Das grösste Mysterium des aktuellen Wahlkampfs? Die Renaissance der SPD und die steigenden Werte ihres Kanzler­kandidaten Olaf Scholz. Hans-Christian Plambeck/laif

Weder wirklich Wahl noch Kampf

Nach einem Sommer der verheerenden Wetter­extreme werden mit der deutschen Bundestags­wahl die Weichen für die Klima­politik gestellt. Also ringen die Parteien hart miteinander und reden über konkrete Lösungen. Oder?

Ein Essay von Nils Markwardt, 01.09.2021

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Die repräsentative Demokratie wird in der Regel dann besonders lebendig, wenn sie auf ihren kurzzeitigen Tod zusteuert. Dann nämlich kommt es zu einer demokratie­theoretischen Passions­geschichte.

Während in der Autokratie ein einzelner Potentat den Staat verkörpert (was auch erklärt, warum Putin und Co. sich so regelmässig in virilen Posen ablichten lassen), offenbart sich der symbolische Leib der Volks­herrschaft im Parlament. Und dieser löst sich mit jedem Urnen­gang selbst auf – um dann direkt wieder­aufzuerstehen.

Diese Passions­spiele der parlamentarischen Demokratie haben ihre eigenen Rituale – und Probleme. Werden in den zentralen Wahlkampf­reden Ideen, Werte und Prinzipien hochgehalten, «Weichen­stellungen» und «Richtungs­entscheidungen» beschworen, ja bisweilen sogar «System­wechsel» in Aussicht gestellt, muss dieser programmatische Überbau eben auch ganz konkret an den Bürger vermittelt werden. Und das geschieht auch durch jene karnevaleske Roadshow, in der die Kandidatinnen ihre Themen auf den Markt­plätzen des Landes durch Umverteilung von Brat­würsten und Kalt­getränken an die Wähler bringen.

Daran ist nichts Verwerfliches. Zumal solch gastronomisch unterstützte Wahl­werbung schlimmsten­falls eine akzeptable Schwund­form des einstigen Stimmen­kaufs darstellt. Der ständige Spagat zwischen politischem Ideen­himmel und erdnaher Überzeugungs­arbeit bewirkt dennoch ein Anforderungs­profil, das kaum zu erfüllen ist. Denn wo Kandidatinnen stets staats­tragend, visionär und bürger­nah zugleich sein sollen, werden sich immer irgendwo Bilder, Video­schnipsel oder Statements finden, die dem gründlich zuwider­laufen und vom Gegner genüsslich aufbereitet werden.

Wahlkämpfe sind also eine eigentümliche Mischung aus demokratischem Hochamt und politischem Vaudeville. Sie leben nicht nur vom garstigen Grund­rauschen des Parteien­wettbewerbs, sondern sind unter Social-Media-Bedingungen immer auch ein kurzatmiges rat race permanenter Skandalisierungen.

Wer oder was ist polarisiert?

Dies zu betonen ist auch deshalb wichtig, weil jede journalistische Beschreibung dieser Vorgänge Gefahr läuft, ebenso hektisch zu werden. Im schlechtesten Fall, der sich dieser Tage ebenso im deutschen Wahl­kampf beobachten lässt, wird die Bericht­erstattung dann zu einer Nacherzählung sozial-medialer Erregungs­kurven und erschöpft sich im Verteilen politischer Haltungs­noten. Kein Wunder, könnte man denken, man hat es ja nach land­läufiger Meinung auch mit einer polarisierten Parteien­landschaft zu tun.

Hat man das wirklich?

Das Auffälligste am aktuellen Wahl­kampf in der Bundes­republik Deutschland ist gerade nicht, dass zwischen den politischen Fraktionen besonders heftig gestritten oder um politische Lösungen gerungen würde. Auffällig ist viel eher, dass unter der Oberfläche üblicher partei­politischer Spitzen und ritualisierter Twitter-Empörungen eine relative Eintracht zwischen den Parteien herrscht. Natürlich: Die Christ­demokratinnen warnen hie und da vor einem Links­rutsch oder teilen nach altbekanntem Muster gegen die Grünen aus, indem sie diese als freiheits­feindliche Verbots­fanatiker brandmarken. Und ja, die Sozial­demokratinnen haben einen (dann später zurück­gezogenen Spot) veröffentlicht, in dem Nathanael Liminski, ein Vertrauter von Union-Spitzen­kandidat Armin Laschet, ob seines erzkatholischen Glaubens angegriffen wurde.

