Strassberg

Gute Ausreden

Auf der Suche nach der besten Lebensform verheddern wir uns in Selbstwidersprüchen. Was aber, wenn gerade diese Widersprüche uns retten? Und vielleicht sogar das Klima?

Von Daniel Strassberg, 31.08.2021

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Um seinem Sohn Nikomachos eine Orientierungs­hilfe zu geben, schrieb Aristoteles seine Gedanken über das richtige Leben in ein kleines Büchlein, das er ihm hinter­lassen wollte. Dieses ursprünglich private Werk wurde unter dem Namen «Nikomachische Ethik» ein Best- und Long­seller der westlichen Philo­sophie. Es geht Aristoteles weniger darum, seinem Sohn moralisch richtiges Verhalten beizubringen, als um die Frage, die sich alle Eltern stellen: Was muss ich meinen Kindern mitgeben, damit sie ein glückliches Leben führen können?

Nicht ohne Grund scheint man das Gute und die Glück­seligkeit an den Lebens­formen abzulesen. Die Mehrzahl der Leute und die rohesten wählen die Lust. Darum schätzen sie auch das Leben des Genusses. Es gibt nämlich vor allem drei hervor­stechende Lebens­formen, die eben genannte, die politische und die betrachtende.

Die grosse Menge erweist sich als völlig sklaven­artig, da sie das Leben des Viehs vorzieht. […] Die gebildeten und energischen Menschen wählen die Ehre. Denn dies kann man als das Ziel des politischen Lebens bezeichnen. Aber es scheint doch ober­flächlicher zu sein als das, was wir suchen. […] Ferner scheint man die Ehre zu suchen, um sich selbst zu überzeugen, dass man gut sei. Man wünscht ja geehrt zu werden durch die Verständigen und durch jene, die einen kennen, und dies wegen der eigenen Tüchtigkeit. So ist eigentlich für diese die Tüchtigkeit das höhere Ziel. Also könnte man vielleicht die Tüchtigkeit als das letzte Ziel der politischen Lebens­form auffassen. Aber selbst sie erweist sich als unvollkommen. […]

Die dritte Lebens­form ist die betrachtende. Sie werden wir im nach­folgenden untersuchen.

Aus: Aristoteles, «Nikomachische Ethik».

Aristoteles ist offenbar der Meinung, dass das Glück davon abhängt, welche Ziele man sich im Leben setzt. Er unterscheidet drei Ziele oder drei Lebens­formen: die Suche nach Lust, das Streben nach Ruhm und die Kontemplation.

Man ahnt schon, was er seinem Sohn empfiehlt: Die Genuss­sucht würde ihn abhängig machen und mental versklaven. Auch Ruhm macht auf Dauer nicht glücklich, weil Ruhm­suchende alles mit einem Seiten­blick auf die Reaktion ihrer Mitmenschen unter­nehmen, was ebenfalls eine Form der Abhängigkeit ist. Nur Wissen macht wahrhaftig glücklich, weil es um seiner selbst willen und nicht für einen äusseren Zweck erworben wird. Heute nennt man das intrinsische Motivation.

Es ist, als würde Aristoteles unsere Zeit kommentieren. Heute dient das meiste, was wir tun, tatsächlich einem äusseren Zweck: Man treibt Sport, um gesund zu bleiben, man schaut einen Film, um sich zu erholen, man liest ein Buch, um den Horizont zu erweitern, man geht wandern, um die Life-Work-Balance auszugleichen. Selbst das Spiel, einst der Inbegriff des zweck­freien Handelns, wird funktionalisiert: Welpen spielen, um die Jagd zu üben, lehrt uns die Verhaltens­biologie.

Wir alle wollen gesund sein, lange leben, geistig fit bleiben und einen materiell gesicherten Lebens­abend verbringen. Das sind löbliche Vorsätze, die unzweifelhaft der Leidens­verminderung dienen, jedenfalls auf den ersten Blick. Wer möchte schon krank sein, früh sterben, allmählich verblöden oder verarmen?

Doch bei genauer Betrachtung vermehrt die gnadenlose Funktionalisierung das Leiden, statt es zu vermindern: Sie führt zur totalen Vermessung des Alltags. Der Abstand zwischen Soll­zustand und Ist­zustand wird beständig gemessen, was letztlich zu einem Dauer­wettbewerb führt: Was gemessen werden kann, kann auch verglichen werden, und wenn verglichen wird, wird auch bewertet. Es gibt mittler­weile keinen Bereich des Lebens mehr, für den noch keine Rangliste erstellt wurde: Sie finden das beste Gedicht, die beste Tennis­spielerin, den besten Liebhaber, die beste Malerin, den besten Musiker, die beste Schülerin und das beste Restaurant im Internet.

