Auf dem Feldherrenhügel: Taliban-Kämpfer posieren neben einer Strasse in Kabul für ein Foto. Karim Sahib/AFP/Getty Images

«Ohne Pakistan wäre der Sieg der Taliban nie möglich gewesen»

Ahmed Rashid war in den Siebzigern Guerillakämpfer gegen die pakistanische Militärdiktatur. Dann wurde er Journalist und schliesslich einer der renommiertesten Kenner der Taliban. Ein geopolitischer Blick auf die aktuelle Lage in Afghanistan.

Ein Interview von Karlos Zurutuza, 16.09.2021

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Überzeugen Sie sich selber: Lesen Sie 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich Probe:

Zwanzig Jahre nach ihrem Sturz sind die Taliban zurück. Wie konnte das passieren? Welche Akteure spielen welche Rolle bei den jüngsten Ereignissen, die offenbar niemand voraus­gesehen hat? Was machen Pakistan und China in diesem Konflikt? Und wie reagiert das schiitische Iran auf die Macht­ergreifung der sunnitischen Extremisten im Nachbarland?

Ahmed Rashid ist ein Mann, der auf diese Fragen Antworten hat.

Der Journalist, 1948 im pakistanischen Rawalpindi geboren, gilt in seinem Heimatland als der profilierteste Experte für Aussen­politik und religiösen Extremismus in Zentral­asien. In den Siebzigern kämpfte Rashid als Angehöriger einer Guerilla selbst zehn Jahre lang in den Bergen der pakistanischen Provinz Belutschistan – für die Unabhängigkeit der Provinz und später gegen die islamistische Militär­diktatur. Dann widmete er sich dem Schreiben und wurde Journalist.

Ahmed Rashid ist Autor unzähliger Artikel und einer Reihe von Büchern über die Fragen, die uns heute umtreiben. Sein Werk «Taliban. Militant Islam, Oil and Fundamentalism in Central Asia» (dt. «Taliban. Afghanistans Gottes­krieger und der Dschihad») stand 2001 wochenlang an der Spitze der Bestseller­liste der «New York Times», wurde in Dutzende Sprachen übersetzt und verkaufte sich millionenfach. 2002 war Rashid der erste Journalist, der eingeladen war, vor der Uno-General­versammlung zu sprechen. 2012 erschien von ihm «Am Abgrund. Pakistan, Afghanistan und der Westen».

«Afghanistan braucht dringend humanitäre Hilfe. Die Leute werden sonst verhungern»: Ahmed Rashid. eero/vabamƒgi/imago

Ahmed Rashid, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit den Taliban. Warum konnten diese in nur wenigen Wochen Afghanistan übernehmen? Hat man ihre Stärke unterschätzt?
Der Abzug der Amerikaner war überstürzt. Es ist Joe Biden, der die Schuld trägt für das, was sich in den vergangenen Wochen abgespielt hat. Ich widerspreche seiner Argumentation, dass die afghanischen Soldaten einfach aufgaben, dass sie keine Lust mehr hatten zu kämpfen. Washington hätte den Abzug zwingend anders gestalten müssen, langsamer, hätte ihn über Monate sauber vollziehen müssen. Mit dem Abzug über Nacht haben die Amerikaner die Moral der afghanischen Armee komplett zerstört.

Was hat sich da abgespielt?
Wenn die Amerikaner und die regierende Elite gleichzeitig das Land verlassen: Wofür soll man kämpfen? Warum soll man sterben, während sich die eigenen Leute und die Verbündeten überstürzt aus dem Staub machen? Die afghanische Armee realisierte, dass jeglicher Nachschub auf einen Schlag gestoppt worden war, dass es keine medizinischen Hilfsflüge mehr gab, keine Evakuierungen, keine unterstützenden Luftschläge. Die Amerikaner haben Afghanistan ohne Ankündigung im Stich gelassen. Über Nacht. Sie haben wortwörtlich über Nacht den Stecker gezogen. Es wurden viele Fehler gemacht, aber der aller­grösste war, dass man über Nacht verschwunden ist.