Inhaltsloser Wahlkampf, unsouveräne Auftritte: CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet (links, hier mit Nathanael Liminski, Chef der Staatskanzlei von Nordrhein-Westfalen). Hans-Christian Plambeck/laif

Dennoch kann derlei nicht darüber hinweg­täuschen, dass bis dato kein fundamentaler inhaltlicher Dissens eine Rolle spielt. Erst recht gibt es keinen irgendwie gearteten Lager­wahlkampf zwischen Rot-Rot-Grün (SPD, Links­partei, Grüne) und Schwarz-Gelb (CDU und FDP). Die offen ausgetragene Debatte dreht sich geradezu manisch um die charakterliche Eignung der Spitzen­kandidaten oder programmatische Marginalien wie die jüngst von den Grünen vorgeschlagene Subventionierung von Lastenrädern. Wenn einige Beobachter beim jüngst ausgetragenen «Triell», der ersten Fernseh­debatte zwischen Baerbock, Laschet und Scholz, nun endlich eine erfrischend kontroverse und sachliche Debatte erkannten, unterstreicht das wiederum das Deprimierende der wahl­kämpferischen Gesamt­situation: Gilt ein solch strukturell kurzatmiges Statement-Format als bisheriger Höhepunkt, bekommt man eine Ahnung davon, wie niedrig mittlerweile die Messlatte liegt.

Auffällig ist also vor allem, wie wenig der Mangel an inhaltlicher Polarisierung innerhalb des Parteien­spektrums zu den Diagnosen einer wachsenden gesellschaftlichen Spaltung passt. Dieser Mangel wirkt aber auch deshalb irritierend, weil die zukünftigen Heraus­forderungen mit der Klima­krise, der Mobilitäts­wende und dem geopolitischen Aufstieg Chinas so gross sind, dass man ein fundamentales Ringen um die entsprechenden politischen Pfad­entscheidungen erwarten würde. Zumal allerspätestens der aktuelle Katastrophen­sommer auch der letzten Deutschen gezeigt haben müsste, dass die tödlichen Auswirkungen der Klima­krise sich nicht später und in weiter Ferne zeigen; sondern buchstäblich im Hier und Jetzt.

Wie also ist das Ausbleiben einer echten Debatte um politische Lösungen zu erklären?

Pluralisierung statt Polarisierung

Vielleicht muss man zunächst den Begriff der Polarisierung etwas höher auflösen. Denn auch wenn die gesellschaftlichen Spaltungs­diagnosen oft medial überzogen sind, weil jede Debatte übers Gendern gleich als Kultur­kampf firmiert, sind wachsende gesellschaftliche Risse ja real. Nicht zuletzt der Aufstieg rechts­extremer Parteien wie der AfD zeugt davon. Nur offenbart sich die gesellschaftliche Spaltung nicht als Bipolarisierung der Parteien­landschaft, sondern als verstärkte Pluralisierung des politischen Feldes.

Besonders sichtbar wird dies an den neueren Regierungs­konstellationen. Schon jetzt können viele Landes­regierungen nur noch durch Dreier­koalitionen gebildet werden. In Schleswig-Holstein regiert etwa ein Bündnis aus CDU, FDP und Grünen, in Sachsen-Anhalt eines aus CDU, Grünen und SPD – also exakt jener drei Parteien, die nun um die Kanzlerschaft wetteifern.

Ähnliches steht auch für die nächste Bundes­regierung zu erwarten: In aktuellen Umfragen kommt nicht einmal mehr die noch amtierende «Grosse Koalition» aus Christ- und Sozial­demokraten auf eine parlamentarische Mehrheit, dasselbe gilt für schwarz-gelbe oder rot-grüne Bündnisse. Das politische Spektrum also differenziert sich gegenwärtig immer weiter aus, sodass die Union, SPD und Grüne gerade alle um die 20 Prozent pendeln, während FDP, AfD und Linkspartei sich um die 10 Prozent bewegen (Die Linke allerdings mit einem gewissen Rückstand auf diese Marke). Damit wird eine gegenseitige Koalitions­fähigkeit innerhalb der Parteien­landschaft immer notwendiger – auch über Rechts-links-Grenzen hinweg. Davon ist derzeit allein die AfD ausgenommen, mit der alle anderen Parteien Koalitionen – noch – ausgeschlossen haben.

