicht ausgesprochen worden seien. 2020 führten die drei Intendantinnen mithilfe des oben erwähnten Studien­autors Thomas Schmidt eine Mitarbeiter­befragung durch. Eines der Ergebnisse ist ein sogenannter Code of Conduct, ein Verhaltens­kodex, wie es ihn an vielen Theater­häusern mittlerweile gibt (auch in solchen, wo es Macht­missbrauch und Übergriffe gab, wie die oben erwähnte Umfrage des Schweizerischen Bühnen­künstler­verbandes belegt).

Hayat Erdoğan sagt, der Kodex sei ein Wunsch der Mitarbeiterinnen gewesen. «Privat würde ich sagen, ich finde es traurig, dass man so was braucht. Ich hoffe doch, dass ich mit Menschen zusammen­arbeite, die in der Lage sind, sich anständig zu benehmen. Aber es scheint auch ein Bedürfnis zu sein, ob es nun durch den Zeitgeist hervor­gerufen ist oder nicht.» Und sie fügt hinzu: «Wenn du ein Arsch bist, bist du ein Arsch, da hilft auch ein Code of Conduct nichts.»

Julia Reichert, die Dritte der Co-Intendantinnen sagt: «Als diese Umfrage mit den drastischen Zahlen der Übergriffe am Schweizer Theater kam, dachten wir natürlich: Aber doch nicht bei uns. Dann sind wir einen Schritt zurück­gegangen und haben uns gefragt: Ist es nicht fatal, wenn wir einfach entscheiden, dass bei uns schon alles stimmt? Deswegen haben wir uns für die Mitarbeiter­befragung entschieden. Die Signal­wirkung, die solche Papiere haben, sollte man nicht unterschätzen.»

Das Wichtigste sei nicht, den Leuten ein Papier hinzuhalten, so nach dem Motto: Da steht doch, dass du niemanden rassistisch beleidigen darfst. Sondern dass man es ernst meine.

«Kurz nachdem wir gewählt wurden, gab es eine Mitteilung an die Mitarbeiterinnen des Hauses, in der von der neuen Intendanz die Rede war», erzählt Hayat Erdoğan. Da wurden unsere Namen mitgeteilt und unser Werdegang und dann hiess es: ‹… und die Dritte, das ist eine Türkin, die hat aber sogar studiert.›»

Ein Ensemble­mitglied berichtete Erdoğan erst vor wenigen Monaten davon, eine Mitarbeiterin bestätigt den Vorfall der Republik. Genauer sagen, wer sich so geäussert habe, möchte Erdoğan nicht. Sie sagt, ihr sei klar, dass strukturelle Änderungen Zeit brauchen, sie will nicht resignieren.

«Es gab auch andere Sprüche in dieser Art», sagt Erdoğan.

Wie sie darauf reagiert habe? «Ich war schon sprachlos», erinnert sich Erdoğan. «Es sind Situationen, in denen ich stumm dastehe und mich ärgere.»

Und sie sagt: «Du kriegst es letztlich ja auch nicht ausgetrieben aus den Menschen.»

Als Leiterin der Kostümabteilung muss ich mit meinem ganzen Team immer wieder dafür kämpfen, dass die Wichtigkeit unserer Arbeit ernst genommen wird. Es ist so: Die Kostüm­abteilung ist meistens eine reine Frauen­abteilung. Sie wird auch immer mehr dazu, weil die wenigen Herren­schneider und Masken­bildner, die es noch gibt oder die es früher mehr gab, in Pension gehen. Die anderen Gewerke in der Technik­abteilung sind in Männerhand. Und wir vom Kostüm sind immer, wie soll ich sagen, die «Damen von der Stoffabteilung». Ich möchte das aber gar nicht an einzelnen Personen festmachen, es ist mehr so ein allgemeiner Eindruck.

Franziska Ambühl, Leiterin der Abteilung Kostüm und Maske, Bühnen Bern.

V. Angst

Im roten Scheinwerfer­licht steht Patrycia Ziółkowska auf der Bühne im Pfauensaal des Schauspiel­hauses Zürich, in einem langen, schwarzen Gewand mit ausladenden Puffärmeln, ein Kleid, in das man reinschlüpft und zur Diva wird. Ziółkowska klammert sich ans Mikrofon, stösst es von sich weg, tanzt über die leere Bühne, langsam und elegant wie eine unbeobachtete Raubkatze im Dickicht. Und so ähnlich nennt der ehemalige Liebhaber Ill in Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» die Claire Zachanassian, die Ziółkowska hier spielt, ja auch: «Wildkätzchen».

Da weiss er natürlich noch nicht, dass das Wild­kätzchen nur gekommen ist, um sich zu rächen.