Im Februar 2020, unter dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump, scheiterten Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban. Eine Vorstufe zu dem, was nun passiert ist. Was lief damals schief?
Zuerst einmal: Das waren keine Verhandlungen. Es war ein Geschenk. Die Trump-Administration hat den Taliban einfach den ganzen Laden in die Hände gedrückt – ohne etwas dafür einzufordern. Die Taliban kriegten alle ihre Gefangenen zurück, und Kabul bekam gar nichts.

Der Deal mit Trump: Im April 2020 werden inhaftierte Taliban aus dem Gefängnis entlassen. Afghan National Security Council/Anadolu Agency/Getty Images

Aber warum?
Trump ging es einzig darum, die Verhandlungen so schnell wie möglich durchzudrücken. Und zwar mit Blick auf die Wahlen im November. In der Regierung gab es niemanden, der ihn kontrollierte, der ihn stoppte. Wenn man pokert, hält man seine Karten in den Händen. Man schmeisst nicht zu Beginn der Partie alle Karten auf den Tisch. Aber das ist es, was Trump getan hat. Er hat veranlasst, alle 5000 Taliban-Gefangenen freizulassen. Wenn man gleich zu Beginn verspricht, alle Gefangenen auf einen Schlag freizulassen, welchen Trumpf hat man dann noch in der Hand? Die Amerikaner waren nicht interessiert, Einigkeit in der Region herzustellen. Man hat es verpasst, die Uno in die Verhandlungen einzubeziehen oder auszuhandeln, dass Länder in der Region keine Taliban beherbergen, die nicht gewillt sind, nach Kabul zu den Verhandlungen zu kommen. Denn das ist ein wichtiger Punkt: Dass angrenzende Länder wie Pakistan die Taliban beherbergen und schützen, war letztlich eine Macht­demonstration gegenüber den USA.

Die Regierung in Kabul galt in Afghanistan als höchst korrupt. Spielte auch das eine Rolle, dass die Taliban so schnell vorrücken konnten?
Die afghanische Regierung war beispielhaft für zügellose Korruption, Begünstigung, Vettern­wirtschaft. Sie genoss in der Bevölkerung kein Vertrauen. Die Wahlen waren in Afghanistan immer manipuliert. Hamid Karzai und Ashraf Ghani, die nach der US-Invasion vor zwanzig Jahren als afghanische Präsidenten amteten, taten nicht nur nichts gegen die Korruption, sie waren ein Teil von ihr, sie beförderten sie. Karzai und Ghani haben es verpasst, die Afghaninnen und Afghanen zu einen, bis beide schliesslich in einer Position waren, wo ihnen niemand mehr getraut hat. Die Taliban waren sich dieser Schwäche bewusst und nutzten sie schliesslich aus.

Jetzt sind die Taliban zurück an der Macht. Sprechen wir von denselben Taliban wie vor dreissig Jahren?
Wenn wir einen Blick auf das neue Kabinett werfen, sehen wir eine ganze Reihe von Leuten in führenden Positionen, die schon 1996 in solchen Positionen sassen. Ich denke, das sagt einiges darüber aus, wo die Taliban heute stehen. Vier weitere Männer, die jetzt in der Regierung sitzen, gehörten dem berüchtigten Haqqani-Netzwerk an, einer Terror­gruppe, die mit Bomben­anschlägen Hunderte Menschen ermordet hat. Sagen wir es so: Das ist kein ideales Kabinett, um eine schnelle internationale Anerkennung zu erhalten, was die Taliban anstreben. Denn auch ihnen ist bewusst, dass das Land vor einer riesigen Katastrophe steht: Afghanistan braucht dringend Nahrungs­mittel, humanitäre Hilfe. Die Leute werden sonst verhungern.