Das heisst: Tendenziell führt die Polarisierung innerhalb der Gesellschaft paradoxer­weise zu einer Harmonisierung innerhalb der Parteien­landschaft. Das wird aktuell noch dadurch verstärkt, dass es sich beim kommenden Urnen­gang in der Bundes­republik auch um eine Post-Merkel-Wahl handelt.

Gedrängel in der Mitte

Eines der Erfolgs­geheimnisse der nun 16 Jahre lang amtierenden Kanzlerin bestand gerade darin, dass sie durch ihren über den Dingen schwebenden Habitus im Zweifels­fall den Eindruck vermitteln konnte, sie habe mit Fehlern der Bundes­regierung nichts zu tun. Man denke nur an die lange Liste von Skandalen des Verkehrs­ministers Andreas Scheuer. Egal, was passierte, Merkels persönliche Beliebtheits­werte blieben stets vergleichs­weise hoch. Entsprechend waren in der Vergangenheit viele Stimmen für die Union vor allem Merkel-Stimmen. Weshalb Union, SPD, Grüne und FDP um diese Stimmen nun gleicher­massen kämpfen. Dies wiederum verstärkt einen strategischen und inhaltlichen Zug dieser Parteien in die politische Mitte.

Das mag man je nach politischer Gestimmtheit als positiven Ausweis systemischer Stabilität oder als Stagnation verbuchen. In jedem Fall ist diese strategische und inhaltliche Harmonisierung des Parteien­spektrums ein wesentlicher Grund dafür, dass man in der Bundes­republik derzeit einen geradezu absurden Wahlkampf erlebt.

Im Gegensatz zu vorherigen Urnen­gängen hat dies nicht einmal gross mit der erwartbar aggressiven Kampagne der AfD zu tun. Denn obschon die Rechts­aussen-Partei mittlerweile über eine bundes­weite Wähler­basis um die 10 Prozent verfügt, fehlt ihr aktuell das Thema, mit dem sie andere Parteien vor sich hertreiben könnte. Nachdem dies mit der Migrations­frage nicht mehr im gleichen Masse gelingt wie 2015 und in den Folge­jahren, versuchte die AfD zuletzt, Stimmung gegen die Corona-Massnahmen zu machen. Das gelang aber allenfalls halb.

Absurd ist der derzeitige Wahl­kampf vielmehr aus einem ganz anderen Grund: weil das notwendige strategische Zusammen­rücken der Parteien mit einer Fokussierung auf das Spitzen­personal und mit einer Skandalisierung von Neben­sächlichkeiten kompensiert wird. Die Parteien versuchen ihr Profil zu schärfen, indem sie die charakterliche Eignung der Gegen­kandidaten infrage stellen oder Detail­fragen zum vermeintlichen Eklat aufblasen.

Das Ergebnis: Im bisherigen Wahl­kampf wurde leidenschaftlich über Plagiate von Armin Laschet und Annalena Baerbock debattiert, Laschets deplatziertes Lachen während eines Besuchs bei Flut­opfern skandalisiert, Baerbocks fehlende Regierungs­erfahrung thematisiert.

Selbst sie hat das Thema Klimapolitik gründlich verpasst: Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Michael Danner/laif

Daran allein wäre für Wahl­kämpfe nichts Ungewöhnliches, zumal die zunehmende Konzentration auf das politische Spitzen­personal auch durch den Medien­wandel bestärkt wird. Doch die Geballtheit aus fehlenden Sach­debatten, Skandalisierung von Kleinigkeiten und handwerklichen Fehlern des politischen Spitzen­personals mutet angesichts der anstehenden Zukunfts­entscheidungen geradezu clownesk an.

Und doch ist dies nicht allein der Politik anzulasten.

