Sehnsucht nach dem Dreck

9/11, Finanzkrise, Pandemie – nach jeder Krise ist New York wieder aufgestanden, hat sich neu erfunden. Und ist dabei so ganz anders geworden als die raue, wilde Metropole aus den 1980er-Jahren. Eine Zeitreise in Bild und Ton.

Von Dieter Fahrer (Video), Sven Gallinelli (Text) und Marco Di Nardo (Producer), 11.09.2021

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«Jemand sollte schnell diese Stadt hier ausmisten, weil das hier ein Haufen … ein Haufen Scheisse ist! Diese Stadt ist voller Dreck und Abschaum. Sie ist ein Albtraum geworden. Egal, wer hier Präsident wird, er müsste … hier gründlich aufräumen. Stellen sie sich vor, ich kriege Kopf­schmerzen, wenn ich spazieren gehe und diesen Dreck riechen muss, unglaublich! Diese Kopf­schmerzen werden immer schlimmer. Ich … ich hab auch ’ne Idee: Der Präsident sollte diese Stadt entweder abbrennen oder einfach in die grösste Toilette runterspülen!»

Travis Bickle (Robert De Niro), im Film «Taxi Driver» (1976).

New York in den 1980ern war: dreckig, verrucht, kriminell, gefährlich. Alles rund um den Times Square – heute ein autofreier Touristen­magnet – mied man besser, wenn einem das Leben lieb war. Heute gibt es das Echo dieses New York zwar noch, aber man muss schon in den abgelegensten Strassen­zügen danach suchen.

Das liegt auch an den drei grossen Krisen, die diese Stadt in den letzten 20 Jahren umgepflügt haben – und sie zwangen, sich zu verwandeln.

Zuerst 9/11, der Terror­anschlag vom 11. September 2001, der sich heute zum zwanzigsten Mal jährt. Zwei Türme kollabierten, 2977 Menschen starben, mehr als 6000 wurden verletzt. Übrig blieb ein gigantisches Trümmer­feld, nach der Räumung ein grosses Loch. Die Stadt N. Y., seit je Zentrum des kapitalistischen Denkens, wurde an ihrem verwundbarsten Punkt getroffen. Und die Super­macht Amerika machte sich auf, die Wunde zu vergelten: War on Terror, eine Viertelmillion Tote in Afghanistan und Pakistan, eine halbe Million tote Iraker. Guantánamo, Predator-Drohnen, Abu Ghraib und das bittere Finale – 20 Jahre danach – der Triumph der Taliban in Afghanistan.

Die Twin Towers, zu Beginn der 1970er-Jahre erbaut, repräsentierten architektonisch den damaligen Zeit­geist. Mit ihrem Verschwinden wurde auch das Denkmal einer prägenden Phase der Stadt ausradiert.

Dann die Finanz­krise. Der Kollaps der stolzen Investment­bank Bear Stearns. 1923 gegründet, überlebte sie den Crash von 1929 und wurde schliesslich zu einem der grössten Geld­häuser der Welt. Bis ihr im März 2008 die Mittel ausgingen. Dann die Grossbank Lehman Brothers – auch sie mit Hauptsitz im Big Apple.

Und letztes Jahr wurde New York extrem hart von der Corona-Pandemie getroffen, mit über 1 Million Fällen und mehr als 30’000 Toten. Noch immer sind viele Geschäfte verriegelt, stehen viele Wohnungen leer.

Aber New York wäre nicht New York, wenn es nicht die Kraft hätte, sich von solchen Katastrophen zu erholen. So steht dort, wo einst die Twin Towers standen, heute wieder ein schicker Wolken­kratzer, das One World Trade Center.

Geblieben ist die Sehnsucht nach dem alten New York. Der Dreck, die Wildheit, das Chaotische – vielen ist das New York von heute zu clean, zu gentrifiziert, zu posh. Doch wie sah es wirklich aus, das New York der Eighties? Wir nehmen Sie mit auf eine Reise zurück in diese Zeit.

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Ihr Reise­führer ist der Schweizer Fotograf und Filme­macher Dieter Fahrer. Er verbrachte 1988 ein halbes Jahr in New York, weil er von der Stadt Bern für ein Atelier­stipendium auserkoren worden war: «In New York angekommen, begann ich loszuwandern, in alle Himmels­richtungen, stunden­lang, tage­lang, wochen­lang», erinnert er sich. «Am Anfang machte ich keine Fotografien, doch nach und nach fühlte ich mich in diesem Grossstadt­moloch sicher genug, auch in der Bronx und Lower East Side, und ich entschloss mich, zu fotografieren.»

Fahrer fotografierte mit Kleinbild­kameras und fixen Brenn­weiten auf Diafilm, farbig und schwarz­weiss, Bilder, die vorbeiziehen sollten. Zudem reifte in ihm die Idee, das Material später für eine Installation zu nutzen; und so machte er auch Ton­aufnahmen – mit einem Kassetten­recorder.

Dieter Fahrer putzt in seinem New Yorker Atelier die Schuhe. zvg

«Zurück in Bern, mietete ich eine Mansarde, kaufte ein Leucht­pult und begann, meine Dias zu sichten und zu sortieren», erzählt er. Dann suchte er einen passenden Raum und fand ihn im Berner Kulturzentrum Dampf­zentrale. Dort entstand die Foto- und Toninstallation «Trap».

Kürzlich kam ihm das Material wieder in die Hände, und er begann, die Diapositive zu digitalisieren. Im Austausch mit der Republik entstand die Idee, daraus für die Republik ein Video zu kreieren, ergänzt mit Fahrers Ton­aufnahmen aus New York. Ein Video, das zeigt, wie es war, das New York in den Achtzigern, das die Menschen zeigt, den Glanz der Twin Towers, aber auch die weniger schönen Ecken der Stadt, den Dreck, dem viele Menschen verklärt nachtrauern, die Trostlosigkeit, das Herunter­gekommene.

Zur Person

1958 in Bern geboren, zieht Dieter Fahrer 1979 nach München, wo er Fotografie studiert. 1981 kehrt er in die von Jugend­unruhen geprägte Schweiz zurück, ist als Fotograf tätig und wendet sich bald dem Film zu. Ab 1983 arbeitet er als Beleuchter, Kamera­assistent und Produktions­leiter bei Spielfilmen im In- und Ausland mit. Fahrer beteiligt sich als Compagnon bei der von Res Balzli gegründeten Balzli & Cie Film­produktion in Nidau BE (seit 1998: Balzli & Fahrer GmbH in Bern). 1988: New-York-Stipendium. Ein Jahr später kehrt Fahrer für die Dreharbeiten zu «Step Across The Border» nach New York zurück. Danach realisiert er Dokumentarfilme, ab 1997 auch als Produzent. Mehrfach ausgezeichnete Filme in eigener Regie: «Jour de nuit» (Co-Regie mit Bernhard Nick, 2000), «Que sera?» (2004), «Thorberg» (2012), «Die Vierte Gewalt» (2018).

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