Lagebesprechung: Mawlawi Shaker (links), neuer Chef des Polizeidistrikts 10 in Kabul, bespricht den Tag. Marcus Yam/Los Angeles Times/Getty Images
Kontrollposten: Taliban-Kämpfer in der Nacht an einer Strassenkreuzung in Kabul. Marcus Yam/Los Angeles Times/Getty Image

Warum dann eine solche Regierungs­bildung?
Diese Regierung ist zuerst einmal ein gewaltiger Tritt ins Gesicht der Amerikaner: «Es interessiert uns nicht, was ihr sagt. Wir bestimmen selbst, wer in unserer Regierung sitzt; und wir werden das Land führen, wie es uns gefällt, ohne eure Einmischung.»

Die Taliban werden also wieder so regieren wie in den Neunziger­jahren?
Es gab einige oberflächliche Änderungen in den ersten Wochen: Sie sagten, Mädchen und Frauen sei es erlaubt, Schulen und Universitäten zu besuchen. Oder dass Frauen arbeiten könnten. Gleichzeitig tauchten die ersten Bilder auf, wie Frauen in der Öffentlichkeit von Taliban geschlagen werden. Die Taliban sind nicht ausgebildet im Umgang mit Frauen, mit Demonstrationen und Protesten. Dazu müssten sie dringend ihre Leute schulen. Aber das tun sie nicht. Und deswegen wird sich die Geschichte wiederholen. Vor dem 11. September 2001, als die Taliban an der Macht waren, gab es in Afghanistan keine Dienst­leistungen, es gab kein Essen und keine Elektrizität. Die Regierung kollabierte. Jetzt mögen die Taliban zwar militärisch besser ausgerüstet sein, aber sie haben nach wie vor keine Ahnung, wie man eine Regierung führt, eine Verwaltung, wie man ein Land unterhält.

Was erwartet die Frauen in Afghanistan?
So schlimm wie in den Neunzigern, wo Frauen komplett aus der Öffentlich­keit verbannt waren, wird es vermutlich nicht mehr werden. Scheinbar, wie gesagt, soll es ihnen erlaubt sein, zu arbeiten, zur Schule zu gehen und womöglich sogar zu studieren. Aber die Taliban werden niemals zulassen, dass Frauen in wichtige Funktionen kommen. Und es ist völlig unklar, was mit all den Beamtinnen passiert, den Frauen in der Verwaltung, den Polizistinnen, den Frauen in der Armee. Das ist im Moment völlig in der Schwebe. Und das sind Fragen, die dringend eine Antwort erfordern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Frauen weiter arbeiten können. Geschweige denn, dass Frauen weiterhin Provinzen oder Städte regieren. Es ist unvorstellbar, dass es unter den Taliban Sitzungen eines Kabinetts geben könnte, wo Männer und Frauen zusammensitzen.

Waffen gegen Worte: Taliban versuchen in Kabul, eine Demonstration gegen die neue Regierung zu stoppen. Marcus Yam/Los Angeles Times/Getty Images

In einem Land mit einer solchen ethnischen Vielfalt wie Afghanistan: Was haben andere Gruppen, religiöse und ethnische Minder­heiten, von der neuen Regierung zu erwarten?
Sie werden schrecklich leiden. Das ist die Realität. Es wird keine kulturelle Freiheit geben unter den Taliban. Keine Anerkennung irgendwelcher Art. Keine Religions­freiheit. Nichts. Jede und jeder wird gezwungen sein, der von den Taliban verhängten Scharia zu folgen.

Sie sehen wenig Hoffnung?
Man muss leider das Schlimmste befürchten.

