Am Gericht

Wenn Investoren auf ihre Menschen­rechte pochen

Sind Staaten und multi­nationale Konzerne uneins, entscheiden oft private Schieds­gerichte. Wie das funktioniert und warum das öffentliche Interesse dabei nicht selten den Kürzeren zieht.

Von Susi Stühlinger, 01.09.2021

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Irgendwie sind es Gerichte und irgendwie doch nicht. Sie arbeiten im Verborgenen, abseits der Blicke der Öffentlichkeit. Was sie tun, hat weit­reichende Folgen. Sie können Regierungen bedrängen, Volks­wirtschaften an den Rand des Ruins treiben – und sind neuerdings auch ein lukratives Geschäfts­modell für Spekulanten: Schieds­verfahren zwischen Staaten und ausländischen Investoren, genannt Investor-State dispute settlement (ISDS).

Silvia Steininger forscht unter anderem zum Thema ISDS und Menschen­rechte am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völker­recht in Heidelberg. Die Republik hat mit ihr über diese in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannten Verfahren gesprochen – und über dringend notwendige Reformen.

Ort: Unklar
Zeit: Geheim
Fall-Nr.: Geheim
Thema: Investitionsschutz

Silvia Steininger, Sie haben die Rolle der Menschen­rechte in investitions­rechtlichen Streitigkeiten zwischen Staaten und multi­nationalen Unternehmen untersucht. Sind solche Verfahren menschenrechts­freundlich?
Es kommt drauf an, wessen Menschen­rechte gemeint sind. Ich habe festgestellt, dass Menschen­rechte in diesen Fällen zwar durchaus eine Rolle spielen – aber oft nicht wirklich den Menschen zugutekommen.

Sondern?
Sehr häufig sind es die Investoren, die auf ihre Menschen­rechte pochen. Ich habe beobachtet, dass die entsprechenden Argumente, wenn sie von Konzernen vorgebracht werden, in den Schieds­verfahren oft aufgegriffen werden – häufig geht es um das Recht auf Eigentum. Wenn sich die Gegenseite auf Menschen­rechte beruft, etwa zum Schutz der öffentlichen Gesundheit, finden diese nicht so oft Gehör. Die Menschen­rechte der potenziellen Opfer ausländischer Investitions­tätigkeit, der lokalen Bevölkerung, kommen überhaupt nicht vor – weil die Betroffenen in diesen Verfahren gar keine Stimme haben.

Das klingt schwierig, lassen Sie uns darauf zurück­kommen. Zunächst aber ganz von vorne: Was genau ist das Investor-State dispute settlement?
Es sind Schieds­verfahren zwischen einem Investor – oft sind es multi­nationale Unternehmen – und einem Staat. Das ISDS ist Teil des Investitions­schutz­rechts, das aus mehr als 3000 bi- und multi­lateralen Verträgen besteht. Damit räumen Staaten ausländischen Investorinnen gewisse Rechte ein – zum Beispiel zum Schutz vor Enteignungen. Diese Rechte können Unternehmen gegen den Staat mittels ISDS einklagen. Natürlich gibt es Länder auf dieser Welt, wo Investoren Gefahr laufen, nicht nach rechts­staatlichen Grund­sätzen behandelt zu werden und wo das ISDS aus Investoren­sicht eine Notwendigkeit ist.

Kritikerinnen werfen dem ISDS vor, damit werde eine Art Parallel­justiz zugunsten multi­nationaler Konzerne geschaffen. Sind diese Investitions­schieds­gerichte überhaupt Gerichte?
Es kommt darauf an, was man als Gericht definiert. In gewisser Weise sind die Tribunale schon Gerichte: Es gibt zwei Parteien, die einen Konflikt miteinander haben, und es gibt ein Verfahren, an dessen Ende eine Art Urteil – ein Schieds­spruch – steht. Aber im Gegensatz zu konventionellen Gerichten gibt es beim ISDS keine festen Richter. Die Schieds­richterinnen, genannt Arbitrators, werden von den jeweiligen Parteien ernannt.

Wie läuft das ab?
Es kursieren Listen mit potenziellen Arbitrators, das sind Privat­personen, oft Anwälte – gut bezahlte Anwälte. Der Staat sucht sich jeweils eine Person aus, das Unternehmen die andere, und auf die dritte einigt man sich dann gemeinsam. Faktisch ist es so, dass es weltweit eine Elite von etwa fünfzig Personen gibt, die für einen Grossteil der Verfahren als Arbitrators tätig sind. Und die ein gewisses Interesse daran haben, auch weiterhin für diese sehr lukrativen Jobs ernannt zu werden.

