Die halbe Hauptstadt

Nach dem Umzug der deutschen Bundes­regierung von Bonn nach Berlin hat sich die ehemalige Hauptstadt grundsätzlich gewandelt. Oder nicht? Wie eine Stadt mit ihrem Erbe ringt.

Von Steve Przybilla (Text) und Christian Werner (Bilder), 13.09.2021

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Im Hotel Kanzler scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.
Selbst der Bundesadler krallt sich an der Vergangenheit fest.

Es gibt Momente, da ist Bonn noch so, wie man es sich vorstellt. Auf dem Peters­berg, dem Hügel deutscher Geschichte, lebt die alte Bundes­republik fort: Die schwarz-rot-goldene Fahne flattert im Wind, die beigegelben Mauern des 5-Sterne-Hotels Peters­berg leuchten in der Sonne.

Hier oben, mit Blick auf den Rhein, hat Konrad Adenauer nach dem Krieg mit den Alliierten verhandelt. Hier hat der sowjetische General­sekretär Leonid Breschnew einen Mercedes zu Schrott gefahren, den er als Staats­geschenk gerade erst erhalten hatte. Die Zukunft des Welt­klimas und von Afghanistan wurde hier schon verhandelt. Weltpolitik, alles auf einem Berg.

Existiert dieses Bonn noch?

Nun. Der Sicherheits­zaun: in die Jahre gekommen. Die Video­kameras: ausser Betrieb. Im Inneren des Hotels erinnert nicht mehr viel an die glorreiche Vergangenheit. Die Bar heisst «Nelson», das Restaurant «Bill’s», eine dezente Anspielung an frühere Staats­oberhäupter, die hier genächtigt haben. Selbst der erste deutsche Bundes­kanzler existiert nur noch als farben­frohes Gemälde, strategisch platziert im «Salon Konrad Adenauer», zwischen Kamin und Sitzgruppe.

«Bonn hat sich neu erfunden», sagt Raoul Hoelzle, Direktor des heutigen Grandhotels Peters­berg, das sich noch immer in Staats­besitz befindet, aber vom Steigenberger-Konzern betrieben wird. «Als Berlin Haupt­stadt wurde, hatten hier viele Angst, dass wir den langsamen Tod sterben.»

Es folgte ein radikaler Schnitt. Das Hotel wurde grund­legend renoviert. Alte Röhren­fernseher, Nachttisch­radios, Lampen – alles raus. Im Frühstücks­saal hängt noch ein historischer Teppich an der Wand. Hat darauf Adenauer gestanden? Der Hotel­direktor zuckt mit den Schultern. So ganz wisse man das nicht mehr. Die Vergangenheit, scheint es, spielt nur noch eine unter­geordnete Rolle.

Wie dem «Petersberg» ist es auch der Stadt ergangen.

Bonn, das war mal was. Die Botschaften. Der Bundestag. Die ganze politische Prominenz. Aber eben auch: ein Ort der Spiessigkeit. Noch heute pflastern die Beton­blöcke ehemaliger und aktueller Ministerien ganze Strassen­blocks, wie abgetretener Kaugummi, der irgendwann so hart ist, dass er nie wieder weggeht. Bonn ist zwar keine Haupt­stadt mehr, darf sich aber immer noch «Bundes­stadt» nennen. So prangt es stolz auf jedem Ortsschild.

Hat sie sich gewandelt – in eine Stadt des Wissens, der Kultur, der Inter­nationalität, wie Kommunal­politiker so gerne posaunen? Oder verharrt sie im Muff der 1980er-Jahre, vom Staat alimentiert mit gigantischen Summen, damit möglichst vieles so bleibt, wie es schon immer war?

Bonn will beides.

Das ist das Bonner Paradoxon.

Einerseits lebt die alte Bundes­republik am Rhein noch immer fort. 1’437’000’000 Euro hat der Bund als Entschädigung ausgezahlt, um Bonn den Wegfall des Hauptstadt­titels zu versüssen. Sechs Ministerien haben noch immer ihren Haupt­sitz hier. Jeden Tag pendeln Beamtinnen zwischen Rhein und Berliner Spree hin und her. Der Bund der Steuer­zahler hat einmal ausgerechnet, was dieser «geteilte Regierungs­sitz» eigentlich kostet: 20 Millionen Euro pro Jahr. «Gesetzlich geregelte Steuergeld­verschwendung», wie es der Verein formuliert. Auch fürs Klima ist diese Pendelei schädlich: 2019 flogen allein die Bediensteten des Bundes­umwelt­ministeriums 2600 Mal zwischen Berlin und Bonn hin und her.

