Am Gericht

Dreizehn Schüsse auf Herrn Ali

Ein Polizei­einsatz in der Stadt Zürich läuft aus dem Ruder, das Opfer wird schwer verletzt – und ein einziger der beteiligten Polizisten muss sich vor Gericht verantworten. Dafür bereits zum zweiten Mal. Weil Herr Ali Gerechtigkeit will.

Von Brigitte Hürlimann, 25.08.2021

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Nur selten müssen sich in der Schweiz und in Deutschland Polizisten wegen ihrer Handlungen einer Straf­untersuchung und anschliessend einem Prozess stellen. Die promovierte Juristin und Geschäfts­leiterin des Schweizerischen Kompetenz­zentrums für Menschen­rechte an der Uni Bern, Evelyne Sturm, stellte fest, dass im Nachbar­land Deutschland bei mehr als 90 Prozent der Anzeigen wegen Polizei­gewalt «ein hinreichender Tat­verdacht verneint und das Verfahren eingestellt wird». In der Schweiz fehlt es an einer solchen Statistik. Praktiker gingen jedoch davon aus, so Sturm, dass es zu sehr wenigen Verfahren und noch weniger Verurteilungen komme.

Am Dienstag kam es zu einem dieser seltenen Prozesse. Ein Stadt­polizist musste sich vor dem Obergericht des Kantons Zürich verantworten. Er hatte im Dienst elf Mal auf einen Mann geschossen, der an einem psychotischen Schub litt und mit einem Küchen­messer in der Hand durch die Stadt irrte – ohne irgend­jemanden zu bedrohen. Der Mann überlebte den Schuss­hagel mit insgesamt dreizehn Schüssen wie durch ein Wunder, erlitt jedoch schwere, bleibende Verletzungen.

Vor der ersten Gerichts­instanz, dem Bezirks­gericht Zürich, wurde der einzige angeklagte Polizist freigesprochen. Das Opfer akzeptierte dieses Urteil nicht. Er hoffe auf Gerechtigkeit, hatte Omar Mussa Ali vor dem ersten Prozess gegenüber der Republik gesagt. Gerechtigkeit bedeutet für ihn: dass ein Gericht klarstellt, dass man nicht dreizehn Mal auf einen kranken, verwirrten Mann schiessen darf. Auch dann nicht, wenn dieser Mann schwarz ist.

Herr Ali hat die Hoffnung auf Gerechtigkeit nicht aufgegeben und deshalb das Ober­gericht angerufen.

Ort: Obergericht, Zürich
Zeit: 24. August 2021, 8 Uhr
Fall-Nr.: SB200413
Thema: versuchte vorsätzliche Tötung

Er ist der grosse Abwesende an diesem Prozess, und über ihn wird auch nicht viel berichtet. Die wenigsten im Saal dürften sein Gesicht und seine Geschichte kennen. Es sind vor allem Arbeits­kolleginnen und Verwandte des Beschuldigten, die am frühen Dienstag­morgen den Weg ans Zürcher Ober­gericht auf sich genommen haben. Zusammen mit einem halben Dutzend Medienvertretern.

Der Beschuldigte ist Stadt­polizist. Er ist es immer noch, auch nach diesem verheerenden Einsatz von Weihnachten 2015; immerhin arbeitet er heute im Büro und muss nicht mehr schiessen. Er war zusammen mit drei Kollegen und einer Kollegin auf einen Äthiopier gestossen, der an einem psychotischen Schub litt, der weder wusste, wo er war noch was er tat.

Herr Ali irrte mit einem Küchen­messer in der Hand durch die Strassen Zürichs, seine Lebens­partnerin hatte bereits die Polizei informiert, so wie sie das schon früher getan hatte. Man solle ihn bitte suchen und zurück­bringen, er sei womöglich zu leicht gekleidet für die kalte Jahreszeit. Und er leide an einer paranoiden Schizophrenie.

Schon mehrmals hatte die Polizei Herrn Ali zurück in die Wohnung gebracht oder aber, wenn es ihm besonders schlecht ging, in eine Klinik. Der kranke Mann nahm zwar Medikamente, die Ärzte hatten damals jedoch nicht realisiert, dass er diese ungewöhnlich rasch abbaut, weshalb es hin und wieder zu akuten Krankheits­schüben kam. Wie an Weihnachten 2015. Als es zu einem Polizei­einsatz kam, bei dem alles anders lief. Oder, wie es Ober­richter Christoph Spiess am Dienstag­nachmittag an der mündlichen Urteils­begründung sagt: Der Einsatz lief völlig aus dem Ruder.