Ziółkowska oszilliert in dieser Szene zwischen den zwei Haupt­figuren, die sie wechselweise beide verkörpert. Sie spricht Ill als weinerlichen, sich selbst bemitleidenden alten Mann und Claire Zachanassian, die später seine Ermordung verlangen wird, als sein unbeeindrucktes, selbstbewusstes Gegenüber.

«Du warst jung und schön. Dir gehörte die Zukunft. Ich wollte dein Glück. Da musste ich auf das meine verzichten», heult die Schauspielerin als das arme Würstchen, das Ill nun mal ist, dann drückt sie das Mikrofon von sich weg. Siegessicher und knapp antwortet Claire Zachanassian: «Nun ist die Zukunft gekommen.»

Jetzt ist sie also da, die Zukunft, von der man noch vor wenigen Monaten nicht wusste, ob sie so statt­finden kann wie an diesem Probentag im September: mit einem Frühherbst, der endlich wieder offene Tore fürs Publikum bringt. Und in dem Nicolas Stemann am Ort der Uraufführung den «Besuch der alten Dame» inszeniert, ein Stück, das nicht nur fragt, wie weit Menschen gehen können aus Gier. Sondern das auch eine der berühmtesten Opfer-Täter-Umkehrungen der Theater­geschichte verhandelt.

Im Juni hat die Republik Nicolas Stemann noch draussen getroffen, passend zur Jahres- und Pandemiezeit an der frischen Luft auf einem Schiff auf dem Zürichsee. Stemanns Rettung für die Zeit, in der das Schauspielhaus die Türen schliessen musste, war die Idee der «Corona-Passionsspiele». Mit diesem Gesangs­zyklus machten Stemann und ein Teil des Ensembles aus der Not der geschlossenen Theater während der Zeit der Pandemie eine Tugend: Wer ein Instrument spielen konnte, Freude am Singen hatte oder sonst irgendeine Idee, der durfte mitmachen.

Stemann schrieb sich in den Songs die Absurdität der Corona-Monate von der Seele; in Country-, Charleston- oder Bossa-Nova-Rhythmen fanden Verse über bedrohte Existenzen, Kapitalismus und einsame Alte ein Ventil: Was sich angestaut hatte über die Monate der Unsicherheit, das durfte raus.

Als ich ihn treffe, ist Stemann nicht sicher, ob die Inszenierung der «alten Dame» stattfinden können wird wie geplant. Oder ob man doch wieder verschieben muss, es wäre ja nicht das erste Mal.

«Wir haben hier am Schauspiel­haus gerade erst angefangen, als die Pandemie kam. Ein Ensemble zusammen­zuhalten, das sich erst so kurze Zeit kannte, war überhaupt nicht einfach.» Es habe Leute gegeben, die auf einmal fünfmal so viel arbeiten mussten wie sonst, während andere gar nichts mehr machen durften. «Beides war anstrengend», erzählt Stemann. «Für Schauspieler ist es fatal, nicht spielen zu dürfen.»

Er stellt die Frage, die im Laufe dieser Recherche immer wieder zu hören ist: «Wer weiss, was diesen Winter passiert? War das nur ein Sommerloch?»

Ende August, in der heissen Probephase, erwische ich Stemanns Co-Intendanten Benjamin von Blomberg und die leitende Dramaturgin Katinka Deecke für ein Zoom-Gespräch. Auch von Blomberg sagt, ihn würde es nicht wundern, wenn man im nächsten Jahr am Schauspiel­haus einen Publikums­schwund hätte und alle sich erst mal wieder sortieren müssten.

«Manchmal denke ich: O Gott, interessiert sich überhaupt noch jemand für Theater?»

Ich frage von Blomberg und Deecke, was sie von der These Thomas Schmidts halten, dass erst ab einer Dreier­spitze die Macht wirklich aufgebrochen werden könne.

Die leitende Dramaturgin sagt, die beiden Intendanten könnten zwar Dinge entscheiden, die sie selbst nicht entscheiden könne. Dennoch habe sie das Gefühl, dass ihr Wort auch Gewicht habe. Benjamin von Blomberg nickt: «Es muss ein Vertrauens­verhältnis da sein, sonst behindert man sich untereinander, egal ob das eine Zweier-, Dreier- oder Fünf­fachspitze ist.»

Sind auch sie genervt von der Debatte? Wollen sie nicht auch lieber wieder über Inhalte sprechen?

Von Blomberg schüttelt so vehement den Kopf, dass seine Nase rechts und links aus dem Bildschirm verschwindet.

«Das lässt sich längst nicht mehr trennen. Und das ist gut so. Es stimmt nicht, dass Kunst durch diese Debatten langweiliger wird oder uninteressanter. Es ist wichtig, dass eine Gesellschaft über ihre Privilegien reflektiert und sich fragt, wie ausschliessend sie eigentlich war.»