Trotzdem plädieren Lokal- und Regional­politiker über Partei­grenzen hinweg für eine Beibehaltung des Status quo. Mehr noch: Am liebsten hätten sie einen neuen Vertrag, der den geteilten Regierungs­sitz für immer fortschreibt. Dass sich Dinge auch mal verändern, davon hält man hier eher wenig. Schon Konrad Adenauer, der erste deutsche Bundes­kanzler, liess den Slogan «Keine Experimente» auf seine Wahl­plakate drucken – ein nichts­sagender Spruch, der aber die Befindlichkeiten seiner Lands­leute auf den Punkt brachte.

Selbst Katja Dörner, seit 2020 die neue grüne Ober­bürger­meisterin, setzt sich vehement dafür ein, dass Bonn eine halbe Haupt­stadt bleibt. Als im Juni der Bonn-Berlin-Beschluss seinen 30. Jahres­tag feierte, mahnte sie schon mal vorsorglich, der Bund solle doch bitte «weiterhin zu seinen Zusagen stehen».

Ja, hier kann man eine Familie gründen: Blick über die Bonner Altstadt mit dem Rhein, dem Post-Tower und dem Langen Eugen (das linke Gebäude rechts oben).

In solchen Momenten wirkt Bonn ziemlich selbst­bewusst. Der einzige Schönheits­fehler: Die Stadt – oder besser gesagt: die Stadt­verwaltung – hat eigentlich gar keinen Grund dazu. Ein Blick in die jüngste Vergangenheit: Es reiht sich ein Desaster ans andere.

Beim Bau des neuen World Conference Center in den 2000er-Jahren liess sich die Stadt mit einem dubiosen süd­koreanischen Investor ein, der noch während der Bauphase pleiteging und später wegen zweifachen Betrugs und falscher eides­stattlicher Aussage zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Er hatte mit seiner Firma SMI Hyundai den Eindruck erweckt, dass er zum gleich­namigen Auto­konzern gehöre – tat er aber nicht.

In Wahrheit hatte der Investor so gut wie kein Eigen­kapital; die öffentliche Hand musste einspringen, die Schäden für die Stadt beliefen sich auf knapp 300 Millionen Euro. Erst kürzlich, im September 2020, verurteilte das Verwaltungs­gericht Köln die damalige Bonner Ober­bürger­meisterin Bärbel Dieck­mann zu einer Million Euro Schaden­ersatz. Der Vorwurf: Verletzung der Dienst­pflichten. Dieck­mann hatte nach Ansicht des Gerichts den Stadtrat nicht umfassend über die Risiken informiert, die der WCCB-Deal mit sich brachte.

Aus Fehlern lernen? Bonn stolpert seit Jahren vor sich her.

Gegenüber dem Haupt­bahnhof steht seit neuestem das «Urban Soul», ein modernes Einkaufs- und Geschäfts­gebäude. Die Stadt liess sich von den Investoren derart über den Tisch ziehen, dass vom Erlös des Grund­stücks am Ende kaum etwas übrig blieb. Am Ende passten nicht einmal die Roll­treppen, was aber dem Investor kaum anzulasten war: Die Stadt hatte die Bau­genehmigung so erteilt.

Und dann wäre da natürlich noch die Beethovenhalle.

Ludwig van Beethoven, «der bekannteste Sohn der Stadt», wie die Stadt auf ihrer Website frohlockt, steht hier als Büste in gefühlt jedem zweiten Fenster – jedenfalls in den Reichen­vierteln. Die Renovierung der gleich­namigen Konzert­halle entpuppt sich derzeit als nächstes Millionen­grab. Die aktuell geschätzten Kosten liegen bei 172 Millionen Euro – 100 Millionen mehr als ursprünglich gedacht.

Geldmässig spielt Bonn also wirklich mit den Metropolen Berlin und Hamburg in einer Liga. Wenn auch unfrei­willig.

Das Bonner Stadthaus hat auch schon bessere Zeiten gesehen.
Kanzler im «Kanzler»: Helmut Kohl war eng mit Bonn verbunden.

Wer jetzt noch denkt, Bonn könne sich all das wegen der üppigen Ausgleichs­zahlungen aus Berlin wohl leisten: Die Stadt ist seit Jahren derart verschuldet, dass die Bezirks­regierung jeden Haushalt neu genehmigen muss. Der Stadtrat kann also nicht allein sein Budget festlegen, sondern muss sich von der nächst­höheren politischen Instanz die Erlaubnis holen.