Sie implizieren, dass die ISDS-Arbitrators nicht wirklich neutral sind.
Die Arbitrators sind eben keine Richter, die unabhängig sind, sondern von den Parteien ernannte Individuen. Das bedeutet: Oft ist ein eigenes wirtschaftliches Interesse mit dabei. Ausserdem kommt es vor, dass die Personen, die in einem Fall als Schieds­richter fungieren, in einem ähnlichen Fall als Anwalt für eine Firma tätig sind, die ebenfalls in ein Verfahren vor einem ISDS-Tribunal involviert ist. Da besteht ein Konflikt: Die Person kann in ihrer Funktion als Arbitrator nicht komplett neutral sein, wenn sie gleichzeitig in einem parallelen Verfahren als Anwalt einer Partei auftritt.

Es gibt also Personen, die sind in einem Fall Rechts­vertreter eines multi­nationalen Unternehmens. Und in einem ähnlich gelagerten Fall amten sie als vom Staat eingesetzter Schieds­richter über Investitions­streitigkeiten, in die dasselbe Unternehmen verwickelt ist?
Ja, das kommt vor. Zwar nicht im selben Verfahren, wohl aber beim gleichen Thema: Zum Beispiel kann eine Rechts­vertreterin, die einen Konzern in einem Land im Kampf gegen striktere Tabak­regulierung unterstützt, in einem anderen Land über die Zulässigkeit strikterer Tabak­regulierungen als Schieds­richterin entscheiden. Hinzu kommt, dass die Verfahren nicht öffentlich und sehr intransparent sind.

Was heisst intransparent?
Die Parteien entscheiden selbst, wie transparent oder intransparent sie die Verfahren haben wollen. In der Regel ist nur das endgültige Schieds­urteil einsehbar, nicht aber die dazugehörigen Akten. Manchmal bleibt sogar das Schieds­urteil selbst unter Verschluss. Ausserdem: Vor ordentlichen Gerichten gibt es einen Instanzen­zug. Nach einem ISDS-Tribunal kommt erst einmal gar nichts, der Schieds­spruch bindet die Parteien final. Und es gibt auch kaum eine Möglichkeit, die Verfahren neu aufzurollen. Etwa dann, wenn im Nachhinein herauskommt, dass ein Schieds­spruch durch gefälschte Experten­gutachten oder Bestechung beeinflusst wurde.

Das heisst, die Schieds­sprüche sind endgültig und können kaum mehr angefochten werden?
Ja. Die Schieds­gerichte haben die Macht, staatliche Gesetze, die Verfassung, alle möglichen Arten von nationalen Regulierungen auf die Vereinbarkeit mit dem Investitions­schutz zu überprüfen. Das ist ein enormer Eingriff in die national­staatliche Souveränität. Zwar gibt es auch andere internationale Gerichte, die staatliche Regulierungen überprüfen können – wie etwa der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte. Aber im Gegensatz zu diesem sind die ISDS-Schieds­gerichte eben keine öffentlichen, internationalen Gerichte, sondern privat mandatierte Tribunale, deren Schieds­sprüche vollstreckt werden müssen. Bei der Umsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichts­hofs für Menschen­rechte haben nationale Richterinnen dagegen sogar einen gewissen Spielraum.

Diese Tribunale entscheiden also darüber, ob ein Staat bestimmte Gesetze erlassen darf oder nicht – zum Beispiel strengere Umwelt­schutz­gesetze?
Genau das ist das Problem: dass multi­nationale Unternehmen mit unfassbaren finanziellen Ressourcen das Recht bekommen, gegen staatliche Massnahmen zu klagen – vor privaten Schieds­gerichten. Das hat massive Auswirkungen auf staatliche Schutz­pflichten. Der Staat hat ja auch andere völker­rechtliche Verträge unterschrieben; zum Beispiel Verträge über Menschen­rechte oder im Bereich Klima­schutz. Was macht der Staat jetzt, wenn er weiss: Eigentlich müsste ich die Menschen­rechte schützen oder mich für das Klima einsetzen? Aber wenn ich das tue, verletze ich gleichzeitig meine investitions­schutz­rechtlichen Pflichten.

Bedeutet das, dass das ISDS die Staaten mitunter zögern lässt, neue Regelungen im Bereich der Umwelt- oder Menschen­rechte zu treffen?
Die Angst, vor ein Schieds­verfahren zu kommen, kann die Entscheide der Staaten beeinflussen. Wenn sich ein Konflikt zwischen Menschen­rechten oder Umwelt­schutz und Investitions­schutz anbahnt, muss damit gerechnet werden, dass sich die Staaten eher für den Schutz der Investoren­rechte entscheiden. Es findet eine Priorisierung von wirtschaftlichen Interessen gegenüber menschen­rechtlichen oder umwelt­rechtlichen Interessen statt. Zudem wirken die Schieds­sprüche auch über die Landes­grenzen hinweg. Wenn eine Investorin in einem Staat erfolg­reich geklagt hat, werden andere Staaten, die erwogen hätten, ähnliche Gesetze einzuführen, vermutlich davon absehen.