Gleichzeitig könnten am Schauspielhaus Konflikte zu den Themen Macht, Rassismus, Gender genauso explodieren wie überall sonst, vielleicht sogar noch mehr, sagt von Blomberg, «gerade weil wir uns auf den Weg gemacht haben».

Auch Machtmissbrauch sei am Schauspiel­haus schon vorgekommen, natürlich, sagt die leitende Dramaturgin Katinka Deecke: «Es gibt Situationen, da holen wir uns Hilfe von aussen, in anderen Fällen suchen wir selbst das Gespräch und versuchen, klare Grenzen zu definieren, was bei uns geht und was nicht.» Das zu schaffen, ohne zu massregeln, sei schwer.

Benjamin von Blomberg nickt. «Es ist verrückt, wie sehr man davon überzeugt ist, man wisse, wie das geht. Und das stimmt nicht.»

Ich begegne hier seit 16 Jahren eigentlich nur neugierigen und respekt­vollen Menschen, die ihre Träume umsetzen wollen. Aber es gibt Häuser, die sind grösser, und da ist das dann automatisch distanzierter. Kälter.

Franziska Ambühl, Leiterin der Abteilung Kostüm und Maske, Bühnen Bern.

VI. Hosen

Die Idee, Macht zu verteilen, hat das Theater Basel auf die Spitze getrieben, zumindest auf dem Papier. Seit dem 1. Juni 2021, heisst es in einer Mitteilung, wird das Theater von einer neu strukturierten Leitung geführt. Die operative Leitung besteht nun aus 16 Personen.

16 Personen.

Waren Sie schon mal mit mehr als zwei Erwachsenen im Urlaub und haben versucht, eine gemeinsame Entscheidung für die Planung des Nachmittags zu treffen?

Jetzt stellen Sie sich die gleiche Situation vor, aber mit 15 anderen Personen.

Und jetzt stellen Sie sich vor, mit diesen 15 Personen Theater machen zu wollen.

Intendant Benedikt von Peter nennt die Aufgabe im Gespräch selbst «herkulisch». Er betont aber, dass so viele Leute zusammen­kämen, sei dem Mehrsparten­haus geschuldet – im Tanz­theater gebe es eine Doppel­spitze, auch beim Orchester, die Schauspiel­sparte werde von vier Leuten geleitet, und so weiter und so fort.

Es ist Mitte August und wir sitzen mit der Leiterin der Schauspiel­sparte Anja Dirks und dem Personal­leiter Christoph Adam im Büro des Intendanten am Theater Basel. Draussen tönt die Baustelle, die sich gerade um das ganze Gebäude herum­windet wie eine Schling­pflanze. Das Haus wird generalsaniert, und das Theater Basel lebt in einer Ansammlung von Containern. Aus irgendeinem Grund setzt beinahe immer der Pressluft­hammer ein, wenn Anja Dirks etwas sagen will. Aber sie spricht dann einfach noch lauter.

Wer entscheidet, wer in der Corona-Zeit wieder ins Theater darf, zum Beispiel? Wer über Gagen? Oder ist das alles doch nur eine 16er-Spitze auf Papier (auf dem auch steht, dass der Intendant die Letzt­verantwortung trägt)?

Anja Dirks erzählt von Coachings, die sie gemeinsam mit dem Schauspiel­ensemble besucht hat: «Wie trifft man zu vierzigst eine Entscheidung? Wie kommt man in Arbeits­gruppen zu Ergebnissen?» Wo Autorität wegfällt, sagt Dirks, müssen Regeln her, die diszipliniert eingehalten werden. Und bevor ich Einwände einbringen kann, sagt sie: «Wir kleben nicht an einem Manifest dran. Wir arbeiten uns von innen nach aussen.»

In Basel läuft tatsächlich ein Versuch, der in dieser Form einzigartig sein dürfte in der Schweiz: Das Ensemble wird in den Entscheidungs­prozess mit­einbezogen, welche Regisseurinnen verpflichtet werden und welche Stücke aufgeführt werden. Das Stück «Die Physiker» von Friedrich Dürrenmatt, das die Spielzeit eröffnet, wird in einer Ensemble­regie auf die Bühne gebracht: Alle, die daran mitarbeiten, sind an der Regie­führung beteiligt. Es ist einer der wenigen Versuche, Macht­strukturen auch von unten, also von der Riege der Mitarbeiter her, aufzubrechen. Nicht nur von oben.

Lohngleichheit wird auch in Basel als Hebel gegen Macht­instrumente gesehen, hat aber ihre Grenzen. Seit August 2020 werden die Ensemble­mitglieder zumindest in der Schauspiel­branche nach Alter bezahlt. Das bringe eine grosse Ruhe in die Arbeit, sagt Dirks, «denn natürlich sprechen auch Schau­spielerinnen miteinander darüber, was der jeweils andere verdient».