Berlins Motto hiess früher: «Arm, aber sexy». In Bonn würde man sich eher im Grabe umdrehen, als zu einem solch frivolen Spruch zu greifen. «Kleine Stadt, grosses Ego» würde es wohl besser treffen: Wer hinter die Beethoven-Büste schaut, entdeckt dann womöglich bröckelnden Putz, weil kein Geld für Renovierungen da ist.

Also ein hoffnungs­loser Fall?

Nicht ganz, denn hier kommt die andere Seite des Bonner Paradoxons.

Es ist, das muss man zugeben, eigentlich eine ganz hübsche Stadt zum Leben. Da ist der historische Markt­platz. Die kilometer­lange Rhein­promenade. Der riesige Kotten­forst, das Natur­schutz­gebiet ausserhalb der Stadt. Mit ihren Hofschaften und engen Gassen haben einige Quartiere fast etwas Dörfliches.

Ein Paradies der Spiessigkeit? Vielleicht. Aber sicher nicht der schlechteste Ort, um Kinder grosszuziehen.

Auch sonst steht Bonn nicht nur für Misswirtschaft, sondern an manchen Stellen durchaus für Erfolg. Nach dem Regierungs­umzug konnte die Stadt zwei Dax-Konzerne nach Bonn locken: DHL und Deutsche Telekom. Im ehemaligen Regierungs­viertel haben die Vereinten Nationen einen Sitz. Universität und Wirtschaft boomen, trotz Pandemie. Die Arbeitslosen­quote lag zuletzt bei 7,8 Prozent – immer noch schlechter als der deutsche Durch­schnitt (5,6 Prozent), aber ein stabiler Wert.

Selbst die Spiessigkeit in der Beamten- beziehungs­weise Bundes­stadt steht ernsthaft auf der Kippe. Im September 2020 wurde mit Katja Dörner eine Grüne zur Ober­bürger­meisterin gewählt. Ihre Ziele: mehr Radwege, höhere Park­gebühren, bessere Bus­verbindungen. Sogar das Wort «autofrei» nimmt sie in den Mund: So soll die Innen­stadt demnächst nur noch von öffentlichem Verkehr, Lieferantinnen, Anwohnern und mobilitäts­eingeschränkten Personen befahren werden.

Die konkrete Umsetzung geht bisher zwar nur in Mini­schritten voran – ab Spätsommer dürfen an einem kleinen Teil des Rhein­­­ufers keine Autos mehr fahren. Aber immerhin: In einer Stadt, in der Wohnungen noch immer damit beworben werden, dass sie «drei Auto­minuten von der Autobahn entfernt» liegen, kommen solche Pläne fast schon einer kleinen Revolution gleich.

«Noch vor fünf Jahren hätte ich mit dieser Forderung sehr viel Kopf­schütteln geerntet», räumte Dörner in einem Interview selbst ein. Aber auch in einer vermeintlichen Beamten­stadt ändere sich die Stimmung. «Die Verkehrs­wende ist eine zentrale Frage mit Blick auf den Klima­schutz. Da haben wir keine Zeit zu verschenken.» Bevor Dörner zur Ober­bürger­meisterin gewählt wurde, war sie stellvertretende Fraktions­vorsitzende der Grünen im Deutschen Bundes­tag. Warum wechselt man als Politikerin von der grossen Bundes­politik nach Bonn?

«Als Bonnerin war ich in den letzten Jahren viel in der Stadt unterwegs und habe gesehen, dass viele innovative Ideen nicht zum Tragen gekommen sind», antwortet die 45-Jährige. «Das möchte ich ändern.»

Eines steht also schon mal fest: So frisch die Ideen der Ober­bürger­meisterin auch sein mögen, ihre Wort­wahl ist – höflich formuliert – routiniert.

Natürlich dauerte es trotzdem nicht lange, bis die Einzel­händlerinnen hier in Schnapp­atmung verfielen und den (autofreien) Tod der Innen­stadt prognostizierten. Dennoch ist der Wunsch nach Veränderung unübersehbar. Die vielen «Fridays for Future»-Demos. Die Mauern der Villen am Rhein, die immer wieder mit politischen Parolen («Grenzen töten») besprüht, übermalt und anschliessend wieder besprüht werden («Grenzen töten immer noch»).

Herbstliche Impression aus dem einstigen Botschaftsviertel.

Selbst Gangster-Rapper wie Xatar, die tatsächlich schon im Gefängnis sassen und musikalisch darüber philosophieren, stehen zu ihrer Heimat­stadt. Im Juli 2020 eröffnete Xatar einen Döner-Imbiss in der Innen­stadt. (Der Ansturm war so gewaltig, dass sogleich das Ordnungs­­amt anrückte. So viel Bonn muss sein.)