Warum vermögen diese Verfahren die Staaten dermassen einzuschüchtern?
Die Schadens­summen, die der Staat im Falle einer Niederlage an den Investor bezahlen muss, sind teilweise unglaublich gross. Der schwedische Energie­konzern Vattenfall hat Deutschland aufgrund seines Beschlusses zum Atom­ausstieg verklagt. Die mögliche Schadens­summe beläuft sich auf 6 Milliarden Euro inklusive Prozesszinsen. Hinzu kommen die Anwalts­kosten. Deutschland hat im Schieds­verfahren gegen Vattenfall über die letzten Jahre mehr als 21 Millionen Euro allein für Anwälte ausgegeben. Das alles zusammen ist schon für Deutschland sehr, sehr viel Geld. Für kleine Staaten im globalen Süden, wo diese Summe mehrere Prozente des Brutto­inland­produkts ausmacht, ist es wirklich bedrohlich – die können sich das Risiko, vor ein Schieds­gericht gezerrt zu werden, eigentlich gar nicht leisten.

Wenn es doch zum Verfahren kommt: Sie erwähnten zu Beginn unseres Gesprächs, dass sich Staaten zu ihrer Verteidigung auf Menschen­rechte stützen. Können Sie ein Beispiel nennen?
Als Argentinien in den Nuller­jahren unter der Finanz- und Wirtschafts­krise litt, ergriff das Land verschiedene Massnahmen, etwa in den Bereichen wie Wasser, Energie und Entsorgung, was in rund zwanzig Klagen von ausländischen Investoren resultierte. Da war zum Beispiel die Wieder­verstaatlichung der zuvor privatisierten Wasser­versorgung. Argentinien hat bei den Investoren­klagen dagegen immer wieder argumentiert: Wir haben das gemacht, um die Menschen in unserem Land zu schützen, um ihnen das Recht auf Wasser zu ermöglichen.

Und wie hat das geendet?
Da gab es ganz unterschiedliche Entscheidungen. Während ein Tribunal fand: Ja, das ist einleuchtend, befand ein anderes: Menschen­rechte tun hier überhaupt nichts zur Sache. Gerade weil die Tribunale nur im Einzelfall entscheiden, ist es von Fall zu Fall unterschiedlich, was am Ende dabei heraus­kommt. So gesehen sind die Verfahren, die jetzt aufgrund der Corona-Pandemie anhängig gemacht werden, wirklich interessant – um zu sehen, ob es ein gewisses Umdenken, eine gewisse Veränderung in der Recht­sprechung gibt, zugunsten menschen­rechtlicher Aspekte.

Erklären Sie.
In der Pandemie geht es, mehr noch als in einer Finanz­krise, um eine Notstands­situation, in der staatliche Massnahmen getroffen werden, um die Gesundheit der Menschen zu schützen. Heute sehen wir bereits die ersten Klagen, die gegen die jeweiligen Staaten vorbereitet werden. In Peru etwa wurden die Autobahn­zölle ausgesetzt, um den Transport medizinischer Güter zu gewähr­leisten. Ein anderes Beispiel ist die Begrenzung des Flug­verkehrs. Das trifft bestimmte ausländische Investoren, denen die entsprechende Infrastruktur gehört, natürlich enorm. Da werden wir nun sehen, ob die Schieds­richter bereit sind, die jeweiligen Verträge so auszulegen, dass die staatlichen Schutz­pflichten gegenüber der Bevölkerung Vorrang vor den wirtschaftlichen Interessen haben.

Also gibt es doch Hoffnung?
Wir sehen zunehmend Fälle, in denen die Arbitrators für die Problematik sensibilisiert sind. Und wo versucht wird, durch eine Interpretation der Verträge menschen­rechtliche Aspekte mit zu berücksichtigen. Die Tribunale sehen zusehends ein, dass die Frage der Menschen­rechte nicht so einfach zur Seite zu wischen ist. Allerdings glaube ich, dass die Rolle der Arbitrators dabei überschätzt wird.