Empörungs­kaskaden – und ein erstaunliches Comeback

Es stimmt zwar, dass Armin Laschets weitest­gehende Inhalts­losigkeit, gepaart mit immer wieder unsouveränen Auftritten, die Umfrage­werte der Union von 40 Prozent im Mai auf aktuell 22 abstürzen liess. Und fraglos hat auch Annalena Baerbocks Performance dazu beigetragen, dass die Grünen nach einem Allzeit­hoch Ende April einen monate­langen Sinkflug erlebten.

Doch ist derlei nicht nur eingebettet in das beschriebene Paradox von gesellschaftlicher Polarisierung und partei­politischer Harmonisierung. Es geschieht auch im Rahmen einer folie à trois zwischen Politik, (sozialen) Medien und Publikum. Im Zusammen­spiel erzeugen alle drei eine Art politischen Hochfrequenz­handel, in dem eine sich selbst verstärkende Kaskade aus unmittelbaren Empörungen für alle einen kurz­fristigen Gewinn verspricht: der Politik Aufmerksamkeit, den Medien Klicks, dem Publikum Unterhaltung.

Vor diesem Hintergrund lässt sich womöglich auch das grösste Mysterium des aktuellen Wahl­kampfs erklären: die Renaissance der SPD.

Bis vor kurzem sah es so aus, dass sich die Sozial­demokratinnen nach internen Querelen und den langen Jahren als Junior­partner in der «Grossen Koalition» ins politische Siechtum verabschieden würden. Doch zuletzt konnten sie die stärksten Gewinne in den Umfragen verzeichnen: In einer jüngsten Forsa-Erhebung lag die SPD mit 23 Prozent sogar vor der Union. Vor allem aber: Im Vergleich zu Armin Laschet und Annalena Baerbock verzeichnet ihr Spitzen­kandidat, der amtierende Finanz­minister Olaf Scholz, auch mit Abstand die höchsten Sympathie­werte – was wiederum entscheidend damit zu tun zu haben scheint, dass die Sozial­demokraten sich in doppelter Hinsicht strategisch merkelisiert haben.

Dass sich Olaf Scholz kürzlich vom Magazin der «Süddeutschen Zeitung» höchstens halb ironisch mit Merkel-Raute ablichten liess, passt da bestens ins Bild. Immer sichtbarer kommt Scholz als politisch-habitueller Doppel­gänger der Kanzlerin daher.

Scholz’ Selbst­inszenierung als unaufgeregter, ideologisch flexibler und Superlative meidender Krisen­manager lässt sich bis hinein in die Wortwahl verfolgen. Ähnlich wie bei Merkel ist in seinen Reden und Interviews alles «gut»: «gute Arbeit», «gute Zukunft» und «gute Politik». Hatte die Kanzlerin in vergangenen Wahlen mit dem fast schon karikaturesken Slogan «Sie kennen mich» geworben, beschreibt das im Grunde auch Scholz’ Strategie. Dass diese immer besser aufzugehen scheint, liegt auch daran, dass Scholz die SPD bis zur Geräusch­losigkeit diszipliniert hat – so wie Merkel einst die Union. Und das ist umso bemerkens­werter, weil die traditionell streit­lustigen Sozial­demokratinnen erst im Dezember 2019 mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans eine Partei­führung gewählt hatten, die gegen Scholz gewonnen hatte und dezidiert mit dessen Merkel-nahem Kurs brechen wollte.

Die Sozial­demokraten dürften schliesslich auch aus verzweifelter Sorge über ein weiteres Abrutschen in der Wähler­gunst hinter Scholz zusammen­gerückt sein; nun tragen sie eine völlig auf ihn zugeschnittene Kampagne mit. Rein strategisch bringt das aktuell den Vorteil, dass die SPD weit weniger in den politischen Hochfrequenz­handel mit immer neuen Bildern und Ad-hoc-Forderungen einsteigen muss. Unter dem Verweis auf Scholz’ Erfahrung kann sie schlichtweg von den Fehlern Laschets und Baerbocks profitieren und dabei en passant auf die wachsenden Kontinuitäts­sehnsüchte bei den Wählern setzen.