Während die USA aus Afghanistan türmten, landete am 4. September General Faiz Hameed, Chef des mächtigen pakistanischen Geheim­dienstes ISI, in Kabul. Als eine Journalistin Hameed fragte, was seiner Ansicht nach nun in Afghanistan passieren werde, sagte der mit einem schaurigen Lächeln: «Machen Sie sich keine Sorgen. Alles wird gut.» Welche Rolle spielt Pakistan in Afghanistan?
Die Taliban haben immer profitiert von Pakistan als Zufluchtsort. Ein solcher Rückzugsort ist in einem Guerilla­krieg von höchster Bedeutung und überlebens­wichtig: Man kann dich nicht besiegen, denn du bist gar nicht hier, um besiegt werden zu können. Du bist in einem anderen Land. Die Regierung in Islamabad hat bis heute nicht darauf bestanden, dass die Taliban und ihre Familien ihre sicheren Häfen in den Städten Quetta und Peshawar verlassen. Es ist sehr interessant zu beobachten, dass bis heute viele Taliban noch nicht nach Kabul zurück­gekehrt sind. Sie sitzen nach wie vor in Quetta und Peshawar, und es gibt von pakistanischer Seite keinerlei Druck, dass sich das ändert, obwohl sie ja nun ihr eigenes Land und ihre eigene Regierung haben.

Ein Afghane macht im Exil in Indien klar, was er vom pakistanischen Geheimdienstchef Faiz Hameed hält. Mayank Makhija/NurPhoto/Getty Images

Kann man von Pakistan wenigstens humanitäre Hilfe erwarten?
Es ist offensichtlich, dass die Taliban abhängig sind von Pakistan. Aber es ist ebenso ein Fakt, dass Pakistan bankrott ist und keinerlei Geld hat, die Taliban auf diese Weise zu unterstützen.

Paradoxerweise haben die USA seit 2002 Milliarden von Dollar an militärischer, humanitärer und wirtschaftlicher Hilfe nach Pakistan überwiesen. Dasselbe Pakistan, das den Taliban Schutz bietet. Wie geht das zusammen?
Die Amerikaner halfen Pervez Musharraf, der von 2001 bis 2008 pakistanischer Präsident war. Einerseits unterstützte er den Drohnen­krieg der Amerikaner, indem er ihnen pakistanische Stütz­punkte zur Verfügung stellte. Andererseits unterstützte er die Taliban. Schauen Sie: 2002 waren die Taliban komplett besiegt. In den folgenden zwei Jahren gab es erhebliche Fortschritte in Bezug auf Bildung und Wieder­aufbau. Aber dann haben die Amerikaner Afghanistan einfach im Stich gelassen, haben einen neuen Fokus gesetzt und einen neuen Krieg vom Zaun gebrochen, jenen gegen den Irak. Und das war von all ihren grossen Fehlern der allergrösste. Die Taliban erhielten die Möglichkeit, sich neu zu formieren. Und das wäre nie möglich gewesen ohne Unterstützung Pakistans.

Aber warum fuhr Pakistan eine solche paradoxe Strategie?
Weil man in der Klemme sitzt: Zu den geostrategischen Top-Prioritäten Pakistans gehört, dass die Regierung in Kabul propakistanisch ist, am besten von Pakistan abhängig ist. Das hat für Pakistan absolute Priorität. Und dazu brauchen sie die Taliban, denn die Mehrheit der Afghanen sind keine Taliban, sondern Nationalisten, die sich gegen jegliche Einfluss­nahme Pakistans und dessen Geheim­dienstes ISI wehren.

Die Mehrheit der Afghanen will mit Pakistan nichts zu tun haben?
Nein. Dazu muss man die Idee des afghanischen Nationalismus verstehen, der auch eine Abgrenzung zu den Taliban ist.