Aristoteles hatte recht: Das ständige Vergleichen und Benoten ist eine nie versiegende Quelle des gewöhnlichen Unglücks, nicht nur weil wir dabei stets schlecht wegkommen – es gibt immer jemanden, der noch besser ist –, sondern auch weil es die Form ist, die die Entfremdung heute angenommen hat.

Laut Karl Marx entfremdet industrielle Arbeit, weil der Arbeiter immer nur einen Ausschnitt des Produktions­prozesses überblickt, weil er nicht über das Produkt seiner Arbeit verfügen und sich deshalb in der Arbeit nicht verwirklichen kann. Er kann seine Arbeits­kraft bloss verkaufen.

Die Arbeit ist also eine Ware, die ihr Besitzer, der Lohn­arbeiter, an das Kapital verkauft. Warum verkauft er sie? Um zu leben. Die Arbeit ist aber die eigene Lebens­tätigkeit des Arbeiters, seine eigene Lebens­äusserung. Und diese Lebens­tätigkeit verkauft er an einen Dritten, um sich die nötigen Lebens­mittel zu sichern. Seine Lebens­tätigkeit ist für ihn also nur ein Mittel, um existieren zu können. Er arbeitet, um zu leben. Er rechnet die Arbeit nicht selbst in sein Leben ein, sie ist vielmehr ein Opfer seines Lebens. […] Das Leben fängt da für ihn an, wo diese Tätigkeit aufhört, am Tisch, auf der Wirtshaus­bank, im Bett.

Aus: Karl Marx, «Lohn­arbeit und Kapital».

Marx gesteht dem Arbeiter zumindest zu, dass die Entfremdung nach der Arbeit, in der Freizeit aufhört und das wirkliche Leben beginnt. Doch inzwischen greift die Entfremdung durch Wett­bewerb auch in die Freizeit über und wird erst noch als Surrogat der Selbst­verwirklichung angeboten: Du hasst zwar, was du tust, aber du bist darin wenigstens besser als dein Nachbar – und verdienst erst noch mehr Geld.

Das Problem der Entfremdung durch den Wettbewerb hat Aristoteles also 2200 Jahre vor Marx erkannt. Leider verwickelte sich Aristoteles dabei in einen unauflöslichen Selbst­widerspruch: Einerseits beschreibt er die Entfremdung, die durch Rang­listen, Wettbewerb und Konkurrenz hervor­gerufen wird, anderer­seits veranstaltet er selbst einen Wett­bewerb der Lebens­formen: erster Platz für die Erkenntnis, zweiter Platz für den Ruhm, dritter Platz für die Lust.

Es scheint für ihn ausser Frage zu stehen, dass man zwischen den Lebens­formen auswählen muss und dass es unmöglich ist, Lust, Ruhm und Erkenntnis zugleich zu wollen. Doch warum in aller Welt sollen wir nicht manchmal nach Erkenntnis streben, manchmal Lust auf Lust haben, manchmal dankbar für ein wenig Anerkennung sein? Und manchmal auch einfach gar nichts wollen? Nur Fanatiker wollen immer dasselbe, das war wohl zu Aristoteles’ Zeiten nicht anders.

Wie also konnte der sonst so hellsichtige Philosoph die ebenso evidente wie triviale Tatsache ausblenden, dass ein Mensch gleichzeitig ganz unter­schiedliche Ziele haben kann?

Die Antwort liegt in der antiken Obsession für das eine.

Die meisten griechischen Denker waren der festen Über­zeugung, dass ein einziges Prinzip, eine archè, alles zu erklären vermag, und dass es die Aufgabe der Philosophie sei, dieses eine Urprinzip zu finden. Die ersten Philosophen machten es sich noch einfach: Thales von Milet befand, dass alles dem Wasser entspringt, sein Schüler Anaximander setzte das «Unbegrenzte» (apeiron) und Anaximenes die Luft an den Ursprung.

Später wurde es etwas komplexer: Gemäss Pythagoras erklärten Zahlen­verhältnisse alles, und Platon platzierte das Schöne, Gute und Wahre an der obersten Stelle. Wenn ein einziges Prinzip alles erklärt, liegt es auf der Hand, dass es nur eine richtige oder zumindest eine beste Lebens­form gibt. Auf dieses höchste Gut hat man sein Leben dann vollständig auszurichten. Daraus folgt auch, dass der Mensch eine Einheit bildet und deshalb nicht mehreres gleichzeitig oder nach­einander wollen kann beziehungs­weise nicht gleich­zeitig oder nach­einander mehrere Identitäten besitzt.

Die meisten Menschen leben ihr Leben jedoch nicht nach einem Plan, der einen Weg und ein Ziel festlegt. In der banalen Wirklichkeit fahren wir auf Sicht. Wir reagieren auf das, was uns widerfährt, machen Umwege, verfahren uns manchmal oder legen eine Pause ein. Kurz gesagt: Wir wurschteln uns durch und bemühen uns doch, meistens das Richtige zu tun.