Ob dies am Ende tatsächlich reicht, damit die Sozial­demokratinnen stärkste Kraft werden? Immerhin scheint die SPD am konsequentesten erkannt zu haben, dass 16 Jahre Merkel keineswegs nur das Bedürfnis nach Erneuerung erzeugt haben – sondern auch das Gegenteil. In Zeiten radikaler Transformations­prozesse erzeugen die anstehende Erneuerung von Parlament und Regierung sowie der Wechsel im Kanzler­amt für nicht wenige Wähler womöglich einen psycho­politischen Horror Vacui. Davon profitieren gerade jene, die ein Weiter-so verkörpern. Und das ist derzeit vor allem Olaf Scholz.

Das grosse Verdrängen

Doch ganz gleich, ob am Ende eben Olaf Scholz, Armin Laschet oder Annalena Baerbock Kanzlerin werden sollte: Die Bundes­republik hat in diesem Wahlkampf bisher die Chance einer wirklich substanziellen Debatte über zukunfts­politische Richtlinien verpasst. Und wenn sich dies nicht doch noch in der allerletzten Wahlkampf­phase – mit dem ersten «Triell» als Startschuss – ändern sollte, wäre das ein deprimierendes Signal. Das gilt zuallererst für die enormen Heraus­forderungen, die mit der Bekämpfung der Klima­krise einhergehen.

Denn womöglich ist das Verpassen dieser Chance nicht einfach nur ein Unfall. Sondern ein Umstand, der tief blicken lässt.

Olaf Scholz (mit Brötchen) profitiert nicht nur von den Fehlern seiner Gegner, sondern auch von der eigenen Merkelisierung. Hans-Christian Plambeck/laif

Wenn in den letzten Wochen – trotz Flut­katastrophe – derart wenig über die rechtlichen, finanziellen und städte­baulichen Ideen für den ökologischen Transformations­prozess diskutiert wurde und man sich stattdessen leidenschaftlich in Neben­sächlichkeiten verhakt hat, dann ist das wohl nur als eine kollektive Verdrängungs­leistung zu erklären.

Die grosse Verdrängung mag zum einen bewusst forciert sein. Viele Politikerinnen dürften eine ernsthafte Debatte über die Klima­krise kaum als gesellschaftliche Notwendigkeit oder Möglichkeit der eigenen programmatischen Profilierung begreifen. Stattdessen dürften sie diese Debatte fürchten: als möglichen Stimmungs­katalysator zugunsten der Grünen. Zum anderen dürfte diese Verdrängung bei vielen Menschen als unbewusster Effekt wirksam sein. Das Herum­reiten auf Neben­sächlichkeiten wäre dann ein auto­hypnotischer Abwehr­zauber, um nicht in den drohenden ökologischen Abgrund blicken zu müssen.

Dieser klima­politische Trance­zustand ist auch deshalb so fatal, weil die Transformations­prozesse in puncto Verkehr, Wohnen oder Energie­versorgung schon aus strukturellen Gründen viel langsamer voranzugehen drohen, als nötig wäre. Denn es spricht derzeit alles dafür, dass die Bundes­republik nach der Wahl eine Regierung aus drei Koalitions­partnern bekommen hat (oder, streng genommen, gar aus vier, da die Union ja bereits aus CDU und CSU besteht). Das ist aus rein demokratie­theoretischer Perspektive zwar an sich nichts Schlechtes. Es führt aber notwendiger­weise zu mehr Kompromissen. Und für diese fehlt bei der Bekämpfung des Klima­wandels zunehmend die Zeit.

Nach jahrzehnte­langer Problem­verschleppung gilt nämlich umso mehr das Credo, das Edgar Reitz und Alexander Kluge einst in einen Filmtitel gepackt haben: «In Gefahr und grösster Not bringt der Mittelweg den Tod.»

Zum Autor

Nils Markwardt, 1986 in Mecklenburg-Vorpommern geboren, studierte Literatur- und Sozial­wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist leitender Redaktor des «Philosophie Magazins». Für die Republik schrieb er unter anderem über die Krise der Sozial­demokratie, die Lage der Unions­parteien am Ende der Ära Merkel und über die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei.

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