Wie meinen Sie das?
Trotz aller berechtigten Kritik an den Arbitrators: Die haben dieses System nicht geschaffen. Ihr Job ist es, die bestehenden Verträge auszulegen. Sie können nicht einfach ihr Ermessen überschreiten und auf einmal etwas in die Investitions­schutz­abkommen hinein­lesen, das dort gar nicht drinsteht. So gesehen sind die Staaten gefragt, die dieses System geschaffen haben, es aufrecht­erhalten und fördern – und die keine Regelungen treffen, etwa zur Verhinderung missbräuchlicher Verfahren und Spekulation.

Spekulation?
Wir erleben zurzeit eine Explosion von Verfahren, die nicht von den Unternehmen selbst finanziert werden, sondern von Hedgefonds. Die spekulieren heute nicht mehr nur mit Staats­schulden und anderen Kredit­produkten, sondern haben auch die Investitions­schieds­verfahren für sich entdeckt, weil man dabei unglaublich viel Geld machen kann. Also bezahlen sie jetzt Unternehmen, um Investitions­schutz­verfahren anzustossen. Dieses Modell boomt, denn die Renditen, die locken – bei Staaten, die sich nicht entsprechend verteidigen können –, sind hoch.

Und gegen all die Missstände wird nichts unternommen?
Es gab ein Zeitfenster, vor einigen Jahren, als die Massen­proteste gegen TTIP und CETA – die Freihandels­abkommen der EU mit den USA und Kanada – stattgefunden haben: Daraufhin wurde ein breit abgestützter Reform­prozess angestossen, bei dem ursprünglich auch die grund­legende Problematik von Investitions­schutz­verträgen hätte mit einfliessen sollen. Aktuell zeigt sich jedoch ein ernüchterndes Bild: Es gibt zwar verschiedene Reform­vorschläge, aber eine systematische Reform wird von vielen Staaten, insbesondere im globalen Norden, nicht gewünscht.

In der EU gibt es Pläne, einen Europäischen Investitions­schieds­gerichtshof zu errichten. Was würde das bringen?
Das wäre immerhin ein permanenter Gerichts­hof, wo keine privaten Arbitrators amten würden, sondern Richterinnen, die von den Mitglied­staaten ernannt würden. Und wo die Urteile auch eine gewisse Präzedenz­wirkung haben könnten. Allerdings ist das ein rein europäisches Projekt, von dem die restlichen Regionen der Welt nicht betroffen sind. Und die Schieds­verfahren stehen ja erst am Ende der Konflikte zwischen Investitionen und Menschen­rechten. Das Problem beginnt viel früher. Aktuell versucht man das Ganze aufzuhübschen, indem man einen Gerichts­hof etabliert. Zum einen sagt man: Wir brauchen eine Verbesserung des Systems. Zum anderen schützt man dieses System noch immer und schliesst weiterhin Investitions- und Handels­verträge ab, etwa mit China. In diesen Verträgen werden die Menschen­rechte gar nicht erwähnt.

Welche Optionen bleiben den Staaten des globalen Südens? Sich aus den Investitions­schutz­abkommen zurück­zuziehen, ist kaum möglich. Ecuador, das diesen Weg vor zwanzig Jahren nach einem Schieds­urteil zugunsten des Ölkonzerns Chevron gegangen ist, krebst wieder zurück.
Das ist die Krux am Ganzen. Einfach nicht mitzumachen, ist unter dem gegenwärtigen globalen Wirtschafts­system keine Option. Zumal gerade die Länder des globalen Südens häufig einfach auf Investitionen angewiesen sind. Und selbst wenn ein Land diesen Weg wählt: Die meisten Verträge haben sogenannte sunset clauses, die es den Investoren erlauben, den jeweiligen Staat selbst nach einer Aufkündigung der Verträge noch nach fünfzehn, dreissig oder fünfzig Jahren vor ein Schieds­gericht zu bringen.

Also gar keine Lichtblicke?
Es gibt kleine Fortschritte: Gewisse Staaten wie Brasilien, Indien und Süd­afrika haben das ISDS zugunsten eines State-to-State dispute settlement abgeschafft. Das heisst: Der Investor muss sich erst an seinen Heimat­staat wenden, und der klagt gegen den Gaststaat. Dann gab es auch einige Fälle, in denen Investitions­schieds­gerichte sogenannte Gegenklagen zugelassen haben. Mit denen können sich Staaten zur Wehr setzen, wenn Investoren menschen- oder umwelt­rechtliche Standards verletzt haben. Und einzelne Staaten schliessen auch neue Investitions­schutz­abkommen mit harten Menschen­rechts­verpflichtungen für Investoren ab. Wie etwa Marokko und Nigeria im Jahr 2016 – aber halt nicht Deutschland, Frankreich oder die USA.

Illustration: Till Lauer

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