Wie wir Geschichten erzählen, die in Daten stecken
Ein Rückblick auf drei Jahre Datenbriefing «Auf lange Sicht» – mit einem Best-of und ein paar Gedanken darüber, was dieses Format eigentlich genau will.
Von Marie-José Kolly und Simon Schmid, 23.08.2021
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Hätten Sie gewusst:
dass die Videocall-Anbieterin Zoom Anfang Jahr so viel wert war wie die zehn grössten Airlines der Welt zusammengezählt?
dass die mittlere Erdtemperatur im Jahr 2020 so hoch war wie seit 120’000 Jahren nicht mehr?
dass in Afrika bis zum Ende des 21. Jahrhunderts voraussichtlich gleich viele Menschen wie in Asien leben?
Auch wir wussten noch nicht, was herauskommen würde, als wir kurz nach dem Start der Republik mit dem wöchentlichen Datenbriefing «Auf lange Sicht» starteten. Doch fast bei jedem Thema, das wir recherchierten, und bei fast jeder Datenquelle, die wir auswerteten, stellten wir fest: Hier steckt eine interessante, erstaunliche, überraschende Geschichte drin – eine, bei der es sich lohnt, sie in Grafiken zu erzählen.
Manchmal lag die passende Umsetzung auf der Hand. Etwa im Dezember 2018, als wir uns ein halbes Jahr vor dem Frauenstreik mit geschlechtstypischen Erwerbsbiografien befassten und uns fragten: Ab welchem Punkt verdienen Männer eigentlich mehr als Frauen? Ist das schon ab Karrierebeginn so, oder zementieren sich die Unterschiede erst nach und nach?
Wir stiessen auf eine Studie, die eine Grafik enthielt – und der Fall war klar: Ausschlaggebend ist die Geburt des ersten Kindes. Bis dahin wachsen die Einkommen von Frauen und Männern mehr oder weniger im Gleichschritt, danach geht die Schere auf. So entstand «Die Mutterschaftsstrafe».
Manchmal war die Sache aber auch kniffliger. Wie weckt man Interesse für ein so trockenes Thema wie den Steuerwettbewerb? Die Schweizer Kantone liefern sich ein immer härteres Rennen um Standortbedingungen und Steuerzahlerinnen – als Ausgleich unterstützen die starken Kantone die schwachen etwas. Doch wie sich zeigt, ist das System aus der Balance geraten: Nur eine Handvoll Kantone profitiert. Alle restlichen senken zwar fleissig die Steuern, aber haben unter dem Strich nicht viel davon.
Dies zu illustrieren, hat einiges an Denkarbeit und grafischem Tüfteln gebraucht. Doch am Ende entstand eine anschauliche Grafik, der wir sogar einen Titel geben konnten: «Swish! So zerreisst es den Finanzausgleich».
Das datenjournalistische Spannungsdreieck
«Auf lange Sicht» erscheint jeden Montag. Mal knüpft das Datenbriefing stärker an die Aktualität an, mal geht es um zeitlose Themen. Mal geht es um ernste Politik, mal regt die lange Sicht zum Schmunzeln an. Wir erzählen mit Daten Geschichten darüber, welche Schweizer Parteien am häufigsten mit der Regierung abstimmen oder in welchen Schweizer Regionen man welche Wörter benutzt: «Chrischtbaum» oder «Wiehnachtsboum».
Jede dieser Datengeschichten bewegt sich in einem Spannungsdreieck.
Am ersten Eckpunkt steht die Wissenschaft. Wir wollen eine bestimmte Fragestellung nach bestem Wissen und so objektiv wie möglich beantworten.
Daten helfen uns dabei, diesem Anspruch gerecht zu werden: Wir bereiten nur Zahlen auf, die methodisch sauber erhoben und sinnvoll ausgewertet wurden. Das garantiert, dass wir keine falschen Behauptungen aufstellen – hat jedoch den Nachteil, dass die Erkenntnisse zuweilen wenig spektakulär sind. Widersprüchliche Studien, unsichere Zusammenhänge, Detailergebnisse ohne allgemeine Gültigkeit: Das ist das harte Brot, das uns die Wissenschaft oft serviert.
Unsere Aufgabe als Datenjournalistinnen ist, diese Kost mit abwechslungsreichem Storytelling zu versüssen. Wir alle empfinden die «Zersiedelung» als etwas Störendes. Doch mit welchen Indikatoren misst man dieses Phänomen eigentlich? Was für konkrete Daten stehen zur Verfügung? Oft stecken in solchen Details die spannendsten Fragen. Eine Antwort darauf gab zum Beispiel ein Beitrag von Februar 2019, dem folgende Grafik entnommen ist:
Versetzt man sich erst einmal in Forschende hinein und beginnt, ihre Schwierigkeiten auf der Suche nach Ergebnissen zu verstehen, ergibt sich die Spannung oft von selbst. Unser Ziel ist, genau diese Spannung in den Beiträgen nachvollziehbar und visuell erfahrbar zu machen.