Für die anderen Sparten gibt es ein solches Modell noch nicht. Von Peter verweist auf den internationalen Markt zum Beispiel am Musik­theater: «Wir können Gagen von Opernstars zwar deckeln. Aber wir müssen international weiter mithalten können.»

Aber wie ist es mit sexuellen Übergriffen, Macht­missbrauch, Mobbing? Christoph Adam, der Personal­leiter, verweist auf zwei Vertrauens­personen, die das Haus seit acht Jahren beschäftige, zu denen die Mitarbeiterinnen gehen können. Als ich frage, ob die gebraucht würden, antwortet er schnell und ernst mit «Ja».

Benedikt von Peter erzählt, wenn man als Intendant neu an ein Haus komme, traue man sich nicht, überall ranzugehen. «Es gibt Dinge, die liegen ganz tief zwischen den Ritzen.» Das müsse nicht gleich sexueller Missbrauch sein. Es gebe andere Dinge, von denen man zunächst gar nicht glaube, wie viel Macht sie entfalten.

Von Peter setzt sich ans Fenster und steckt sich eine Zigarette an.

«Schlechte Planung zum Beispiel», sagt von Peter, «ist unheimlich machtvoll. Die Leute müssen wissen, was sie zu tun haben. Und sie müssen Zeit bekommen, diese Dinge sauber erledigen zu können.» Bei der Diskussion, die im Frühjahr in Deutschland geführt wurde, habe ihn erstaunt, mit was für einer Selbst­entblössung das Theater vorangehe. «Sexismus und Macht­missbrauch gibt es in jeder Branche, in der Wissenschaft, in der Politik, an Kranken­häusern. Und das Theater zieht wieder die Hosen runter.»

Diese ganzen Themen, Macht, Gender, Identitätspolitik, race, die wiegen so schwer und die sind so ein Scheiss-Sprengstoff. Wir sind da ganz schön am Rumstochern, finde ich. Manchmal durchaus konstruktiv, manchmal ein wenig hilflos. An manchen Tagen fehlt mir ein bisschen das Differenzierte in der Debatte, die Dialektik. Wir müssen doch auch Spiegel und Satiriker und Narren bleiben dürfen.

Alicia Aumüller, Ensemblemitglied am Schauspielhaus Zürich.

Epilog: Berührungen

Anfang September im Schauspielhaus in Zürich, im dunklen Pfauensaal, bei der Probe für den «Besuch der alten Dame». Der Schauspieler Sebastian Rudolph tritt langsam auf die Bühne, um seine Kollegin von ihrem Zwiegespräch zu erlösen. Er nimmt Patrycia Ziółkowskas weissen Arm in seine Hände, hebt ihn an und streckt ihn aus. Dann beginnt er, ihn abzuküssen. Fast zuckt man als Zuschauerin zusammen: Eine Berührung auf der Bühne, und dann auch noch mit Spucke.

Aber, erklärt Claire Zachanassian, als hätte Dürrenmatt schon an Corona gedacht, ist ja eh nur ein künstlicher Arm.

Alfred Ill sieht sich erschrocken den Arm an, den er eben noch liebkost hat. Ob denn alles an ihr Prothese sei, fragt er.

Claire Zachanassian erzählt von ihrem Flugzeug­absturz in Afghanistan. Als Einzige sei sie aus den Trümmern gekrochen.

Fast zu gut passt Claire Zachanassians Bericht zum Zustand des Theaters, das in diesen Tagen nach Monaten der zähen Ungewissheit seine Wieder­geburt erlebt: begraben, rausgekrochen, auferstanden. Zugleich dient ihre Erzählung als Metapher für eine Reaktion auf das Ungleich­gewicht, das überall auftreten kann, wo zwei Menschen einander gegenüber­stehen.

Dürrenmatt muss das Wort «Macht» im Stück nicht erwähnen, um klarzumachen, dass ihr Missbrauch sich früher oder später rächt.

Im Theatersaal in Zürich wirft sich die Schau­spielerin Bauch voran auf die Bühne, dass es nur so klatscht, Körper sucht Boden­kontakt, das hatte der Pfauen ja auch schon lang nicht mehr. Dann spuckt Patrycia Ziółkowska den Satz aus:

«Bin nicht umzubringen.»

Hinweis: In einer früheren Version schrieben wir, dass es im Sommer 2021 am Theaterhaus Gessnerallee in Zürich einen Neuzugang gegeben habe und dass diese Person zwei Jahre zuvor in der Auswahl­kommission gesessen habe, die Akanji und Hahn ins Haus holte. Richtig ist: Dieser Zugang erfolgte schon im Sommer 2020. Wir haben die Stelle angepasst.

Zur Lektüre

Thomas Schmidt: «Macht und Struktur im Theater. Asymmetrien der Macht». Springer Fachmedien, Wiesbaden 2019. 444 Seiten, ca. 75 Franken.

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