Erklären Sie.
Die Idee des afghanischen Nationalismus basiert darauf, dass sich alle ethnischen Gruppen als Afghanen bezeichnen. Schlicht und einfach. Während der sowjetischen Besatzung gab es zum Beispiel den gross angelegten Versuch, den Norden und den Süden Afghanistans aufzuteilen. Der Norden sollte der Sowjetunion zufallen, der Süden hätte tun können, was immer ihm beliebte. Das war die Idee. Die Idee scheiterte, weil niemand in Afghanistan das wollte, auch nicht jene, die womöglich davon profitiert hätten. Noch nicht einmal Abdul Rashid Dostom, damals ein einflussreicher usbekischer Warlord und späterer Vizepräsident der Republik. Dostom kontrollierte im Norden ein riesiges usbekisches Gebiet, und er hätte das Gebiet womöglich sogar für unabhängig erklären können. Aber der afghanische Nationalismus ist eine starke Kraft, die das Land zusammenhält. Auch Ahmed Shah Massud, der ehemalige Anführer der Nordallianz und ein Tadschike, war stolzer Afghane.

Was ist mit der schiitischen Minderheit der Hazara?
Die Hazara sind in den Neunziger­jahren von den Taliban massakriert worden. Aber sie wollen nicht weg. Sie wollen stattdessen eigene Milizen bilden, indem sie jene Kämpferinnen reintegrieren, die aus Syrien zurück­kommen, wo sie an der Seite des Regimes und des Iran gekämpft haben. Diese Kämpfer sind gut ausgerüstet mit Waffen, trainiert und gut ausgebildet, und sie werden mit grosser Wahrscheinlichkeit eine sehr militante neue Kraft werden im neuen Afghanistan.

Es gibt also Aussichten auf einen neuen Bürgerkrieg?
Die Taliban werden niemals in der Lage sein, Afghanistan zu einen. Wegen ihres Glaubens. Denn die Taliban sind keine afghanischen Nationalisten. Ihr religiöser Glaube ist ein Import aus Saudi­arabien und Pakistan. Die Afghaninnen selbst sind die Antipoden jenes Extremismus, der von diesen Bewegungen gepredigt wird.

In Afghanistan und in Pakistan leben Millionen Paschtunen. Seit einigen Jahren drohen in Pakistan die Spannungen zwischen der pakistanischen Armee, pakistanischen Taliban und den dortigen Paschtunen zu eskalieren. Droht auch in Pakistan selbst eine bürgerkriegs­ähnliche Eskalation?
Die paschtunische Tahafuz-Bewegung ist keine religiöse Bewegung und auch keine extremistisch-nationalistische Bewegung. Ihr Ziel ist Frieden entlang der Grenze zu Afghanistan und Frieden in Pakistan. Diese Bewegung wird von sehr jungen Leuten geführt, und das pakistanische Militär hat ihnen inzwischen den Krieg erklärt. Ein unglaublich fataler und stupider Zug. Diese neue Generation von Paschtunen will einen modernen paschtunischen Staat, und sie will vor allem Frieden in Afghanistan und in den Stammes­gebieten. Und natürlich sind sie Gegenspieler der Taliban. Die Armee verhaftet diese Leute reihenweise, ohne überhaupt zu hören, was sie zu sagen haben. Zahlreiche Anführer der Bewegung, darunter Mitglieder des Parlaments, sitzen im Gefängnis. Das ist pakistanische Selbst­zerstörung. Wenn es aus geostrategischen Gründen im eigenen Land keinen Platz gibt für eine grosse, moderate Bewegung, befördert das weiteren Extremismus. Aber das ist die Art, wie Pakistan diese Dinge angeht: 20 Millionen Paschtunen, 5 Millionen Belutschen: Ihre Stimmen werden nicht gehört. Die Regierung verweigert den Dialog mit moderaten, respektierten Kräften.