Am zweiten Eckpunkt steht die Handwerkskunst. Es ist eine Kunst, die, wenn man sie geschickt anwendet, eine beträchtliche Wirkung entfalten kann: die Datenvisualisierung.
Diese Wirkung hat damit zu tun, wie unsere Gehirne Informationen aufnehmen. Betrachten Sie zum Beispiel die folgende Datenreihe: 0,1 – 0,2 – 0,9 – 1,7 – 2,8 – 3,2 – 3,4 – 3,0. Das sind die wöchentlichen Todesfälle während der ersten Welle der Corona-Pandemie, ausgedrückt pro 100’000 Einwohner. Vermutlich lösen diese Zahlen in Ihnen keine besondere Reaktion aus – sehr wahrscheinlich haben Sie sie nicht einmal genau gelesen.
Ganz anders ist es, die Corona-Fälle als Grafik zu sehen: mit farbigen Balken, die erst im Frühjahr und dann im Winter erneut in die Höhe ragen und bildlich vor Augen führen, welche Dynamik eine Pandemie entfalten kann.
Einen zusätzlichen Reiz bekommt die Grafik, wenn man sie mit einem Quiz verbindet. «Zu welchem Land gehört dieser Chart?», haben wir Sie im März dieses Jahres gefragt; zur Auswahl standen Italien, Österreich und (die richtige Lösung) die Schweiz. Das Ziel der interaktiven Übung: Sie beim Betrachten des Charts zu einer kleinen gedanklichen Extravolte zu animieren, damit dieser besser in Erinnerung bleibt.
Indem wir Daten grafisch darstellen, bringen wir sie zum Sprechen, hauchen ihnen Leben ein. Doch es braucht Können und Erfahrung, Zeit und Musse und nicht selten auch etwas Glück, um eine Visualisierung zu erstellen, die aus der Masse herausragt. Und genau dieses Anliegen kann uns auch in Versuchung führen – dann, wenn wir beginnen, die grafische Darstellung mit der Realität selbst zu verwechseln und daraus Dinge ableiten zu wollen, die so gar nicht stimmen.
Deshalb ist es uns wichtig, Daten jeweils in den richtigen Kontext zu stellen. Zu erwähnen, wie sie erhoben wurden, was sie aussagen können – und in welchen Momenten man sich mit Schlussfolgerungen und Voraussagen zurückhalten muss, weil die Unsicherheit einfach zu gross ist. Und vielleicht auch: im Zweifelsfall die langweiligere, dafür aber verständlichere Darstellung zu wählen.
Dies führt zum dritten Eckpunkt: dem Journalismus. «Sagen, was ist»: Mit Slogans wie diesem definieren manche Medien ihre Mission. Gleichzeitig sind sie den kurzen Aufmerksamkeitsspannen eines überfütterten Publikums unterworfen: Tatsächlich gesagt werden in der Regel nur die Dinge, die Journalistinnen als relevant einstufen. Und von denen Medienmacher glauben, dass jemand sie hören will – weil sie Neuigkeitswert haben, als Sensation gelten oder Emotionen wecken.
Als Datenjournalistinnen sind wir mit diesen Gesetzmässigkeiten vertraut. Wir nutzen sie, um Geschichten zu erzählen: Wer weiss, wie man Aufmerksamkeit erzeugt, hat eine grössere Chance, wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig müssen wir auf der Hut sein. Denn viele Schlagzeilen, die auf einer Grafik beruhen, lassen sich mit einer anderen relativieren.
Um damit klarzukommen, braucht es nebst einer sauberen Methodik auch Fachwissen, das wir uns in der Literatur oder im Gespräch mit Experten aneignen. So können wir begründen, warum wir eine bestimmte Darstellung bevorzugen – zum Beispiel dazu, wie viele Stunden pro Woche Frauen und Männer im Schnitt arbeiten. Wie sich diese Werte im Verlauf des letzten Jahrhunderts verändert haben, davon handelte einer der ersten Beiträge, die in der «langen Sicht» publiziert wurden.
In den gut drei Jahren, in denen wir das Datenbriefing bisher publiziert haben, haben wir unsere eigene Art entwickelt, mit dem Spannungsfeld aus Wissenschaft, Handwerkskunst und Journalismus umzugehen. Bei jeder Datengeschichte, die wir schreiben, achten wir auf eine Reihe von ganz bestimmten Grundsätzen.