Vier Polizisten und eine Polizistin in Schutz­westen versuchten, den offen­sichtlich verwirrten Mann zu stoppen – mit gezückten Pistolen. Herr Ali reagierte nicht auf die Zurufe, er ging auf die Uniformierten zu und rief: kill me, kill me. In den darauf­folgenden elf Sekunden fielen dreizehn Schüsse. Und die Polizisten zielten von Anfang an auf den Oberkörper. Warnschüsse gab es keine.

Der letzte Funkspruch vor der Schuss­abgabe lautete: «Der Neger hat ein Messer in der Hand.»

Von den fünf anwesenden Polizisten schossen zwei; der erste drückte zweimal ab, der zweite elfmal. Nur Letzterer musste sich vor dem Straf­gericht verantworten – und auch dies erst nach einem langen Umweg.

Staatsanwalt Pascal Gossner hatte die Straf­untersuchung gegen die beiden Schützen eingestellt. Der Anwalt von Omar Mussa Ali zog die Einstellung in Bezug auf jenen Schützen, der elfmal abgedrückt hatte, bis vor Bundes­gericht und bekam recht. Das höchste Gericht wies den Staats­anwalt an, die Sache zu untersuchen und anzuklagen. Das geschah dann auch. Im Juni 2020 fand der erst­instanzliche Prozess vor dem Bezirks­gericht Zürich statt. Der Staats­anwalt verlangte einen Freispruch für den von ihm contre cœur angeklagten Polizisten – und das Bezirks­gericht folgte seinem Antrag.

Herr Ali verstand die Welt nicht mehr.

Er konnte sich nicht damit abfinden, dass es rechtens gewesen sein soll, ihn in seinem kranken, schuld­unfähigen Zustand nieder­zuschiessen. Er hatte niemanden bedroht, als er mit dem Küchen­messer in der Hand durch Zürich irrte. Erst als fünf bewaffnete, mit Schutz­westen ausgerüstete Uniformierte vor ihm standen, ihm den Weg blockierten und ihn anschrien, verlor er die Fassung. Weder legte er das Messer nieder, noch blieb er stehen. Er ging auf die Polizisten zu, fuchtelte mit dem Messer. Dann begann die Schiesserei. Herr Ali kann sich an all dies nicht erinnern. Nur daran, dass er im Spital erwachte, mit grossen Schmerzen, an Schläuche angeschlossen. Und dass man ihn zunächst verdächtigte, ein Terrorist zu sein.

Sein Anwalt, Torsten Kahlhöfer, brachte den Fall vors Obergericht. Und sagt dort: «Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Polizist schuldig gesprochen wird.»

Er sollte recht behalten. Auch das Obergericht spricht den Stadt­polizisten frei. Es sei nicht erwiesen, dass er dem weglaufenden Herrn Ali hinterher­geschossen habe, also in einer Situation, in der die unmittelbare Gefahr vorbei gewesen sei.

Schlussendlich war es ein einziger Schuss, von dem Rechts­anwalt Kahlhöfer sagt: Der sei nicht in einer Notwehr­situation gefallen, sondern unzweifelhaft von hinten und stehend, auf den sich entfernenden Mann. Dieser eine Schuss sei nicht recht­mässig gewesen; das werde in den ballistischen Gutachten nachgewiesen, entspreche dem Spuren­bild vor Ort sowie den Verletzungen seines Mandanten. Das müsse zu einer Verurteilung des Polizisten wegen versuchter vorsätzlicher Tötung führen. Und zu einer angemessenen Bestrafung.

«Es ist menschlich und nach­vollziehbar, dass es den Gerichten schwer­fällt, einen jungen, sympathischen Mann, der verheiratet ist, Vater eines kleinen Kindes, und der weiterhin bei der Stadt­polizei arbeitet, schuldig zu sprechen. Aber auch für ihn gilt das Straf­recht. Er hat offen­sichtlich die Nerven verloren. Das Mitgefühl kann bei der Straf­zumessung berück­sichtigt werden», so der Rechts­vertreter von Herrn Ali.