Obschon sich gerade in den letzten 150 Jahren zahlreiche Philosophinnen gegen den Terror des einen aufgelehnt haben, hat dieser an Wirksamkeit kaum eingebüsst. Die Über­zeugung, es gäbe ein einziges richtiges Verhalten, eine richtige Erklärung und eine gute Lösung, ist noch immer weit verbreitet.

Glücklicher­weise haben die Menschen aber eine unglaubliche Virtuosität entwickelt, den Widerspruch zwischen ihren Überzeugungen und ihrem realen Verhalten – der Psychologe Leon Festinger nannte ihn «kognitive Dissonanz» – zu eliminieren. Nur in den seltensten Fällen passen die Menschen ihr Verhalten vollständig ihren Über­zeugungen an, meistens entwickeln sie eine Ad-hoc-Theorie, die den Wider­spruch wegerklärt. In der Alltags­sprache nennt man das Ausrede.

Ausreden sind demnach Theorien, die einen Einzelfall, der einer allgemeinen Regel widerspricht, so umdeuten, dass er schluss­endlich doch zur Regel passt. Nehmen wir folgendes konkretes Beispiel: Ich bin der Meinung, dass der Flug­verkehr drastisch eingeschränkt werden müsste, aber ich habe gleichzeitig eine unbändige Lust, nach Israel zu reisen, weil ich meine Schwester und meine Freunde seit Jahren nicht mehr gesehen habe und ich das Leben in Tel Aviv wieder einmal geniessen möchte. Um diesen Wider­spruch zu überbrücken, kann ich folgende Strategien einsetzen:

Ad-hoc-Theorie Nr. 1: die Ausnahme­bewilligung.

Ich fliege, obwohl ich weiss, dass es schlecht für das Klima ist, aber ich gewähre mir diesmal eine Ausnahme, weil es auf diesen einen Flug nun wirklich nicht ankommt.

Ad-hoc-Theorie Nr. 2 : die Gesamtbilanz.

Ich fliege, obwohl ich weiss, dass es schlecht für das Klima ist, aber ich habe in den letzten Jahren so viel für das Klima getan und auf so vieles verzichtet, dass ich es mir dieses eine Mal erlauben kann.

Ad-hoc-Theorie Nr. 3: die Ausnahmeperson.

Ich fliege, obwohl ich weiss, dass es schlecht für das Klima ist, aber ich bin nicht wie die anderen, schliesslich habe ich Verwandte in Israel und bin erst noch dazu eingeladen, einen Vortrag zu halten. Ich fliege also nicht bloss zum Spass.

Natürlich sind das faule Ausreden, aber sie beruhigen mich genügend, sodass ich, so Gott und die Pandemie wollen, am 24. Oktober nach Israel fliegen werde. Ach ja: Und ich zahle auch noch die freiwillige CO2-Abgabe.

Der Selbst­betrug und seine Verwandten Heuchelei, Ausrede und Feigheit haben einen denkbar schlechten Ruf. Wir sind allzeit dazu aufgerufen, schonungslos ehrlich zu uns selbst zu sein. Doch ein Leben ohne ein gerüttelt Mass an Selbst­betrug ist unerträglich. Ausreden ermöglichen es, Wider­sprüche zu leben, ohne dauernd über sie nachdenken zu müssen; sie erlauben es, Identitäten zu wechseln, ohne daran zu zerbrechen; und sie halten die Einheit des Ichs aufrecht, ohne dass dieses dadurch eindimensional würde.

Nicht zuletzt haftet der Ausrede etwas Wider­ständiges an: Sie ermöglicht es, dem Terror der Einheitlichkeit zu entkommen und auch dem Zwang, immer mit sich selber überein­stimmen zu müssen. Je totalitärer eine Gesellschaft ist, desto unentbehrlicher wird die Fähigkeit zu heucheln. An der unbeschränkten Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu betrügen, ist deshalb noch jeder Umerziehungs­plan der Menschheits­geschichte gescheitert – glücklicher­weise, muss man sagen.

Alle rufen derzeit nach einem Grossplan, um das Klima zu retten, was angesichts der katastrophalen Lage sehr verständlich ist. Leider steht allerdings zu befürchten, dass auch dieser an der menschlich-allzu-menschlichen Tendenz zum Selbst­betrug scheitern wird, insbesondere dann, wenn er auf die Einsichts­fähigkeit der Menschen baut. Im Talent zur Ausrede liegt aber auch Hoffnung: Wenn man berück­sichtigt, dass wir alle auf Sicht fahren und uns dabei ständig in Wider­sprüche verwickeln, besteht auch die Möglichkeit, dass die dringend notwendige Umkehr sich plötzlich doch vollzieht – ganz unbemerkt und gegen jeden Plan.

Illustration: Alex Solman

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