Ein bisschen Grossstadt blitzt zwischen all den Ministerien, Bundes­ämtern und Büro­gebäuden eben doch auf. Da wäre etwa die Köln­strasse, die tatsächlich ein bisschen an Berlin erinnert. Da gibts nicht nur famose Döner, sondern mehrere arabische Super­märkte, einen Hummus-Imbiss und – Gott bewahre! – sogar eine Shisha-Bar.

Da parkiert ein BMW vor dem Urban-Gardening-Beet in zweiter Reihe, laute Musik dringt nach aussen. Dazwischen Junkies, die um einen Euro bitten. Betrunkene, die mit einem Bier über die Strasse torkeln. Aber auch Hipster, die geduldig bei C’est la Vie anstehen, einem französischen Bäcker, der selbst gemachte Baguettes und hoch­preisige süsse Teilchen verkauft.

Allerdings ist an der nächsten Kreuzung, hinter dem Barber­shop, schon fertig Metropole. Dann kommen eine Psychiatrie und eine Berufs­schule in Sicht.

Also, Bonn, what’s it gonna be?

Politisch ist das Ringen um den richtigen Weg noch in vollem Gang. Gerade hat die links-grüne Mehrheit einen Gender-Leitfaden für die Stadt­­verwaltung heraus­­gegeben. Die Mitarbeitenden sollen in Zukunft gender­gerecht kommunizieren. Natürlich dauerte es keinen Tag, bis die bürgerliche Opposition auf die Barrikaden ging: Sprach­diktatur! Zensur! Gibts denn keine anderen Probleme!

Gibts.

Zum Beispiel die Verkehrs­politik. Während die autofreie Innenstadt weiter auf sich warten lässt, widmet sich die links-grüne Stadt­rats­mehrheit dem nächsten Ziel: Tempo 30 in der Innen­stadt. Auch dagegen gibt es Widerstand, ausnahms­weise einmal nicht aus Bonn, sondern aus der echten Haupt­stadt: Der noch amtierende Bundes­­verkehrs­­minister Andreas Scheuer kann mit dem Projekt nichts anfangen. In Innen­städten gelte nun einmal Tempo 50 als Regel­geschwindigkeit.

Während Bonn also schwankt zwischen Revolution und Restauration, setzt oben, auf dem altehrwürdigen Peters­berg, die Zeiten­wende ein. War es früher Breschnew, der für Schlag­zeilen und Medien­rummel sorgte, ist es mittlerweile Reality-Show-Sternchen Daniela Katzen­berger, die ihre Hochzeit aus den historischen Mauern live übertragen lässt. Dem Hotel ist es gleich: Gast ist Gast – solange man 2500 Euro für die Präsidenten­suite hinlegt.

Und dann wäre da natürlich noch der Haupt­bahnhof: früher das Dreh- und Angel­kreuz der anreisenden Bundestags­abgeordneten, später ein verfallenes Relikt, an dem nicht mehr viele Fernzüge hielten.

Seit diesem Jahr nun erstrahlt das Gebäude in neuem Glanz, frisch saniert für 33 Millionen Euro. Blöd nur, dass die Reisenden nach dem ersten Regen­guss direkt wieder nass wurden – weil das Dach nicht richtig abgedichtet worden war. In Bonn, spottete darauf eine Lokal­zeitung, stünden wohl sogar die Dach­löcher unter Denkmal­schutz.

Dafür hat sich für das skandal­geplagte World Conference Center eine wirklich sinnvolle Nutzung ergeben: Es diente bis Anfang September als Impfzentrum.

In einer früheren Version haben wir in einer Bildlegende geschrieben, Helmut Kohl habe die Hälfte seiner Amtszeit als Kanzler in Bonn verbracht. Dies ist falsch, wir danken für den Hinweis aus der Verlegerschaft.

Zum Autor und zum Fotografen

Steve Przybilla ist freier Journalist und lebt in Bonn. Seine Texte sind unter anderem in der «Süddeutschen Zeitung», der NZZ, der FAZ, in der «Zeit» und auf «Spiegel online» erschienen. Vom Berliner Fotografen Christian Werner stammen die Bilder zu diesem Artikel. Eine seiner Spezialitäten ist die ästhetische Innen­aufnahme. Mehr von der Bonner Bildserie gibt es im Buch «Bonn. Atlantis der BRD» zu sehen, das Werner gemeinsam mit Joachim Bessing verfasst hat.

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