Freiheit für Manzoor Pashteen: In Karachi protestieren Unterstützer des in Pakistan verhafteten Menschenrechts­aktivisten der Paschtunen. Asif Hassan/AFP/Getty

Die Taliban sind auf Islamabad angewiesen. Pakistan wiederum scheint aus wirtschaftlichen Gründen auf Peking angewiesen zu sein, das sich momentan stark einbringt. Welche Interessen hat Peking?
China möchte, dass Afghanistan in der neuen Seiden­strasse Teil seines transnationalen Wirtschafts­geflechts wird. Aber dazu braucht China Frieden in Afghanistan. Sonst funktioniert das nicht. Dabei geht es auch um Ressourcen, die abgebaut werden sollen: Lithium, Marmor, Kohle. Die Chinesen liefern derzeit massiv Hilfe, was den Menschen in Afghanistan zugutekommt. Womöglich ist diese Hilfe auch ein Ersatz für das, was die Taliban eigentlich von Pakistan erwartet hätten. Es scheint viel Koordination zu geben zwischen Peking und Islamabad, was die Hilfe vor Ort in Kabul angeht. Ob der erhoffte und benötigte Frieden unter den Taliban jemals möglich sein wird, bezweifle ich. China wird auf jeden Fall nicht auf Afghanistan setzen, solange sich der Staub nicht verzogen hat.

Es geht China vor allem um wirtschaftliche Interessen?
Peking hat bereits Verträge aufgesetzt für den Bau von Kupfer- und Eisenminen und noch für andere Dinge. Sie wollen dieses Kapital offensichtlich so schnell wie möglich abbauen, deswegen werden wir in nächster Zeit vermutlich erhebliches chinesisches Engagement für eine Stabilisierung der afghanischen Regierung sehen. Aber wie viel ist China wirklich bereit zu geben? Sie wollen schliesslich Kapital daraus schlagen und nicht draufzahlen. Aber was die Taliban brauchen, um überhaupt über Stabilität nachdenken zu können, sind Unmengen Nahrungs­mittel, grundsätzliche Dienste wie Trinkwasser und Elektrizität. Wird China all das liefern? Im Moment sind wir auf jeden Fall weit von einem Afghanistan entfernt, in dem chinesische Projekte Erfolg versprechend sein könnten.

Haben Sie ein Beispiel für ein solches Projekt?
Wenn China zum Beispiel eine Pipeline bauen will von Xinjiang durch die von Paschtunen bewohnten Gebiete in Afghanistan, quer durch die von Pakistan kontrollierte Provinz Belutschistan, wo der Frieden extrem brüchig ist: Wie soll das funktionieren ohne stabile Friedens­schlüsse im ganzen Gebiet? Eine Pipeline kann man ziemlich leicht in die Luft jagen.

Kann China überhaupt überzeugend auftreten in der Region? Ist die Unter­drückung der Uiguren, Chinas muslimischer Minderheit, keine Bürde für wirtschaftliche Deals mit den Taliban und Pakistan?
Eine Taliban-Delegation ist Ende Juli nach Tianjin gereist und hat sich mit Chinas Aussen­minister getroffen. Dieser versprach ihnen wirtschaftliche Hilfe, solange die Angelegenheit mit den Uiguren nicht angesprochen würde. Die Taliban waren einverstanden und sagten, es bestünde kein Konflikt zwischen ihnen und China wegen dieser Sache. Peking hat damit von den Taliban bekommen, was sie wollten: das Versprechen, dass die Taliban den Widerstand der Uiguren nicht unterstützen.

Es gibt noch einen weiteren Akteur in der Region: Der Iran war nie glücklich über die amerikanische Präsenz. Wird es denn für das Land jetzt besser, wo die Amerikaner abgezogen sind?
Teheran ist mit den Taliban verfeindet und wird versuchen, die Hazara zu schützen, zu unterstützen und aufzurüsten. Die Hazara sind wie die Iraner Schiiten, während die Taliban Sunniten sind. Gleichzeitig muss der Iran die lange östliche Grenze zu Afghanistan schützen, und deswegen braucht es auch irgendein Abkommen mit den Taliban. Bereits in der Vergangenheit hatte der Iran eine Taliban-Sektion mit Hilfe vor Ort unterstützt, und zwar jene Taliban, die in der Provinz Herat aktiv waren, dem direkten Grenzgebiet. Ich bin sicher, die Iraner werden pragmatisch sein. Deswegen glaube ich nicht, dass die Taliban mit dem Iran erhebliche Probleme haben werden, denn die Iranerinnen müssen irgendwie mit ihnen auskommen.