Das Obergericht begründet seinen Freispruch natürlich anders. Vor allem damit, dass es sich um eine bedrohliche Ausnahme­situation gehandelt habe, um ein dynamisches, hektisches Geschehen. Dass der Polizist Angst gehabt habe und von einem psychisch kranken Menschen mit einem Messer bedroht worden sei. Dass sich der genaue Ablauf der Schiesserei, die nicht viel mehr als elf Sekunden gedauert habe, im Nachhinein nicht mehr exakt erstellen liesse.

Das Gericht geht davon aus, dass die elf fraglichen Schüsse während eines Gerangels mit Herrn Ali abgefeuert worden sind, aus verschiedenen Positionen, stehend und liegend. Keiner der Polizisten habe dem sich entfernenden Mann nachgeschossen. Ein solches Szenario sei nicht bewiesen. «Wir glauben an die Erinnerungs­lücken des Beschuldigten, das ist erklärbar, das Geschehen war enorm hektisch», so der Gerichts­vorsitzende Christoph Spiess. Tatsächlich kann sich der junge Stadt­polizist sehr genau an die Vorgänge vor und nach der Schiesserei erinnern – aber kaum ans Kern­geschehen. Er geht davon aus, drei- oder viermal abgedrückt zu haben. Wo, wie und wann die anderen Schüsse aus seiner Pistole fielen: Das weiss er nicht. Seine angebliche Amnesie, sagt Torsten Kahlhöfer, sei eine reine Schutz­behauptung. «Bei jedem anderen, zivilen Schützen würde das nicht akzeptiert.»

War das also für Herrn Ali und seinen Rechts­vertreter eine verlorene Runde vor dem Berufungs­gericht? Was das Resultat, den erneuten Freispruch, betrifft, könnte man diese Auffassung vertreten. Aufhorchen lassen aber einige Bemerkungen des Gerichts­vorsitzenden, die in dieser Deutlichkeit bisher noch nicht gefallen sind.

So sagt Oberrichter Spiess etwa:

  • Es sei ungeschickt gewesen, wenige Stunden nach der Schiesserei eine Medien­mitteilung zu verschicken, in der von einer «Notwehr­situation» die Rede war – noch bevor der Vorfall untersucht wurde. Absender der Medien­mitteilung waren die Stadt­polizei und die Staatsanwaltschaft.

  • Wenn die Staats­anwaltschaft eine Einvernahme der Polizei auf Video aufnehme (wozu sie nicht verpflichtet ist), dann solle sie bitte eine Tonspur hinzufügen, nicht einen Stumm­film schicken.

  • Es hätte nicht geschadet und viele Diskussionen verhindert, wenn die Polizisten nach der Schuss­abgabe in Untersuchungs­haft genommen worden wären, um eine Kollusions­gefahr zu verhindern. Sprich: um dafür zu sorgen, dass es zu keinen Absprachen kommt.

  • Was den code of silence betrifft, den man in Fällen von mutmasslichen Polizei­übergriffen oft thematisiert: Es sei nach­vollziehbar, dass sich Kollegen, die eng miteinander arbeiteten und zusammen gefährliche Situationen durch­stünden, nicht gerne gegen­seitig belasteten. «Das ist nur menschlich.» Im konkreten Fall gäbe es jedoch keine Anhalts­punkte für einen code of silence, alle hätten ausgesagt – vielleicht der eine oder andere ein bisschen weniger.

  • Dass sich der Staats­anwalt mit dem Verteidiger des zweiten Schützen (dessen Untersuchung eingestellt wurde) zu einem nicht protokollierten, nicht akten­kundigen Gespräch traf, «hätte nicht passieren dürfen. Das ist kein justiz­förmiges Vorgehen, es riecht nach Infantino. Aber dieses Treffen war nicht match­entscheidend, es hat keine Auswirkungen auf unser Verfahren». (Das Treffen war von Rechts­anwalt Kahlhöfer moniert worden, nachdem er via Honorar­note des anderen Verteidigers zufällig davon erfahren hatte.)

Doch trotz all dieser Bedenken fällt auch das Obergericht einen klaren Freispruch. Der Stadt­polizist erhält eine Entschädigung und tausend Franken Genugtuung. Die Kosten des Berufungs­verfahrens werden auf die Gerichts­kasse genommen. Immerhin das. Der mittellose, arbeits­unfähige Herr Ali wird finanziell geschont.

Gerechtigkeit, wie er es sich erhofft hatte, bekommt er allerdings nicht.

Illustration: Till Lauer

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