Wie wir Datengeschichten erzählen
Jede Leserin muss nachvollziehen können, wie eine bestimmte Aussage zustande kommt. Dieser Grundsatz beeinflusst die Machart, aber auch die Intention hinter unseren Beiträgen. Wir schreiben zum Beispiel nicht über die demografische Alterung, um zu polemisieren oder um Angst davor zu schüren, irgendwann würden wir alle «keine Rente mehr erhalten». Sondern um aufzuzeigen, wie eine wichtige Kenngrösse wie der Altersquotient (das ist die Anzahl der über 65-Jährigen im Verhältnis zu den Erwerbstätigen) überhaupt berechnet wird und von welchen Faktoren sie bestimmt wird (Spoiler: Es sind Geburtenrate und Lebenserwartung).
Hinter diesem Vorgehen steht die Überzeugung, dass wir als Bürgerinnen ein tiefes Verständnis der thematischen Zusammenhänge entwickeln müssen, um gesellschaftlich und politisch überhaupt rational handeln zu können. In jeder Datengeschichte achten wir deshalb auf sorgfältige Erklärungen.
Die Methode ist ein fester Teil der Geschichte. Wie kommen beispielsweise die schönen Klimastreifen zustande: jene blau-roten Illustrationen, die man sogar auf T-Shirts und Flipflops druckt? Bei genauem Hinsehen zeigt sich: Wer solche Grafiken herstellen will, muss zuerst eine Reihe von Fragen beantworten. Fragen, die entscheidend dafür sind, wie das Endprodukt aussieht und welche Reaktionen es bei der Betrachterin hervorruft.
Solche bewussten Entscheide zu thematisieren und dabei herauszustreichen, zu welchen Aussagen sie jeweils führen, ist uns sehr wichtig. Warum das so ist, lesen Sie in unseren Beiträgen über die Klimastreifen, über Mietpreisindizes, über Corona-Zahlen, über Pestizide oder über die Bilanz der Nationalbank am besten selbst nach.
Wir stellen das Visier möglichst weit ein. Wie viel Zucker möchten Sie in Ihren Kaffee? «Zwölf Prozent mehr als letztes Mal.» Informationen wie diese sind komplett nutzlos, wenn man den Kontext nicht kennt (also: wie viel Zucker man letztes Mal genommen hat, ob man stets gleich viel Zucker nimmt oder je nach Lust mal etwas mehr oder weniger, ob eine so präzise Prozentangabe überhaupt Sinn ergibt, etc.). Doch genau nach diesem Muster werden sehr viele Newsmeldungen verfasst. Man blickt nur sehr kurz in die Vergangenheit zurück, ordnet über die Zeit hinweg viel zu wenig ein und stilisiert schnell etwas hoch, was eigentlich nur statistisches Rauschen ist.
Anders arbeiten wir im Datenbriefing «Auf lange Sicht» (darum heisst es auch so): Hier versuchen wir, Zahlen auf möglichst breiter Vergleichsbasis oder im Rahmen einer möglichst langfristigen Entwicklung zu zeigen.
Ein Beispiel dafür ist die Schweizer Wirtschaft: Dass sie nicht mehr so wächst wie vor hundert Jahren, ist eigentlich kein Wunder. Denn sie wurde strukturell komplett umgekrempelt: Nur noch wenige wirtschaftliche Sektoren machen wirklich vorwärts. Welche? Das haben wir in einem Beitrag vom Januar 2021 besprochen.
Quellen durchforsten, Daten analysieren, Grafikvarianten ausprobieren, Interpretationen überprüfen, Fachleute befragen, Dramaturgien entwickeln, Texte schreiben: Für all dies nehmen wir uns jeweils viel Zeit. Jede unserer Geschichten soll ein ebenso erhellendes wie kurzweiliges Leseerlebnis sein.
Hätten Sie gedacht:
die politische Landschaft der Vereinigten Staaten von Amerika immer mehr einem Tannzapfen gleicht?
dass es eine einfache und eingängige Formel gibt, um die Klimabilanz von Elektroautos zu beschreiben?
All das hätten auch wir nicht gedacht, als wir mit der Recherche begannen. Doch fast immer haben wir festgestellt, dass es eine originelle Art gibt, rigorose Datenanalysen mit inspirierender Visualisierung und spielerischem Erzählen zu verbinden. Und genau deshalb macht uns die Arbeit am Datenbriefing der Republik so viel Freude.
Welche Beiträge haben Ihnen Spass gemacht? Welchen Themen sollen wir uns widmen? Und was können wir in unseren Datenbriefings besser machen? Schreiben Sie es uns im Dialog – wir freuen uns auf Ihre Rückmeldung.