Happening

Klötze statt Klotzen

Das Kunsthaus Zürich legt im Bührle-Saal «The 2000 Sculpture» des Künstlers Walter De Maria aus. Eine atem­beraubende Begegnung – mit zweitausend Gipsklötzen.

Von Max Glauner, 01.09.2021

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Kunstwerke besitzen meist ein Verfalls­datum. Jeff Koons Bubble-Zoo zum Beispiel oder die Schrauben­dreher-Ziegel-Skulpturen von Los Carpinteros am Escher-Wyss-Platz in Zürich. Es gibt jedoch auch Werke, deren Qualität sich erst nach vielen Jahren zeigt. Wie aus der Zeit gefallen, sedimentiert sich in ihnen eine kollektive Erfahrung, die erst in einer bestimmten Konstellation zutage treten kann. Michelangelos Torsi oder Goyas «Pinturas negras» wären historische Beispiele. Joan Jonas’ Video-Romanzen oder Miriam Cahns monströse Bild­fantasien sind zeitgenössische.

Oder dann eben Walter De Marias monumentale «The 2000 Sculpture», die jetzt im Kunsthaus Zürich zu sehen ist. 2000 bezieht sich auf die Anzahl von 5-, 7- und 9-kantigen, 50 cm langen Gips­barren, die in dieser Arbeit auf 10 × 50 Metern im Fischgrat­muster auf dem Boden ausgelegt werden. 2000 bezieht sich aber auch auf das Jahr 2000.

Dabei kam «The 2000 Sculpture» zunächst zu spät. Als sie 1992 der Öffentlichkeit bereits einmal im grossen Ausstellungs­saal des Kunsthauses Zürich gezeigt wurde, hatte De Maria schon zehn Jahre daran gearbeitet. Erst 1992 hatte sich jedoch ein Zeitfenster ergeben, um den gewaltigen Bührle-Saal ohne jeden Einbau zu nutzen. Der Millenniums­wechsel, auf den mit dem Titel angespielt wird, rückte das Werk in erwartungs­volle, aber auch bedrohliche Nähe.

Das Tageslicht lässt die weissen Barren kontrast­reich lebendig werden: «The 2000 Sculpture» im Kunsthaus Zürich. Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Estate of Walter De Maria

Der Rezensent des Kunst­magazins «Parkett» im Jahr 1992, Thomas Kellein, damals Direktor der Kunst­halle Basel, behandelte in seiner Besprechung De Marias «The 2000 Sculpture» als Schnee von gestern. Mit der Wende­zeit nach 1989 hatte sich in der Kunst eine neue Alters­kohorte angemeldet. Konkrete und konstruktive Kunst passten kaum mehr in die von den Young British Artists angeführte bild- und erzähl­verliebte Postmoderne. Wo zu Beginn der 1990er-Jahre nahezu jeder Vorstadt-Friseursalon und jede Currybude mit Friseur-2000 oder Curry-2000 warben, war die damit verbundene Zukunfts­verheissung obsolet geworden.

Da passte De Maria nicht so recht ins Bild. Im wahrsten Sinn des Wortes. Passt er heute? Genauso wenig. Denn er will nichts sagen, nichts erzählen, nichts bedeuten, sondern eine Erfahrung ermöglichen – und insofern passt er doch. In seinem Entzug von Erzählung, Bedeutung und Bild setzt er eine starke Antithese zu unserer bildverliebten Zeit. Und in dem Masse, wie minimalistische, konstruktive Kunst selbst in die Vergangenheit gerückt ist und kaum mehr die zeitgenössische Kunst dominiert, lässt sich De Marias monumentaler Anspruch heute von seiner gleichsam diskreten und zarten Seite betrachten.

Wem es vergönnt ist, möglichst alleine nur wenige Minuten der Betrachtung von De Marias Arbeit zu widmen, dem verschlägt es den Atem. Pathetisch gesagt: Wir werden auf uns zurück­geworfen. Wir entdecken in der seriellen Regelmässigkeit von De Marias Klötzen ständig optische Irritationen, die unsere Vorstellung von einem homogenen Raum infrage stellen. Wir können das Ganze der zwei­tausend Teile nie als Bild erfassen. Das Licht – De Maria lässt nur Tages­licht mit seinen Wetter­abhängigkeiten und Wechseln zu – lässt die weissen Barren kontrast­reich lebendig werden, und jeder Schritt, jeder Blick­winkel lässt neue Konstellationen, neue Achsen und Muster entstehen, die die mathematische Ordnung gleichsam mit einem neuen Algorithmus versehen und das Werk zum Tanzen bringen. Das hat etwas Befreiendes. Wir sind dem Werk nicht ausgeliefert, sondern stehen ihm als Subjekt gegenüber.

Dem scheidenden Kunsthaus-Direktor Christoph Becker und seiner Kuratorin Mirjam Varadinis ist nach William Forsythes Glocken-Spiel-Stück ein zweiter Abschieds­coup gelungen, der ein starkes Zeichen wider die Spektakel­kultur setzt. Ein absolutes «Must» in diesem Zürcher Kunstherbst.

Zum Autor

Max Glauner arbeitet als freier Kultur­journalist für den «Freitag», den «Tages­spiegel», die «Frankfurter Allgemeine Sonntags­zeitung», «Frieze», «Artforum» und «Kunstforum International». Er lebt in Berlin und Zürich und ist Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste.

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