Die Lage ist unfassbar kompliziert.
Ja. Und vielschichtig. Die Iraner können sich einen neuen Konflikt an ihrer östlichen Grenze gar nicht leisten mit all den übrigen Konflikten im Mittleren Osten und der Bedrohung durch die Saudis und die Arabischen Emirate.

Wenn wir einen Schritt zurück machen in Ihr Heimatland, das Auftauchen des pakistanischen Geheimdienst­chefs in Kabul, das in Afghanistan regelrechte Protest­stürme ausgelöst hat: Kann denn diese Unter­stützung für die Taliban und der schwelende Konflikt mit den eigenen Minderheiten im Land nicht auf Pakistan zurückfallen?
Es fällt schon jetzt auf Pakistan zurück. Und zwar erheblich.

Wie meinen Sie das?
Pakistan hat Kabul dazu aufgefordert, die pakistanischen Taliban zu zwingen, mit ihren Angriffen auf pakistanische Armee­posten aufzuhören. Das ist bis heute nicht passiert. Als der Sprecher der afghanischen Taliban kürzlich gefragt wurde, was man betreffend die pakistanischen Taliban zu tun gedenke, sagte er, das sei Pakistans Problem und nicht das Problem Kabuls. Was ein Witz ist, denn während der Rückzugsort für die afghanischen Taliban Pakistan ist, so verhält es sich bei den pakistanischen Taliban genau umgekehrt: Viele leben in Afghanistan.

Um das Durcheinander auf die Spitze zu treiben: Der Islamische Staat und die Taliban sind trotz vieler Gemeinsam­keiten ebenfalls verfeindet. Stellt der Islamische Staat, der im pakistanischen Grenz­gebiet sehr aktiv ist, eine ernsthafte Bedrohung für die Taliban dar?
Sie verfügen nicht über die bewaffneten Kräfte, die Taliban auf dem Land, in den Regionen, anzugreifen. Aber der Islamische Staat war in den vergangenen Jahren verantwortlich für die blutigsten Terror­anschläge in den afghanischen Städten. Mit dieser Strategie sind sie eine reale Bedrohung für die neuen Macht­haber, und die Taliban werden gegenüber dem Islamischen Staat eine harte Linie fahren. Hinzu kommen die Konflikte innerhalb der Taliban sowie Konflikte mit anderen Gruppen und Fraktionen, den zentral­asiatischen und den pakistanischen Taliban, al-Qaida. Es ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar, mit welchen dieser Gruppen sich die Taliban arrangieren werden und mit welchen es zum bewaffneten Konflikt kommt.

Hinweis: In einer früheren Version hiess es in einer Interview-Antwort, die paschtunische Tahafuz-Bewegung sei eine religiöse Bewegung. Korrekt ist, dass es sich dabei um keine religiöse Bewegung handelt. Die entsprechende Stelle wurde korrigiert.

Zum Autor

Der baskische Journalist Karlos Zurutuza hat Ahmed Rashid in den letzten Jahren immer wieder interviewt. Zurutuzas Fokus liegt auf den Themen Menschen­rechte und bewaffnete Konflikte entlang des 33. Breitengrades von der Westsahara an der Atlantikküste bis ins pakistanische Belutschistan. Mehrere Jahre arbeitete er als freier Journalist in Libyen und in den kurdischen Gebieten in der Türkei, im Irak, Iran und in Syrien. Seine Texte erscheinen unter anderem bei al-Jazeera, Middle East Eye, «The Guardian» und der Deutschen Welle.

Sie sind sich immer noch nicht sicher, ob die Republik etwas für Sie ist? Dann testen Sie uns! Für 21 Tage, kostenlos und unverbindlich: